Kulturraum NRW


Homer I: Raoul Schrott schreibt über Homers Heimat

Rätselraten um Eunuchen

Der Schriftsteller und Literaturwissenschaftler Raoul Schrott spekuliert in seinem Buch Homers Heimat über die Person Homers, die Quellen der Ilias und deren realgeschichtlichen Hintergründe.

Friedrich Nietzsche schrieb 1869 ein Gedicht, aus Anlass seiner Antrittsvorlesung als außerordentlicher Professor an der Universität Basel, Homer und die Klassische Philologie:

In Basel steh ich unverzagt
Doch einsam da – Gott sei’s geklagt.
Und schrei ich laut: Homer! Homer!
So macht das jedermann Beschwer.
Zur Kirche geht man und nach Haus
Und lacht den lauten Schreier aus.

Die etwas anbiedernde zweite Strophe dieses Kleinods der deutschen Dichtkunst sei hier schamhaft verschwiegen und weiters zur Kenntnis genommen, dass sich Nietzsche hier den Spaß macht, ausgerechnet bei Gott zu klagen. Gleichviel, Basel scheint also eine traditionsreiche Stadt zu sein, wenn es um Homer geht. Und es ist ein guter Ort, um eine Ausstellung mit dem Titel Homer. Der Mythos von Troia in Dichtung und Kunst zu veranstalten, wie es das dortige Antikenmuseum seit Mitte März 2008 erfolgreich macht.

Der Ausstellung war besondere mediale Aufmerksamkeit gewiss, nachdem ein anderer lauter Schreier, der Schriftsteller und Literaturwissenschaftler Raoul Schrott, in der FAZ kurz vor Weihnachten des letzten Jahres das Rästel um Homer für – durch ihn – gelöst erklärte. Und ich war gespannt darauf, wie die Ausstellungsmacher auf die überraschenden Thesen Schrotts reagieren würden. Doch der Reihe nach.

Die homerische Frage

Antike Mamorbüste von Homer. British Museum. Rechte: Jastrow, PD. Quelle: http://commons.wikimedia.org/wiki/Image:Bust_Homer_BM_1825.jpgDie Frage, die Nietzsche in seiner Vorlesung abwägt, die sogenannte homerische Frage, hatte 1795 der Altertumswissenschaftler Friedrich August Wolf aufgebracht: Sind die beiden Großerzählungen, die am Anfang der europäischen Literatur stehen, die Ilias und die Odyssee, wirklich Werke eines oder zumindest jeweils eines genialen Dichters? Oder ist es nicht vielmehr so, dass sie eine Zusammenstellung, von mündlich überlieferten Heldengesängen sind, an denen eine Vielzahl von Dichtersängern im Verlauf der Überlieferung gewirkt hat und die erst nachträglich einem fiktiven Dichter namens Homer zugeschrieben worden sind?

Gegenüber dieser Frage, die seinerzeit die „gebildete Menschheit […] im Tiefsten aufgeregt“ habe, wie Goethe versichert, herrscht heute weitgehende Einigkeit unter den Gelehrten: es habe in der Tat jeweils einen großen Einzelnen gegeben, der irgendwann zwischen der Mitte des achten und Mitte des siebten vorchristlichen Jahrhunderts Heldengesänge aus dem Stoffkreis um den trojanischen Krieg als Vorlage nahm, um daraus ein einheitliches, wohlstrukturiertes Werk zu bilden, mündliche Erzähltraditionen aufgreifend, aber im neu gewonnenen Medium der Schriftlichkeit zu etwas qualitativ anderem formend.

Damit mag die homerische Frage nun beantwortet sein, aber das Rätsel bleibt: Wer war jener oder wer waren jene beiden Dichter, die die Griechen unter dem Namen Homer in eins setzten?

Das homerische Rätsel

Im 2. Jh. n. Chr. berichtet der Schriftsteller Lukian von Samosata von der Schwierigkeit Homer zu besingen:

nämlich, weil ich von meinem Helden, seine Poesie abgerechnet, nichts Zuverlässiges zu sagen habe; denn alles übrige, sein Vaterland, seine Herkunft, die Zeit, wann er gelebt hat, ist ungewiß.

Und Lukian folgert, nachdem er einige Legenden über Homer referiert: „das beste, denke ich, wäre, alle diese Dinge als gänzlich ungewiß beiseite zu lassen.“

Dem Rat des weisen Lukian wurde indes damals wie heute kaum Folge geleistet. Ein blinder fahrender Sänger aus ärmlichen Verhältnissen sei Homer gewesen, oder auch nicht blind und von edler Abkunft, der Schrift kundig oder auch nicht, geboren in Smyrna (Izmir), nein auf der Insel Chios, nein zu Kolophon oder Kyme oder doch anderswo. Sicher sei indes, dass er aus Gram darüber gestorben sei, dass er ein von Fischerknaben gestelltes Rätsel nicht habe lösen können. Dafür sei sein Name aber gar nicht Homer, sondern Melesigenes gewesen. Ganz falsch, der Dichter der Odyssee sei eine Frau gewesen, nein, auch die Ilias sei von einer Frau geschrieben.

In das vielstimmige Rästelraten, das mindestens so unterhaltsam sein kann wie die Verschwörungstheorien um die wahre Identität Shakespeares, mischt sich jetzt auch Raoul Schrott. Der hat im Auftrag des Hessischen Rundfunks in den letzten Jahren eine Neuübersetzung der Ilias angefertigt und begleitet das mit einer umfassenden Studie zu Quellen und realgeschichtlichen Hintergründen des Epos, die seit März auch in – allerdings recht mühsam zu lesender – Buchform vorliegt.

Spekulationen um Homer

Philippe-Laurent Roland: Homer, Marmor-Skulptur, 1812. Musée du Louvre, Paris. Rechte: Urban / GNU FDL. Quelle: http://commons.wikimedia.org/wiki/Image:Louvre2004_134_cor.jpgHomer, dem Schrott sowohl die Ilias als auch die Odyssee zuschreibt, sei ein in Kilikien, in der heutigen Südtürkei, lebender Schreiber mit griechischem Migrationshintergrund und in assyrischen Staatsdiensten gewesen. Nur so glaubt Schrott, die altorientalischen Einflüsse auf die Ilias erklären zu können. Denn nur im Multikulti-Schmelztiegel des Kilikiens des siebten Jahrhunderts hätten sich die „diversen semitischen Kulturen mit hurritisch-hethitischen und der griechischen Tradition“, die allesamt ihre Spuren im Epos hinterlassen hätten, so überlagert, dass dabei eine Ilias habe herauskommen können. Zudem seien die Landschafts- und Ortsbeschreibungen der Großerzählung trefflich auf die kilikische Topographie zurückzuführen, so sehr, dass das Troia der Ilias nach dem Vorbild der kilikischen Zitadelle von Karatepe geschildert sei – und nichts mit dem Troia am Ägäischen Meer gemein habe. Deutlich seien darüber hinaus die von Schrott detailreich ausgebreiteten zeitgeschichtlichen Bezüge des Epos zu den seinerzeitigen kilikischen Aufständen gegen die assyrische Herrschaft.

Besondere Aufregung weckt aber Schrotts Vermutung, Homer könne ein Eunuch gewesen sein. Der Stammvater der europäischen Literatur hätte keine Eier gehabt? Das wird von Fachgelehrten als jeder Grundlage entbehrend empört zurückgewiesen. Nun, Schrott breitet seine entsprechenden Überlegungen in einem Exkurs unter der vorsichtigen Überschrift „Ein völlig spekulatives Homer-Porträt“ aus, bezeichnet diese Spekulation aber als „weniger abwegig, als man denken mag“, weil Schreiber in assyrischen Diensten in überlieferter bildlicher Darstellung teilweise als Eunuchen gezeigt wurden.

Nun kann ich die altertumswissenschaftlichen Argumente die für oder gegen Schrotts Thesen sprechen nicht bewerten, aber da, wo er literaturwissenschaftlich argumentiert (und nicht nur überraschend umstandslos literarische Fiktion auf die historische Wirklichkeit verrechnet), kann ich seinem Indizienprozess (von „kumulativer Evidenz“ spricht Schrott) nicht wirklich folgen. Wenn zum Beispiel phallische Metaphorik bei der Schilderung von Waffen als Argument für eine Kastration des Autors herangezogen wird, dann müsste ein Großteil der Kriegsberichterstattung in der Weltliteratur von Eunuchen geschrieben worden sein – was andererseits, beim zweiten Nachdenken, vielleicht ein doch recht plausibler Gedanke ist.

Bevor ich aber das Schicksal Homers erleide und über einem mir unlösbarem Rätsel dahinscheide, will ich mich lieber dem Ratschluss von Lukian fügen und diese Dinge als ungewiss beiseite lassen und einzig der Poesie Gewissheit zuschreiben. Das hat der eingangs berufene Nietzsche nicht wirklich anders gemacht, als er Homer zu den mythischen Künstlern des Altertums wie Orpheus oder Dädalus zählte, von dem jener „wunderbarste Genius, dem wir Ilias und Odyssee verdanken“, zu scheiden sei.

Dieser Selbstbescheidung befleißigt sich auch die derzeitige Homerausstellung im Baseler Antikenmuseum, doch davon zu geeigneter Zeit mehr. Am Eingang der Ausstellung liegt indes ein Flugblatt aus, in dem die Thesen Schrotts doch sehr pauschal zurück gewiesen werden. Gegen Karatepe als Vorbild von Homers Troia entgegnet die Ausstellungsleitung etwa, dass Karatepe über 50 km vom Meer entfernt liege, da wäre der Weg von den griechischen Schiffen zum Schlachtplatz dann doch zu weit gewesen. Die Wahrheit ist: zwischen der griechischen Armada und Troia liegen nur einige Verse einer Erzählung – und das wird für einen Homer unter keinen Umständen zu weit gewesen sein.

Raoul Schrott: Homers Heimat. Der Kampf um Troia und seine realen Hintergründe. München: Carl Hanser Verlag, 2008. 431 S.