Kulturraum NRW


Walter Hasenclever
Der Jüngling

Anweisung zum Lieben

Ich rufe dich, Gefühl, das oft kredenzte,
Vom Schauplatz der Amouren ab.
Wer liebt, der rennt im Trab;
Hinter ihm tanzt die buntgeschwänzte
Peitsche der Angst, die Wiege und das Grab.
Wer liebt, irrt in Gefahr. Wer liebt, der schildert
Unwirkliches hinaus mit seinem Blut,
Der hebt zum Rausch das Bein, der wird verwildert
Und ein verbrannter, gelber Sommerhut.
Denn nur wer vieles weiß, der kann sich retten,
Der bleibt im Wehen wie im Süßen gut;
Ihn trägt ein Flötenton in allen Betten,
Gleich einem Spiegel, durch die Flut.

Entflieht den Jünglingen und werdet Greise!
Horcht. Seid geschickt. Im Spielen immer neu.
Fahrt nicht im Zug — fahrt langsam auf der Reise,
Und wenn ihr liebt, seid mutig und seid scheu.
Nicht mehr nach Brunst, nach weiser Überlegung
Erfindet euren Künsten Nerv und Kuß,
Und von der ersten bis zur letzten Regung
Verwandelt alles Wollen in Genuß.
Die schöne Freude steigert so zur Wahrheit!
Verliert euch nicht! Seid mit euch selbst beengt,
Daß ihr, wie ein Begriff allmählicher Klarheit,
Fernlächelnd, leicht an der Geliebten hängt.

Vielleicht, vor einer großen Stadt versunken,
Hat einer Sehnsucht, die ihm heiß entquillt;
Oder du hast die laute Nacht vertrunken
Und siehst vor dem Nachhausegehn ein Bild.
Du denkst an einen Park, an einen Schwan,
An einen Strumpf in einer Eisenbahn
Und kannst nicht ruhn und kannst dich nicht verlassen:
So geh zu einer unbekannten Frau.
Versuche sie zu lieben und zu hassen.
Erzähle ihr, du seist vom Mond ein Tier;
Sie wird es hören und vielleicht erfassen.
Und wenn du müde bist, geh schnell von ihr.

Du sitzst in dem Café. Du bist ein Name.
Da steigt aus der Musik erregtem Spiel
Das kalte Antlitz einer blassen Dame
Irr vor dir auf, wie ein begehrtes Ziel.
Du wirst sie nicht erreichen und nicht küssen.
Was ist ein Kuß vor deinem Liebessinn!
Doch später wirst du dich erinnern müssen,
Dann tritt die blasse Dame vor dich hin.
Du mußt sie milde mit dir selbst versöhnen,
Mußt dich berühren wie ein Geigenstrich:
So strömt in schönen, unerhörten Tönen
Glück, das du nicht besitzest, über dich.

Die Frauen, die man liebt, gehören Vielen —
Und weil sie wechselnd ihre Güter reichen,
So reizt es, ihre Freuden zu vergleichen;
Sie aber trinken. Und wir wollen spielen.
Laß nie dich einer einzigen vermählen!
Sie haben einen Raum für tausend Seelen,
Der immer ihr Verlangen weckt und stillt,
Und jagen wie ein herrenloses Wild
An uns vorbei, da wir die Spur verfehlen.
Ich will von ihnen Vieles, Vieles lernen!
Und jede soll mir sein, was sie mir gibt,
So steig ich, ohne das Gefühl von Sternen,
In ihren Schoß: wissend und unverliebt.

Ich will vor ihren Augen alles können
Und alles finden, wie ein Kind, das liest.
Ich will die stärksten Zauberdinge nennen,
Bis sich ihr Berg mir öffnet und verschließt.
Ich will die fernste Welt herübergießen,
Bis dem Bewußtsein alles sich entrückt:
O laß den Strom der Freude überfließen,
Denn ich bin wach! Ich bin von dir entzückt!
Ich weiß, ich kann dich ewig wiederholen;
Ein Hauch von meiner Hand ist deine Bahn —
Du liebst mich, und ich kann auf leisen Sohlen
Von dir entfliegen wie ein Aeroplan.

O meine Freunde, kommt! Wir wollen alle
Uns lieben! Gleich, ob Mann, ob Wein, ob Kind;
Daß keine Frage, keine Antwort falle:
Wir tun es, weil wir auf der Erde sind!
Wir lieben ohne Sinn für Zärtlichkeiten,
Nur daß wir lieben ist uns schon Gewinn.
Dem andern Freunde Freude zu bereiten,
So tritt der Jüngling vor den Jüngling hin.
Nun komm auch du, aus jenem Kreis der Damen!
Du bist ein Weib. Sei nackt. Hier hast du Geld.
Erfüllt von mir und meines Freundes Samen
Zieh aus und werde reicher auf der Welt!

Kehr nie zurück, Geschöpf aus unsern Freuden!
Du bist vorhanden. Hab zum Lieben Mut.
Du wirst vielleicht ein Kind von uns erleiden,
So laß es wachsen und so mach es gut!
Da liegst du zwischen uns, du arme Dirne,
Und hast mit uns gemeinsam nur die List.
Die Wollust steigt dir nicht mehr zum Gehirne:
Du liebst, weil nichts mehr ewig an dir ist.
O du mein Freund, die wir zuzweit genießen
An dem Kadaver einer dritten Frau —
Siehst du es nicht wie einen Zug von Riesen,
Einsam, und ragen an der Leichenschau!

Kehr mir zurück, mein Geist, im Blut verrieben;
Was du gelöst, das sammle wieder fest,
Und halte mir das Gleichgewicht beim Lieben,
Sonst sterb ich am Gefühl wie an der Pest.
Ich will jetzt mit dir sein und mit dir reisen;
Wir wollen wie zwei Kugeln uns umkreisen,
Aus einem hellen Raum ins Dunkel wehn.
Wenn je dich ein Genuß verzehrt, den töte!
Verkauf dein Weib, du wirst es überstehn.
Gleichviel ob Ekel oder Liebesnöte —
Am Himmel eilen Wind und Morgenröte,
Die Scheiben klirren, und die Züge gehn.

Geschlossen ist der Ring. Wo sind die Namen,
Die bürgerlich und lüstern zu mir kamen?
Ich spielte gut auf ihrem Instrument.
Erhalt ich mir die Kraft, werd ich zum Weisen
Und kann wie ein Fakir mit vielen, leisen
Glocken das Feuer rufen, bis es brennt.
Ausgieße dich ins All, mein Geist! Sei Feuer!
Stets unverbrannt — so brenne immer neuer:
O Erde, bist du nicht ein Faunsgesicht,
An das wir trunken unser Herz verschwenden,
Bis wir dich herrlich in uns selbst vollenden
Und aus dem Wirbel tanzen in das Licht!

Der Abenteurer

Wir spannen Drahtseile aus an metallnen Himmeln.
Wir sind ein Schwarm von Vögeln zusammengeballt.
Wir jagen mit Revolvern auf fliegenden Schimmeln.
Wir pendeln am Strick vor dem Staatsanwalt.
Wir leben, um uns zu betrügen.
Wir tanzen alle Tänze mit dem Knie.
Wir umarmen brüllend den und die.
Wir fahren in allen Expreßzügen.
Wir heulen wie Hunde durch unser Dutzend Seelen.
Wir heben die Fackeln zur Henkersnacht.
Wir haben alle Philister ans Kreuz gebracht.
Wir werden alle Idioten zu Tode quälen.

Schöne Dame! Blumen überm Herzen
Und der blauen Feder an dem Hut:
Sein Sie mir, ich bitte Sie von Herzen,
Jeden Tag um sechs Uhr gut!
Durch den Saal, den Walzerklänge reizen,
Schwebt Ihr Bild, von reicher Fahrt geschwellt;
Wenn Kommis sich unter Palmen spreizen,
Fühlt man sich in ungeheurer Welt.
Und Ihr Auge schenkt aus der Rotunde
Alles, was den Knaben einst entzückt,
Und die Süßigkeit aus jener Stunde,
Die mich wieder rührt und mich beglückt.

Als ich noch ängstlich war und keinen kannte,
Als keine Frau, kein Freund, kein Buch mich nannte,
Als ich noch jung war, heiß und wild bemüht:
Wie war ich dumm! Wie stark! Und wie verfrüht!
Ich weiß nicht, ob es gut war mich zu ändern.
Doch was ich sah und was ich tat, war gut.
Von all dem Schwarm in flatternden Gewändern
Bekränz ich deine Stirne, Lebensmut!
Nur wir sind würdig, alles zu genießen,
Die wir genießen, ohne Ziel und Norm,
Und die wir, groß im Auseinanderfließen,
Einst wieder wachsen: einsam und zur Form.

Nimm nicht zu viel! Genossen heißt verlieren;
Ich liebe eine Frau, die sich begrenzt.
Wenn du die feinsten aller Nerven kennst,
Kannst du das Kleinste mit dem Größten zieren.
Nachtwolken stehn, gleich violetten Bänken,
Im Schwefel über dem verbrannten Wald.
Die Großstadt kommt mit Kino, Stern und Schänken
Zu deiner herrenlosen Truggestalt.
Bemale deine Sinne rot und golden,
Und was noch Farbe hat, das male ein!
Bedenke all die Freuden, süßen, holden,
An die du anklingst wie Champagnerwein!

Die Nacht fällt scherbenlos ins Unbewußte;
Erlebnis bröckelt von dir ab wie Kruste.
Schon schirrt der Tag mit Faß, Laterne, Karren
Einäugige Pferde, die auf Futter harren.
Geliebte Fraun! Wo mögt ihr heute träumen!
In was für Betten dunkel euch verschäumen.
Lösch aus, du letzte Kerze, die noch brennt!
Mit froher Güte will ich mich umsäumen.
Wer treu ist, kehrt zurück aus Zwischenräumen
Zu einem gleichen Schicksal, das er kennt.
Ihn wird der eitle Schmerz nicht mehr betören
Dessen, der nichts verliert und nichts behält.
Wer treu ist, wird dem Menschlichsten gehören —
Und so erfüllt er sich in ewiger Welt.

Welt, du bist mehr als Taumel oder Grüfte,
Wird deine Seele stark von dem, was war.
Mein Blick begegnet einer Frauenhüfte,
Bleibt ruhn und nennt die Ferne wunderbar.
Ich bin bei euch! Und weil ich nichts bereue,
Strömt mir mein Sein zurück und gibt mich hin.
Nicht, daß ich war, nein: daß ich mich zerstreue,
Daß ich in jeder Sehnsucht mich erneue,
Schuf Freude, Schmerz, Geschick. Und sieh: Ich bin.
Du Bett! Du Uhr! Und du, Lokomotive!
Ihr seid ja nur, weil ich euch lieb gewann.
Geht nicht, wenn eine andre Welt euch riefe,
Daß ich euer Freund, euer Bruder werden kann!

Liebst du an mir, daß ich, wie du, mich härme?
Kennst du das ferne Streicheln meiner Hände?
Fliehst du vor mir, wenn ich zu nah dir schwärme?
Erschauerst du beim Kuß, als wärs das Ende?
Bist du das Eine, das ich immer finde —
Gesicht des eignen Blutes, fremd und scheu?
Was irrst du traurig unter dem Gesinde —
So tritt hervor! Erkenn dich! Sei dir treu!
Du bist, wie ich, Geschenk an Tag und Erde,
Aus deren Herz du wieder zu dir kreist.
Und alles, was du weißt von Tag und Erde,
Ist nur dein Spiegelbild in deinem Geist.

So mußt du lernen dir die Welt betrachten:
Laß einen Abstand zwischen dir und ihr.
Erfülle ihn mit Weibern und mit Schlachten,
Mit einer Zeitung, einem Glase Bier.
Du lebst, Unendliches dir auszusinnen!
Du stehst im All, an das du dich verlierst.
Was du auch denkst, einst sollst du es gewinnen,
Du wirst dein eigen, und du triumphierst.
Es gibt kein Bild, das ewig dir entschwindet,
Und keinen Horizont, an dem du klebst —
Was dich mit dir und deinesgleichen bindet,
Ist nur das Eine: Daß du lebst!

Ich will dies Leben herrlich dir beschreiben,
Das dich in seine Freudenhäuser raubt.
Schon hör ich dich an deinem Käfig reiben —
Du bist ein Mensch! O hebe, Mensch, dein Haupt!
Gefahr in vielen Körpern wird dich schwächen,
An mancher Lust und Not ertrinkt dein Blick;
Doch eines Tages wirst du nicht mehr sprechen:
Ich habe Glück. Ich habe Mißgeschick.
Nein, Mensch, du Melodie für alle Klänge,
Du bist so stark! Sei, was dein Auge sah!
Wie im Theater fülle alle Ränge —
Lausche dem Spiel — du bist es selber ja.

Und wenn du dich erkannt als große Fülle
Des Lebens, die das Leben ewig schafft,
Fällt von dir ab, was Not war, und die Hülle
Des Körperlichen, und du wirst die Kraft.
Du hast die Welt gezeugt und wirst sie töten;
Sie muß dir dienen, wie du sie gewollt.
Denn ohne blaß zu werden und Erröten,
Trägst du ihr Antlitz: ein Symbol, das rollt.
Von Kerzen und von Winden gern getragen,
Entschreitest du, beruhigt und gestillt:
Goldgräber, dem die guten Uhren schlagen.
Und Welt und Menschheit lebt in deinem Bild.

Flucht und Erscheinung

Ich rufe dich, den Geist des Vielgekannten:
Entflieh aus Allem, was ich bin!
Ich gebe mich, den aus sich selbst Verbannten,
Der Ferne und dem Schicksal hin.
Nie lernte ich in dir mich überwinden;
Ein Gleiches ließ mich immer wiederfinden.
Doch wenn ich schäumend stürz aus dem Gesange,
Und kein Gewicht mehr weiß, an dem ich hange,
Bin ich vielleicht ein Größrer als ich selbst.
Ich hab die Welt genossen; war ihr Meister.
So brenne in mir, Glut, bis ich zerfalle!
Ich Matador im Spiel der Geister:
Daß ich entschwebe von dem dunklen Balle!

Daß ich entschwebe! Mond, bist du noch Bruder?
Liegt irgendwo die Ferne angekettet?
Taucht in die tränenlose Flucht das Ruder,
Bis ihr die Seele vor der Welt errettet.
Ich kenne dich! O nenne keinen Namen.
Du lebst ja nicht. Bist doch mir zugestellt!
Noch ist mein Herz verliebt in deinen Samen,
Schwach wie ein Rehbock in den Wäldern bellt.
Herbsttag, der meine heißen Sinne fühlte,
Sommer und Winter, Frühling wird nun enden.
Und alles, was ich lebte, was ich fühlte,
Brennt mir zu Asche in den Händen.

Wähne nicht, die Erde sei vergebens,
Weil die Ferne dir im Antlitz steht.
Denkend lernst du das Gesetz des Lebens:
Jeder Tag ist reicher, der vergeht.
Herrn im Frack und Damen, welche rasen,
Und der Streichholzmann, der nachts dich rührt —
Alle diese sind zur Macht verführt,
Ihres Daseins schwärmende Ekstasen.
Wer sich selbst im Gleichnis unterscheidet,
Wird vom Rausch der Bilder nicht entstellt;
Wird des Truges klar, an dem er leidet,
Und sein Auge überholt die Welt.

Dieses Lebens Gunst und Tücke
Scheint ein Ausgleich nur zu sein;
Strömt bei jedem Leid und Glücke
Jeder in sein Maß hinein.
Kehrt zurück, was ihn begeistert,
Fühlt er wachsen sein Geschick;
Wenn er auch nicht alles meistert,
Vieles glänzt in seinem Blick.
Was er ahnt und sich bereitet,
Ist ihm nah und ist ihm fern,
Und von seiner Fahrt begleitet,
Folgt er sich und seinem Stern.

O Fleischgeruch der ewigen Hetäre!
Du Schaukelpferd, zu dem ich wiederkehre!
Weib, das an mir vergeht, Weib, das ertrinkt:
Sei mir willkommen! Dein Gesicht versinkt.
Ein andres schwebt aus dieses Bluts Verhüllung —
Du bist mir nah, erhabene Erfüllung!
Dich zeug ich, Kindlein, noch dem Schlaf verschwistert;
Horch, was mein Herz dir aus den Wolken flüstert:
Du wirst, wie alle Menschen, dir enteilen;
Du wirst die Sehnsucht aller Menschen teilen.
Hinaus, zu ungeheurem Drang entflieh!
Und was einst Chaos war, wird Harmonie.

Stürzt in eure Katarakte
Lose, anvertraute Schatten!
In dem Gaukelspiel der Akte
Laßt euch mischen und begatten.
Tiere sterben an der Räude,
Alles Haben muß verwesen,
Aus der Fäulnis zum Genesen
Singt euch wieder in die Freude!
Städte, Meer und Paradiese
Und ihr Himmel, schnell gerötet:
Lebt in dieses Herzens Krise,
Seid begehrt — und seid getötet!

Fliegt auf, ihr flüchtigen Elemente! Ihr Wesen und ihr Gestalten!
Ich will nicht mehr in eurer Mitte mich wärmen oder erkalten.
Ich will einsam werden im Leid. Will einsam werden im Glücke.
Über meines Lebens Strom will ich stehn auf gebogener Brücke.
Wenn ich vielleicht auf einer Insel im australischen Küstenmeer raste,
Bin ich in einer Oper, im Hotel, in einem Hause bei euch zu Gaste;
Ich will mich auf Piratenschiffe und venetianische Godeln ergießen,
Und junge und blonde Königinnen auf Kostümfesten genießen.
Ihr Freunde und ihr Geliebten! Ihr sollt mir alle wieder erscheinen!
Ich will an jedem Grabhügel sitzen. Ich will euch trösten. Ich will mit euch weinen.
Reklamesäulen und Tänze und Umarmungen auf verbotenen Bänken —
Steige mir auf in der Nacht! Du Herzklopfen! Du Gedenken!

Die Fülle der schönen Gewalten lockt nicht mehr zur Liebe, zum Hasse.
Wer alles besitzt, dessen Blut hat alles gemein mit der Masse.
Doch wem die Seele erfüllt ist von der Welt und ihren Genüssen,
Dem wird die Macht offenbar: er wird sie verwandeln müssen.
Die Fraun, mit denen er Sekt trinkt, die in Automobilen ihn fassen,
Können ihn nicht mehr entführen. Er wird ihre Wirklichkeit hassen.
Für ihn nur lebt die Erscheinung, an seinesgleichen entzündet —
Strom unirdischer Lust, der in ewige Sphären mündet.
Eines Hundes trauriger Blick im Café wird zu Tränen ihn rühren;
Eines Schreibers krüpplige Hand wird ihn wieder zu Christus führen.
Was das Leben ihm schenkt, war Traum in seinem Innern —
Abenteur und Schicksal lustwandeln durch fernes Erinnern.

Ich Schreckgespenst in letzter Nächtlichkeit,
Verflüchtigt kaum aus einer Schwedin Schoß!
(Sie trennt sich ihre Sonntagsbluse los,
Und aufgedunsen spült mich hin die Zeit.)
An einer Straße wird ein Mensch verprügelt.
Man stößt ihn fort ins All. Er stirbt vielleicht.
Komm, sei mein Freund! Dein Kummer ist beflügelt!
Eine Träne von dir hat mich Einsamen erreicht.
Geh mit mir schlafen, arme Gestalt von gestern!
Einst hattest du Glück in der Welt. Jetzt bist du in Not.
Sind wir nicht alle Mensch, Brüder und Schwestern!
Wer rettet den andern im Leben! Wer hilft ihm im Tod!

Du Geist, der mich verließ, den ich gewinne,
Der tausendfältig meines Werkes harrt:
Erkämpf mich bis zum letzten meiner Sinne,
Auf einem andern Stern beginn, o Fahrt!
Ich bin von neuem in die Welt geboren,
Die meinem Leid und meinen Freuden quillt.
Was ich besaß, das hab ich nicht verloren,
Nur größer und nur klarer ward mein Bild.
Ich sah den Bruder, wenn ich die Erscheinung
Des eignen Herzens mich verklären sah;
Doch bin ich mehr als Sehnsucht und Beweinung:
Ich bin Verheißung! Ich bin ewig da!

Die Verheißung

Ich rufe dich, mein Herz, das viel genossen:
Du Freund, Geliebte, du enteiltes Jahr!
Die Ströme fühl ich, die durch euch geflossen,
Dich hab ich wieder, schmerzliche Gefahr.
Mit gleicher Freude lernten wir das Träumen,
Der Abend litt uns nicht bei einem Buch;
So gehn wir um und sind in allen Räumen,
Uns lockt die Sehnsucht auf das Kinotuch.
Denn nur wer viel erlebt, dem ist Gott gnädig,
Dem wird sein Reich auf dunkler Fahrt bewußt,
Bis er der Habsucht und des Neides ledig
Den höchsten Schmerz preist als die höchste Lust.

Im Traume eines Tages, als ich ermattet lag,
Fühlt ich an meinem Herzen, o Mutter, deinen Schlag.
Du schienst mir so schön, wie ich niemals dich sah —
Dein Gesicht war ein andres; wie wehte es nah!
Söller mein, Zimmer alt, Garten, in dem dein Fuß ging;
Süßes kam, Wehes her, drin, Mutter, dein Blut hing.
Mädchen sind da. Scheue Schwestern. Wir spielen Verstecken.
Wann hast mich lieb gehabt! So küßtest du nie an den Hecken!
Mit blauem Kleid angetan, ich seh dich, o Wunder!
Du gehst hin. Du duftest. An Himmelswand blüht der Holunder.
Einst hat man gebetet beisammen. Du kanntest mich nicht.
Schlugst zu, kam er traurig vom Konfirmationsunterricht.
All das Leid, all die Sehnsucht nun strömt in mich ein.
Hab Sehnsucht, o Mutter, am Kleid dir zu sein!

Tritt aus dem Tor, Erscheinung, namenlose!
Kommt, ihr geheimnisvollen frühen Triebe!
Kehr wieder, Sonntag! Schlafe mit mir, Rose
Am weißen Kleide meiner ersten Liebe!
Und wenn ich von euch ritt auf einem Pferde
Schwarz in die Dunkelheit des Meers — was war ich!
Ein Strahl des Lichts, ein Stück von meiner Erde,
Ein Abenteuer, bunt, verbrannt und fahrig.
Mein altes Haus, wer deine Ruhe fände!
O sag mir nicht, daß auf den fremden Inseln
Jetzt Affen schrein und Papageien winseln —
Ich könnte wieder reisen ohne Ende!

Großmutter läßt die alten Hände sinken.
Das Abendbrot steht auf dem Tisch. Der Schinken.
Du treuer Diener, der als Kind mich fuhr!
Da drüben hängt mein Bild. Dort schlägt die Uhr.
Der müde Hund kriecht auf dem Teppich nieder.
Ich hab ihn oft gequält. Er liebt mich wieder!
Wir sehn uns schwer wie ein Begräbnis an.
Die alte Frau ist krank. Sie soll nicht sterben!
(Sie zittert oft und denkt: er wird verderben!
Vielleicht hab ich nicht gut an ihm getan.)
Daß wir die Güte einst verloren hatten —
Großmutter, deine Liebe war so groß!
Sieh, was uns trennt, ist nur die Zeit, ein Schatten.
Ich bin dein Kind. Nimm mich in deinen Schoß!

Du Frau im Samt der ersten Klasse fahrend,
Wie liebe ich dein nie erreichtes Bild!
Ein Schicksal dunkel dir im Herzen wahrend,
Erscheinst du ewig mir und ungestillt.
Ich lese in den Blättern, den Journalen,
Und Welt, die mich umfing, rauscht ins Coupé.
Ich weiß, wie du dich sorgst in Mutterqualen,
Und wie du gehst, und wie du schenkst den Tee.
So kenn ich dein umflortes Herz von ferne.
Du liebe Unbekannte, sei mir nah!
O daß ich wieder glaube, wieder lerne:
Ich bin für dich und deine Schönheit da.

Schnell von zitterndem Arm streif das Gewand dir ab,
Biege dich katzengleich, zärtliche Liebhaberin!
Leise den Finger tauch ein in dein feuchtes Grab,
Unerlöst, du allein, schwankend durch Bilder hin.
Und wie du tiefer dich wärmst, steigen dir Städte auf,
Kavaliere und Herrn, heiß an dein Knie gepreßt.
In bacchantischer Lust treibst du auf Stromes Lauf,
Hoch in die Gluten geküßt, und du tanzt auf dem Fest.
Und wie du jäh dich bäumst, sinnloser Rausch dich umfängt,
Eilt deines Herzens Takt wilder in dunkelndes Glück,
Bis dich erwachendes Licht, das deine Wimpern sengt,
Müde aus traumloser Flut hebt in die Kissen zurück.

Du stehst vor deinem Tag. Du läßt dich leiten.
Und vieles, was du kaum erlebst, ist da;
Im Flugzeug über Dämmerungen gleiten,
Und Autofahren in Amerika.
Ein Brief beglückt dich. Eines Freunds Novelle,
Der dir von traumverwandten Räumen spricht.
Doch heißer dreht sich um dich selbst die Schnelle,
Dich rührt ein Kind, dich zaubert ein Gesicht.
So daß du, überflutet von Verwirrung,
Durch manches Bild und manche Stätte ziehst,
Als Einziger gestürzt in diese Irrung,
Die du erkennst und nicht mehr wiedersiehst.

Und wenn du auszogst aus dir selbst, ein Knabe,
Dem frommer Glaube noch die Lust verhüllt,
Kehrst du zurück zu dir, ein weißer Rabe,
Vom Schauer des Erlebten angefüllt.
Aus Krampf und Zweifeln wirst du dich erlösen;
In seltnen Nächten rufst du dich zum Fest;
Denn wisse nur: Im Guten wie im Bösen
Bist du an alles, was da lebt, gepreßt.
Dann tritt hinaus mit aufgehobnen Händen —
Du lebst, um viel von deinem Glück zu spenden,
Zur höchsten Freude schuf dich dein Planet!
Einst fern der Not zu lieben und zu hassen,
Wird dich das Dunkel fremder Menschheit fassen,
Und ihrer Sehnsucht, die vorübergeht.

Quält dich dein Herz, das dich so oft getrieben,
So decke dich mit deiner Wärme zu.
Du hast erfleht die stärkste Kraft im Lieben,
Die alles war. Und alles warst auch du!
Hafen und Lärm der Börse wird erscheinen;
Du sitzt mit Herrn und Damen in der Bar,
Und ehe du noch schlummerst, wirst du weinen,
Daß so viel Dasein dir beschieden war.
Du stehst auf dem Balkon. Schon krähen Hähne.
Da fühlst du dich unendlich aufgewacht:
Gott ruft, du sollst ihn künden! Und wie Schwäne
Sinkt die Erscheinung von dir in die Nacht.

O laß nur deine Augen übergehen
Im Ozean des Tags, auf dem du reist!
Bald wirst du nicht allein im Chaos stehen,
Du schaffst dein Ebenbild mit deinem Geist.
Und Menschen zu umarmen, zu versöhnen,
Zieh hin, gesegnet, wenn du sie erlangst!
Schon naht der Stern, und Weihnachtslieder tönen,
Die du als kleines Kind am Ofen sangst.
Ja, wenn du damals deine Schritte lenktest
Und armen Kranken, die dein Herz erblickt,
Aus einem großen Korbe Weihnacht schenktest —
So sei auch heute wieder ausgeschickt!

Das glückliche Ende

Mein Jüngling, du, ich liebe dich vor allen,
Du bist mein eigen Bild, das mir erscheint!
Ich sehe dich in manchen Teufelskrallen;
Gewiß, du bist nicht glücklich, hast geweint.
Du liebst zu schmerzlich oder harrst vergebens,
Dein Vater, deine Wirtin macht dir Qual,
Du zuckst in der Verwildrung deines Lebens,
Dein Geist wird bürgerlich, dein Kopf wird kahl.
Willst du nicht mit mir gehen und mich erhören!
Sieh, auf die gleichen Klippen schwimm ich ein.
Einst auf Prärien, jetzt in Geisterchören
Will ich dich rufen und will bei dir sein!

Glasglühlicht summt. Ich weiß, ich bin vorhanden,
Und meine Seele hängt am Büchertisch.
Ich schreibe ein Gedicht. Wo werd ich landen!
Im Dunst von großen, lauten Städten fanden
Indessen meine vielen Körper sich.
Schon tauml ich über harten Finsternissen
Ins schäumende Verrücktsein, in die Gruft.
Ein Nerv in meinem Hirn ist aufgerissen,
Nun züngelt Beute auf mit Natterbissen —
Da tanz ich — und es strömt die alte Luft.
Wenn Maskenbälle toller sich betäuben,
Kehrt unser Herz zum Urwald wieder um.
Doch unsre Seelen, ob sie gleich zerstäuben,
Entschweben langsam nach Elysium.

Die Überzahl erstarrter Bajonette
Und Brand, der aus vergessnen Wunden loht —
Sie nehm ich an mein Herz, wenn nachts im Bette
Die Angst von fernen Schlachten mich bedroht.
Licht schreit in mein Gemach. Ich spring ans Fenster.
Wer hieb mit einem Schwert in meinen Traum?
Würgengel, Pelikane und Gespenster
Auf schwanken Stricken klettern aus dem Raum.
Man bringt den Morgenkaffee und die Zeitung.
Ich wasche mich, in Tages Vorbereitung.
Ein Brief von einer Freundin stimmt mich schwer.
Wo kommen alle die Begierden her?
Ich ruhe nicht und fühle die Begleitung.

Im Schaum von solchen Stunden, unvergessnen,
Erkenn ich tiefer einen Augenblick:
Daß alles sich erfüllt im Unermessnen,
In das uns zaubert unser Lustgeschick.
Ich seh mich unvergänglich wieder schreiten,
Mit einer Dame, fern aus einem Tor;
Stadt wächst, und Mond hinzu von allen Seiten
Du liebe Dame, tritt auch du hervor!
Die großen Plätze in der Stadt erstrahlen
Leer und beklommen wie vor einer Pest;
Doch oben rüsten sich die Kathedralen
Mit spitzen Liebeszungen zu dem Fest.
Wir zogen durch den Tag, o Vagabunden!
Wir sind vom Glorienschein der Nacht erfüllt.
Biblische Landschaft naht, Kastell und Runden —
Was spricht mir wieder dein verjährtes Bild?

„Sieh hinaus! Erlebe den Mond und die Stadt!
Ich liebe den Tag, der kein Ende hat.
Man braucht sich nicht auf die Höhe zu führen,
Nur die große Sehnsucht, die muß man spüren!
Mich drängt es in Leiber und Seelen hinein,
Ich könnt eine große Hure sein.
Mit vollen Brüsten will ich genießen,
Und alles verschenken, nie mich verschließen.
Ich opfre mein Leben der heiligsten Glut;
Ich weiß, ich verbrenne — doch brenn ich gut!
So schreit ich gebändigt in Ekstasen:
Ich will dich lieben, ich will mit dir rasen!
Kein Stern, kein Erdteil ist mir zu groß,
Ich reiß ihn aus seiner Beschaffenheit los
Und forme sie alle, Mensch oder Tier,
Nach dem starken Gesetze des Lebens in mir.

Ich fühle in meinen Adern, wie du,
Den Samen der Erde. Er rauscht mir zu.
Verkündend gehn wir zu Menschen hin:
Du ein Dichter. Ich eine Schauspielerin.
Sieh noch einmal hinaus! Nun wirst du verstehen:
Mein Leben kann mir nicht untergehen,
Die Kraft wird nicht sterben, sie wird mich beschützen;
Ich werde mich immer mehr besitzen.
Frauen hab ich geliebt und Jünglinge genossen,
Auf viele ist der Strom meines Leibes geflossen —
Ich bin nun am Ende von diesen Genüssen;
Doch lauscht mein Herz den Wäldern und Flüssen
Und läßt erhaben in seinen Schrein
Allen Segen, alle Wunder der Erde hinein,
Um sie einst vollendeter wiederzugeben:
Sieh, das bedeutet für mich das Leben!“

Oft am Erregungsspiel in fremden Zonen
Stockt unser Herz. Doch weiter kreist die Zeit.
Gib, große Erde, stärkre Sensationen,
Daß wir, die nur im Unerfüllten wohnen,
Nicht einsam werden vor Vergänglichkeit!
Denn wer sich liebt, der muß sich selbst zerstören
Und krank nach Festen auf der Gasse stehn;
Sein Ohr vermag den Schrei der Nacht zu hören,
Und manches Menschen Auge wird ihn sehn.
Die leere Luft von Kammern und von Zoten
Würgt ihn am Hals. Sein Durst erstickt im Brand.
Da rettet ihn der Schlaf. Begrabt die Toten!
Noch lockt im Osten unbetretnes Land.

Und wenn ich stände, wo kein Fuß je stünde,
Auf hohler Flüssigkeit im hellen Mond —
Noch wüßt ich nicht, mit wem ich mich verbünde,
Ich wär genug mit meinem Sein belohnt.
Durchglüht von Ferne und durchwachten Stunden,
Mit alter Melodie am neuen Ort:
So wär ich ewig an mich selbst gebunden;
Was ich gewesen, bliebe ich auch dort.
Denn alles ging durch mich. Ich war die Quelle,
Der Strom und war das Bett, in dem ich rang.
Kraft überschwemmte mich. Doch jede Welle
War meine Lust und war mein Untergang.

Doch meine Tat ist nicht mehr sinnverloren;
Ich sehne mich, dies Dunkel zu erhellen.
Ich glaube an mein Glück. Ich bin geboren.
Bin kein Gespenst in würdelosen Zellen!
Aus Eisenbahnen, die die Welt beflügeln,
Winken mir Mädchen. Könnt ich sie beglücken!
Signallaternen und Gewölk auf Hügeln,
Ihr seid ja meine Zeit und mein Entzücken!
So leb ich denn euch allen zu vertrauen.
Schon schlägt hinaus das Feuer der Fabriken.
Zur alten Stätte kommt, geliebte Frauen,
Wir werden manches Wunder noch erblicken!

Ein letztes Mal in diesen Versen singen,
Und jeder wandle fort auf seiner Bahn.
Vermocht ich, Jüngling, in dein Herz zu dringen,
Dan war es gut. Ich habe wohlgetan.
O laß von allen in dir einen Klang sein!
Wer vieles ahnt, der wird auch vieles sehn.
Du brauchst in der Umarmung nicht mehr bang sein:
Schaff dir den Rausch! Du kannst ihn überstehn.
Kassiopeia scheint! Auf, Karawane,
Mit erster Röte in den ewigen Raum!
Erdabwärts sinkt dein Haus, Gesicht und Fahne —
Aufschwebst du, übermannt von deinem Traum!

Rechte

Der Text des Jünglings ist nach Auffassung des Herausgebers gemeinfrei, da die Schutzfrist nach § 64 Urhg – siebzig Jahre nach dem Tod des Urhebers – abgelaufen ist. Bei der Verwendung bedenken Sie bitte, dass Sie für die Rechtmäßigkeit der Verwendung selbst verantwortlich sind. Aus der Tatsache, dass der Herausgeber davon ausgeht, dass der Text nach deutschem Urheberrecht gemeinfrei ist, können Sie nicht folgern, dass dies für eine Verwendung unter der Rechtsordnung, unter der ihre Verwendung steht, gilt. Dementsprechend kann der Herausgeber nicht für etwaige Rechtsfolgen einer Weiterverwendung haftbar gemacht werden.

Die Edition der Rheinischen Kulturraumverdichtung steht unter einer Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 Deutschland Lizenz.

Editorische Notiz

Der Text der vorliegenden Ausgabe folgt dem Text der dritten Auflage (4.-6. Tsd.) des Jüng­lings, die ohne Jahresangabe im Kurt Wolff Verlag, Leipzig, erschienen ist. Die Erstausgabe wurde 1913 veröffentlicht.

Ein Digitalisat der verwendeten Auflage ist bei archive.org einsehbar: http://archive.org/details/derjngling00hasegoog.