Kulturraum NRW


Turner-Preis 2017 – Ausstellung in Hull

Die Ferens Art Gallery in Hull zeigt bis 7. Januar 2018 Arbeiten der vier Nominierten für den Turner Prize 2017: Hurvin Anderson, Andrea Büttner, Rosalind Nashashibi und Preisträgerin Lubaina Himid.

Lubaina Himid, The Fashionable Marriage, 1986. Turner Prize Exhibition 2017, Ferens Art Gallery, Hull. Foto: jvf
Lubaina Himid, The Fashionable Marriage, 1986. Turner Prize Exhibition 2017, Ferens Art Gallery, Hull. Foto: jvf.

Man kommt nicht drumherum, die dies­jährige Auflage des Turner Prize auf die Kata­strophe des Brexits zu verechnen und vor allem als ohnmächtige Antwort auf dessen xenophobe Dimension zu verstehen.

Alle vier Nominierten für den wichtigsten britischen Kunstpreis sind entweder außerhalb des UK geboren oder können zumindest Migrations­hintergrund geltend machen. Und sie machen mehr oder minder explizit engagierte Kunst mit Schwerpunkt auf postkoloniale, migrations- oder identitäts­politische Themen.

Spielort der Shortlist-Ausstellung ist heuer die kleine, aber hübsche Ferens Art Gallery in Kingston upon Hull. Die Hafenstadt im nord­englischen Yorkshire ist die britische Kultur­hauptstadt 2017. Zahlreiche Volunteers begrüßen die wenigen Kultur­touristen in der Stadt und in der Gallery.

„Hull is dull“ ist das Image, gegen das die Fremden­verkehrs­werbung und die Volunteers – eher vergeblich – ankämpfen. Weit überdurchschnittliche 67,6% der Wähler haben hier letztes Jahr fürs Leave abgestimmt, bei einer sehr unter­durchschnitt­lichen Wahl­beteiligung von 63%.

Lubaina Himid

Der Turner-Preis 2017 geht an Lubaina Himid. Die 1954 in Sansibar geborene Künstlerin gehörte bereits in den 1980er Jahren zu den zentralen Figuren des Black British Art Movement. Die Jury betonte Himids „kompromisslose Ausseinandersetzung mit Fragen der Kolonialgeschichte und des gegenwärtigen Rassismus“.

Ihre Installation The Fashionable Marriage (1986) greift eine sechs­teilige Serie von Gemälden des britischen Altmeisters der Satire William Hogarth auf, Marriage A-la-Mode (1743/45), und überführt sie in ein turbulentes Tableau aus Collagen, grotesken Figuren, malerischen Parodien.

Himid verarbeitet historisches Material und Alltags­objekte der Gegenwart zu viel­schichtigen Palimpsesten, die Auskunft geben über die Darstellung oder die Abwesenheit schwarzer Menschen in der kulturellen Tradition und heutigen Bildwelten.

Lubaina Himid, Swallow Hard: The Lancaster Dinner Service, 2007. Paint on porcelain. Dimensions variable. Turner Prize Exhibition 2017, Ferens Art Gallery, Hull. Foto: jvf
Lubaina Himid, Swallow Hard: The Lancaster Dinner Service, 2007. Paint on porcelain. Dimensions variable. Turner Prize Exhibition 2017, Ferens Art Gallery, Hull. Foto: jvf.

In der Serie Negative Positives (seit 2007) ist die Übermalung von Seiten der liberalen Zeitung „The Guardian“ ideologie­kritisches Statement zur stereo­typen Darstellung von Schwarzen in den Medien. Für Swallow Hard: The Lancaster Dinner Service (2007) hat Himid 100 Teller, Krüge, Terrinen mit Szenen, Karikaturen und comic-artigen Portraits aus der Geschichte des Sklaven­handels und der Abolition übermalt.

Als jüngste Arbeit des insgesamt sehr starken Auftritts in Hull ist The Exchange (2016) zu sehen. Das Gemälde ist Teil der Serie Le Rodeur, die sich in alptraumhaft nüchternen, symbolisch verdichteten Szenerien mit dem Mord an erkrankten Afrikanern auf einem Sklavenhändler­schiff Anfang des 19. Jahr­hunderts auseinander­setzt – die Fracht auf Le Rodeur wurde als verdorbenes Handelsgut über Bord geschmissen.

Lubaina Himid, Le Rodeur: The Exchange, 2016. Acrylic on canvas, 83x244cm. Turner Prize Exhibition 2017, Ferens Art Gallery, Hull. Foto: jvf
Lubaina Himid, Le Rodeur: The Exchange, 2016. Acrylic on canvas, 83x244cm. Turner Prize Exhibition 2017, Ferens Art Gallery, Hull. Foto: jvf.

Hurvin Anderson

Dass Lubaina Himid nominiert werden konnte, liegt an einer Reglements­änderung des Turner Prize. Eine 1991 eingeführte Altersgrenze von 50 Jahren wurde jetzt wieder aufgehoben. Immer noch gehe es darum, „aufstrebende“ Künst­lerinnen der Öffentlich­keit zu präsentieren, aber die können schließlich in jedem Alter einen Durchbruch in ihrer Arbeit erleben, so die Veranstalter.

Von der Abschaffung der Alters­diskriminierung profitiert auch ein zweiter nominierter Künstler: Der 1965 in Birmingham geborene Hurvin Anderson. Er galt den britischen Kritikern als Favorit für die Auszeichnung. Die Buch­macher dagegen sahen Anderson und Himid in etwa gleich auf (Stand Mitte Oktober 2017: Himid 2/1-7/4, Anderson 9/4-69/50).

Hurvin Anderson, Flat Top, 2008. Oil on canvas, 250x208cm. Hurvin Anderson: Backdrop, Art Gallery of Ontario 2016. Courtesy of the artist
Hurvin Anderson, Flat Top, 2008. Oil on canvas, 250x208cm. Hurvin Anderson: Backdrop, Art Gallery of Ontario 2016. Courtesy of the artist.

Anderson arbeitet gerne auf Basis von Foto­grafien, die in seinen groß­formatigen Gemälden in verschiedene Grade der Abstraktion transformiert oder auch in die Malerei integriert werden.

Etwas rätselhaft, aber sehr dekorativ sind in Hull fast ornamental wirkende, florale Motive, frucht­behangene Bäume seien das, auf die sein Bruder in Birminghamer Kindheits­tagen geklettert sei oder auch Kinder in Jamaika, woher seine Eltern stammen.

Hurvin Anderson, Is it OK to be black, 2016. Oil on canvas, 130x100cm. Hurvin Anderson: Dub Versions, New Art Exchange, Nottingham 2016. Courtesy of the artist
Hurvin Anderson, Is it OK to be black, 2016. Oil on canvas, 130x100cm. Hurvin Anderson: Dub Versions, New Art Exchange, Nottingham 2016. Courtesy of the artist.

Unmittelbarer zugänglich sind die barbershop images, die Anderson seit etwa 2007 malt: Sehr packende Interieurs von Salons im Milieu der britisch-jamaikanischen Community der 1950er und 1960er Jahre. Peter Doig, David Hockney, James Turrell, Henri Matisse, Edward Hopper sind so Namen, die ich höre oder lese, wenn es darum geht, Andersons Barbershop-Bilder zu verorten. Egal, Is it OK to be black? (2016) ist das vielleicht stärkste Einzelwerk dieser Turner Prize Ausstellung.

Rosalind Nashashibi

Rosalind Nashashibi, Electrical Gaza, 2015. Video still. On This Island: Rosalind Nashashibi, The University Art Galleries at UC Irvine’s Claire Trevor School of the Arts in California. Courtesy of the artist. Photography by Emma Dalesman
Rosalind Nashashibi, Electrical Gaza, 2015. Video still. On This Island: Rosalind Nashashibi, The University Art Galleries at UC Irvine’s Claire Trevor School of the Arts in California. Courtesy of the artist. Photography by Emma Dalesman.

Rosalind Nashashibi (*1973 in Croydon) hat unterdessen zwei Filme mitgebracht. Electrical Gaza (18 min., 2015), ein Auftragswerk des Imperial War Museum, montiert Alltags­szenen aus Gaza, Menschen am schließenden Gitter des Rafah Crossing Point an der Grenze zu Ägypten, Kinder spielen in den Gassen, eine Demonstration, Szenen am Strand, Jugendliche waschen zwei Pferde im Mittelmeer.

Mitunter sind comic-artige Sequenzen eingeschnitten, die in Film­aufnahmen überblenden. Keine Erzähler­stimme sortiert die Eindrücke oder vereindeutigt das Gezeigte.

Nashashibi drehe ihre Filme immer in Augenhöhe, sagt die Film­wissenschaft­lerin Schulmann. Das gilt nicht nur für die Kamera­perspektive, sondern auch für das Verhältnis zu den Figuren.

Die Kamera und der Film wissen hier nichts besser und die Figuren stellen sich mindestens ebenso sehr dar wie sie dargestellt werden. Das simuliert zumindest eine Unmittel­barkeit, auch Intimität des Blicks.

Rosalind Nashashibi, Vivian’s Garden, 2017. Digital video transferred from 16 mm film, color, sound, 30 min. Courtesy of the artist. Photography by Emma Dalesman and Rosalind Nashashibi
Rosalind Nashashibi, Vivian’s Garden, 2017. Digital video transferred from 16 mm film, color, sound, 30 min. Courtesy of the artist. Photography by Emma Dalesman and Rosalind Nashashibi.

Letzteres gilt ganz besonders für Vivian’s Garden (30 min., 2017), ein Auftrags­werk der Documenta 14, das die Künstlerin Vivian Suter und deren Mutter Elisabeth Wild auf ihrem Anwesen im guatemal­tekischen Touristen­paradies Panajachel inszeniert. Das Ding war auf der Documenta in Athen und Kassel zu sehen.

Andrea Büttner

Allenfalls Außenseiter­chancen wurden der 1972 in Stuttgart geborenen Andrea Büttner eingeräumt. Die hat in Hull u.a. eine starke, neunteilige Serie von minimalis­tischen Holzschnitten nach Barlachs Verhüllte Bettlerin und ein hübsches Diptychon Duck and Daisy eingestellt.

Andrea Büttner, Beggar, 2016. Woodcut, 9 sheets, 174x1280cm (overall). Turner Prize Exhibition 2017, Ferens Art Gallery, Hull. Foto: jvf
Andrea Büttner, Beggar, 2016. Woodcut, 9 sheets, 174x1280cm (overall). Turner Prize Exhibition 2017, Ferens Art Gallery, Hull. Foto: jvf.

Etwas irritierend ist ihre Übernahme einer Stellwand­ausstellung aus den Beständen der Friedens­bibliothek / Antikriegs­museum Berlin aus dem Jahre 1990: Die gefährlichste Krankheit collagiert Zitate von Simone Weil über Verwurzelung und Entwurzelung mit Schwarzweiß­fotografien u.a. von André Kertész und Ansel Adams.

Andrea Büttner, Simon Weil: The Most Dangerous Disease, 2009. Verleihbare Ausstellung der Friedensbibliothek-Antikriegsmuseum Berlin. Stellwände, Gesamtlänge: 37,60 m. Turner Prize Exhibition 2017, Ferens Art Gallery, Hull. Foto: jvf
Andrea Büttner, Simon Weil: The Most Dangerous Disease, 2009. Verleihbare Ausstellung der Friedensbibliothek-Antikriegsmuseum Berlin. Stellwände, Gesamtlänge: 37,60 m. Turner Prize Exhibition 2017, Ferens Art Gallery, Hull. Foto: jvf.

Der Turner-Preis

„Der Turner-Preis ist erwachsen geworden“, hat der Kultur­chefredakteur der BBC, Will Gompertz, mit einem gewissen Bedauern verlauten lassen, „kein Schock, keine Sensation, nichts Anstößiges, nichts Gottes­lästerliches“. Andere zeigten sich mehr angetan von der „ernst­haftesten und zugänglichsten Turner-Ausstellung in diesem Jahr­hundert“ (Jackie Wullschlager, Financial Times).

Der Turner Prize zählt zu den renommier­testen Kunstpreisen in Europa. Er wird seit 1984 jährlich an eine Künstlerin oder einen Künstler verliehen, die oder der in den zwölf Monaten vor der Nominierung durch eine herausragende Ausstellung oder sonstige Präsentation auffällig geworden und in Groß­britannien geboren oder wohnhaft ist.

Die Shortlist-Ausstellung mit den je vier Nominierten ist im jährlichen Wechsel in der Londoner Tate Britain und einem anderem Museum der Insel zu Hause. Dotiert ist der Turner Prize mit ₤25.000 für den Gewinner und mit ₤5.000 für jeden Nominierten. Der oder die Gewinnerin wurde am 5. Dezember bekannt gegeben.

Zu den früheren Preisträgern zählen Susan Philipsz (2010), Tomma Abts (2006), Wolfgang Tillmans (2000), Douglas Gordon (1996), Damien Hirst (1995), Anish Kapoor (1991), Richard Long (1989), Tony Cragg (1988), Gilbert and George (1986).

Zur Ausstellung der Shortlist ist eine kleine Broschüre erschienen, die für ₤5,00 zu haben ist (zwei Pfund weniger als im Vorjahr) und auf 46 Seiten ein paar, nur zum Wieder­erkennen geeignete Abbildungen sowie Informationen zu Werken und Künstler­innen enthält.

Turner Prize 2017. Hurvin Anderson, Andrea Büttner, Lubaina Himid, Rosalind Nashashibi. K: Sacha Craddock, George Vasey. Hull, Ferens Art Gallery, 26. September 2017 – 7. Januar 2018.