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Henri Barbusse, Das Feuer (1916) – Der Erste Weltkrieg in der Literatur

Der Selbstmord der Armeen

Henri Barbusse’ Roman „Le Feu“ gilt als erste unverklärte und schonungs­lose Darstellung des Elends in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs und ist prägend für die nachfolgende antimilitaristische Kriegsliteratur.

Französischer Infanterie-Angriff auf eine deutsche Grabenstellung Nordfrankreich, Sommer 1917. Bundesarchiv, Bild 102-03373A. Lizenz: CC-BY-SA. Quelle: Wikimedia Commons
Französischer Infanterie-Angriff auf eine deutsche Grabenstellung Nordfrankreich, Sommer 1917. Bundesarchiv, Bild 102-03373A. Lizenz: CC-BY-SA. Quelle: Wikimedia Commons.

Er war ein Bestseller und ein Aufreger: Der Episodenroman Le Feu – Journal d’une escouade (Das Feuer – Tagebuch einer Korporalschaft) erschien mitten im Krieg, 1916. Bis Ende des Krieges waren 250.000 Exemplare verkauft, das Buch mit dem wichtigsten französischen Literaturpreis, dem Prix Goncourt, ausgezeichnet, und hatte einigen Aufruhr und heftige Kritik von Seiten der chauvinistischen Presse, der rechtsextremen Action française und Teilen der katholischen Kirche ausgelöst: Verrat am Vaterland sei das Machwerk. Noch während des Krieges wurde es in mehrere Sprachen übersetzt, eine deutsche Übersetzung wurde in Auszügen bereits 1917 in den Weißen Blättern und vollständig 1918 in der Schweiz veröffentlicht.

Henri Barbusse. Foto: Manuel. Rechte: vorbehaltenHenri Barbusse. Foto: Manuel.Der Autor, Henri Barbusse, geboren 1873 in Asnière bei Paris, arbeitete vor dem Krieg zunächst als Pressereferent in der Pariser Ministerialbürokratie, dann als Kultur­journalist und Schriftsteller. Als er sich im Sommer 1914 freiwillig zum Kriegsdienst meldete gehörte er bereits zu den etablierten Schriftstellern Frank­reichs: eine vom Symbolismus geprägte Gedicht­sammlung (Pleureuses, 1898), zwei Romane (Les suppliants, 1903 und L’enfer, 1908) und eine Sammlung von Kurz­geschichten (Nous autres …, 1914) hatte er da veröffentlicht.

Als Franzose und Mensch

Der freiwillige Infanterist Barbusse ist Anfang 40, kein junger Bengel mehr, der kriegslüstern auf Heldentaten sinnt. Und sein bisheriges Werk lässt keinen Zweifel an seiner antimilitaristischen und antinationalistischen Haltung. In einem Brief an den Herausgeber der l’Humanité begründet er Anfang August 1914 seinen Schritt. Er wolle zu den „sozialistischen Antimilitaristen“ gezählt werden:

Dieser Krieg ist ein sozialer Krieg [guerre sociale], und er wird ein großer Schritt auf unserem Weg sein – vielleicht der endgültige Schritt. Er ist gerichtet gegen unsere alten, nichtswürdigen Feinde: gegen den Militarismus und Imperialismus, den Säbel, den Stiefel und ich füge hinzu: gegen die Krone. Unser Sieg wird die Vernichtung des Hauptnests der Kaiser, des Kronprinzen, der Feudalherren und der Landsknechte bedeuten, die ein Volk eingekerkert haben und die anderen Völker einkerkern wollen. Die Welt kann sich nicht befreien, wenn sie sich nicht von diesen Feinden befreit. Wenn ich mein Leben zum Opfer bringe und wenn ich mit Freude in den Krieg ziehe, dann nicht nur als Franzose, sondern vor allem als Mensch.

Es fällt dem Nachgeborenen nicht leicht, die dialektische Gelenkigkeit nach­zuvollziehen, die es braucht, einen Krieg der französischen Kolonialmacht im Bündnis mit dem zaristischen Russland und dem British Empire zur anti­militaristischen und antiimperialistischen Tat umzudeuten. Das Deutungsmuster war seinerzeit in der westeuropäischen Linken aber durchaus verbreitet.

Écrivains combattants und trench credibility

Henri Barbusse, zunächst einem Landsturmregiment zugeteilt, kämpft dann vom Dezember 1914 bis Anfang 1916 an der Front im Norden Frankreichs. Wegen einer Verwundung aus den Schützengräben abgezogen, stellt er im Krankenhaus Le Feu fertig. Im August 1916 wird er ehrenvoll aus dem Kriegsdienst entlassen.

Dieser biographische Hintergrund ist nicht unwesentlich für die Wirkungsgeschichte des Romans. Im Verlauf des Krieges verlangt die französische Leserschaft nach vermeintlich authentischer, den Krieg unverfälscht darstellender Literatur, gegen die heroisierenden und idealisierenden Kriegsromane, mit denen die Dichter von der Heimatfront das große Gemetzel zu legitimieren suchen. Zugleich sucht man nach Augenzeugenberichten [témoignage] aus der Perspektive der „poilus“, der einfachen Soldaten, gegen die abstrakte Kriegsdarstellung der offiziellen Verlautbarungen von Politik und Militär1. Diese Authentizität wird nur den „écrivains combattants“ zugetraut, den Schriftstellern mit Fronterfahrung, deren trench credibility die Wahrhaftigkeit ihrer Literatur zu beglaubigen schienen.

Les gros mots

Barbusse’ Roman bedient dieses Bedürfnis nach Authentizität nicht nur durch die seinerzeit im Klappentext angeführte Fronterfahrung des Autors oder durch den Untertitel seines Romans, der ein Journal, ein Tagebuch, verspricht. Im 13. Kapitel (Les gros mots) lässt er den Erzähler von einem Kameraden ansprechen:

Barque sieht mich schreiben. Er kommt zu mir auf allen vieren, quer über das Stroh [….].
– Sag mal, du schreibst doch, du wirst später über die Soldaten schreiben, von uns erzählen, oder?
– Aber ja, Junge, ich werde von dir erzählen, von den Kameraden und von unserem Dasein. [….]
– Sag mal, […] wenn du dann die Soldaten in deinem Buch reden lässt, lässt’se dann auch reden wie sie reden oder machst du das zurecht, auf die schöne? Wegen der Schimpfwörter, die man hier sagt. [….]
– Ich werde den Schimpfwörtern ihren Platz geben, Alter, weil das die Wahrheit ist.

Vielleicht die Hälfte des Romans besteht aus den Dialogen der Frontsoldaten in naturalistisch gestalteter, direkter Rede: Klagen über schlechte Ausrüstung und Verpflegung, Spott über die Propagandameldungen der Zeitungen, Wutreden auf Etappenhelden und Offiziere, die Müdigkeit, Verzweiflung, der Fatalismus und Erzählungen von Daheim, vom Fronturlaub.

Barbusse erzählt gänzlich ohne Heroisierung und Glorifizierung, präzise und schonungslos vom Elend des Stellungskrieges, von den Gewaltmärschen, vom Kampf mit der Kälte, der Hitze, dem Schlamm, den Wassereinbrüchen in den Gräben, den Läusen, dem Gestank der Latrinen und verwesenden Leichen, dem Warten, der Langeweile und dem ebenso brutalen wie zufälligen Tod. Aber auch vom vergleichsweise idyllischen Leben im Quartier sowie der Solidarität unter den Soldaten der Korporalschaft, dieser „Familie ohne Verwandtschaft“.

Und Barbusse setzt dabei die Themen und Motive, die im verständigen Teil der Kriegsliteratur der Folgejahre aufgegriffen werden, neben der Grausamkeit der Schlächterei u.a. die Unmöglichkeit, die Kriegserfahrung mitzuteilen, das Unverständnis an der Heimatfront und das Misstrauen gegen sie, die Vernichtung der Landschaft durch die Materialschlachten des Stellungskriegs, die Desertion.

Die Kameraden, von denen er berichtet, sind keine soldatischen Helden:

Es sind keine Soldaten, es sind Menschen. Es sind keine Abenteurer, keine Krieger, die zur Menschenschlächterei als Schlächter oder Schlachtvieh geboren sind. Es sind Ackersleute und Arbeiter, die man unter den Uniformen erkennt. Es sind entwurzelte Bürgersleute. Nun stehn sie bereit und warten auf das Zeichen des Todes und des Mordens; aber, wenn man durch die senkrechten Blitze der Bajonette ihre Gesichter betrachtet, sieht man, dass es einfach Menschen sind.

Poterloos Höllenfahrt

Das kompositorische Zentrum bildet das 12. der insgesamt 24 Kapitel, Le Portique, eine Art Höllenfahrt in die vom Krieg vernichtete Landschaft. Der Erzähler begleitet den Soldaten Poterloo in dessen Geburtsort Souchez, ein Dorf knapp hinter der vordersten Frontlinie. Neben der Straße warten die verstümmelten und halbverwesten Leichen auf den Abtransport:

Wir treten leise an sie heran. Sie liegen dicht aneinander; ein jeder zeigt noch, mit den Beinen oder den Armen, die eigentümliche Gebärde seines erstarrten Todeskampfes. Manche haben halbverweste Gesichter, brandige, gelbe Haut mit schwarzen Punkten. Mehrere haben ein vollständig verkohltes, teeriges Gesicht, geschwollene und ungeheure Lippen. Aufgedunsene Negergesichter. Zwischen zwei Leichen hervor starrt, diesem oder jenem angehörend, ein durchhackter Handknöchel, an dem ein Faserknäuel hängt.

Andere wieder sind nur noch unförmige, beschmutzte Larven, aus denen unerkennbares Rüstzeug oder Knochenfetzen ragen. Etwas weiter weg liegt ein so schrecklich zugerichteter Leichnam, dass man ihn an zwei Pfählen in ein Drahtnetz legen musste, um ihn unterwegs, beim tragen, nicht zu verlieren. So haben sie ihn, wie einen Ballen, in der metallenen Hängematte herüber getragen und hier niedergelegt; dran ist kein Unten und kein Oben mehr zu unterscheiden; aus dem unförmigen Haufen ist nur eine klaffende Hosentasche erkennbar, aus der ein Insekt heraus kriecht und wieder hinein schlüpft.

Um die Toten flattern Briefe, die aus ihren Kleidern oder ihren Patronentaschen geflogen sind, als man den Leichnam niederlegte. Auf einem dieser schneeweißen Papierfetzen, die im Wind umher flattern und die der Kot beschmiert, lese ich, leise darüber geneigt, diesen Satz: „Lieber Henri, wie schön das Wetter zu deinem Geburtstage ist! …“ Der Soldat liegt auf dem Bauch; von einer Hüfte zur andern klafft eine tiefe Furche; sein Kopf liegt halb nach hinten gedreht; man sieht ein hohles Auge und auf der Schläfe, auf der Backe und dem Hals ist sowas wie grünes Moos gewachsen.

Eine eklige Luft kriecht mit dem Wind um die Toten und die Schutthaufen: Zelttücher oder Kleiderfetzen verdreckten Stoffes, durch das trockene Blut steif geworden oder durch Geschossbrand verkohlt, hart, erdig und schon verfault; darauf krabbelt und wühlt eine lebende Schicht. Man hält den Geruch kaum aus. Wir schauen uns kopfnickend an und wagen es nicht, laut zuzugestehn, dass es hier übel riecht. Und doch entfernen wir uns nur langsamen Schrittes.

Das Dorf selbst ist von den schweren Waffen vollständig vernichtet:

Das Dorf steht nicht mehr. Nie hab ich ein derartig verschwundenes Dorf gesehn. Allain-Saint-Nazaire und Carency haben noch den äußeren Anschein einer Ortschaft gewahrt, mit ihren eingefallenen und abgebrochnen Häusern, ihren mit Kalk und Ziegeln verschütteten Höfen. Hier dagegen hat alles jegliche Form verloren; übrig blieb nur noch der Rahmen niedergerissener Bäume, der uns mitten im Nebel, mitten in einer Scheinumgebung umgibt. Nicht eine Wand, kein Gitter, kein Tor ist stehen geblieben; überrascht bemerkt man ein Pflaster im Durcheinander von Balken, Steinen und Eisen; hier also war eine Straße!

Alles das sieht aus wie verworrenes, schmutziges und sumpfiges Vorstadtgelände, auf das die Stadt jahrelang, ohne ein leeres Plätzchen zu schonen, ihren Schutt, ihre Abfälle, ihr morsches Baumaterial und ihr altes Geschirr regelmäßig abgelagert hätte: es ist eine gleichmäßige Schutt- und Abfallschicht, in der man einsinkt und langsam und mühevoll vorwärts kommt. Die Beschießung hat die Dinge so sehr entstellt, dass sie den Lauf des Mühlenbaches abgelenkt hat; dieser bildet, dem Zufall anheim gelassen, auf dem übrigen Stück des kleinen Platzes, wo ein Kreuz stand, einen Teich.

Hie und da ein paar Granatenlöcher, in denen verzerrte und aufgeblähte Pferde faulen; in anderen Löchern liegen die Überreste dessen, was ein menschliches Wesen war und durch die entsetzliche Wunde der Granate entstellt wurde.

Das Kapitel endet mit dem Tod Paterloos:

Plötzlich kracht über uns eine fürchterliche Explosion. Ich zittere bis an die Kopfhaut; ein metallischer Widerhall dröhnt mir den Kopf voll, und ein brennender Schwefelgeruch dringt mir zum Ersticken in die Nasenlöcher ein. Die Erde hat sich vor mir aufgetan. Ich fühle wie’s mich in die Höhe und auf die Seite haut, erstickend, vom Blitz und vom Donner geblendet. Ich erinnere mich, dass ich eine Sekunde lang instinktiv wie zerschlagen und starren Blickes nach meinem Waffenbruder suchte. In diesem Augenblick aber hab ich gesehen, wie sein Körper in die Höhe fuhr, aufrecht, schwarz, die beiden Arme ausgestreckt, soweit sie konnten, und eine Flamme loderte an der Stelle des Kopfes!

Vorspiel auf dem Zauberberg, Endspiel in der Hölle

Bleibt die Erzählperspektive ansonsten stets gebunden an den Erfahrungs- und Wissenshorizont des Frontsoldaten, weichen das erste und letzte Kapitel von diesem Prinzip ab. Das erste Kapitel, La Vision, imaginiert gegen die malerische Kulisse des Mont-Blanc-Massivs die Schreckensvision des Krieges. Die Lungenkranken eines Luxussanatoriums reagieren auf die längst erwartete Nachricht von der Kriegs­erklärung mit Bestürzung, „denn man ahnt das Grenzenlose ihrer Tragweite“, den Untergang der „alten Welt“:

Jene denkenden und gebildeten Leute, die, durch ihr Leiden vertieft, sich von den Dingen und vom Leben fast losgesagt haben und der übrigen Welt fern stehen, als seien sie schon ein Stück Nachwelt, – sie schauen vor sich ins Weite nach jenem Reich der Lebenden und der Wahnsinnigen hin, die sie nicht mehr verstehen.

Die Weltentrücktheit der Tuberkulosekranken ermöglicht eine – allerdings asymmetrische – Übernationalität. „Zwei Armeen, die sich bekämpfen, sind eine große Armee, die Selbstmord begeht“, sagen sie, und:

– Das ist ein Verbrechen, das Österreich begeht, sagt der Österreicher.
– Frankreich muss siegreich sein, sagt der Engländer.
– Ich hoffe, dass Deutschland besiegt wird, sagt der Deutsche.

Der Romanist Leo Spitzer konnte sich 1918 diese Asymmetrie nur als Maßnahme erklären, mit der Barbusse die Zensur überlisten wolle2. Sie steht aber vielmehr im Einklang mit Barbusse’ kurzer Erklärung gegenüber der l’Humanité zu Kriegsbeginn.

Die Vision und ihre antimilitaristische (nicht pazifistische) Konsequenz wird im Schlusskapitel des Romans (L’Aube) wieder aufgenommen. Nach einem Wolkenbruch sind die Schützengräben unterspült, ein Großteil der Soldaten auf beiden Seiten der Frontlinie sind verschüttet oder ertrunken. Die Überlebenden liegen entkräftet im Schlamm, sind ähnlich schon der Welt entrückt wie jene Lungenkranken des Eingangskapitels. Ein Chor der Geschundenen hebt an:

– Es wird keinen Krieg mehr geben, schimpft ein Soldat, wenn’s kein Deutschland mehr gibt. [….]
– Deutschland und der Militarismus, stottert schnell die Wut eines andern, das ist dasselbe. Sie haben den Krieg mit Vorbedacht gewollt. Sie sind der Militarismus. [….]
– Der Krieg muss getötet werden, sagt der erste, der Krieg muss in Deutschlands Bauch getötet werden!

Neben dieser nationalen Zuschreibung des Militarismus steht die übernationale, sozialrevolutionäre Perspektive

– Die Völker kämpfen heute, um sich frei zu machen von den Herren, die sie führen. Dieser Krieg ist, wie die Fortsetzung der französischen Revolution. [….]
– Die Völker müssten sich verständigen durch die Haut derer und auf dem Bauch jener, die sie auf die eine oder die andere Art ausbeuten. Alle Massen sollten sich verständigen. [….]
– Und das wird man sich fragen, sagte der eine: „Weshalb schließlich wird Krieg geführt?“ Weshalb, man weiß es nicht; aber für wen er geführt wird, das kann man sagen. Schließlich wird man notgedrungen erkennen, daß, nachdem alle Nationen dem Kriegsgötzen die frischen Leiber von fünfzehnhundert jungen Männern täglich als Schlachtopfer bringen, es nur im Interesse einiger Führer geschieht, die man an den Fingern abzählen kann; dass sich ganze Völker herdenweise zur Schlachtbank führen lassen, damit eine goldbetresste Kaste ihre Prinzennamen ins Buch der Geschichte schreiben kann, und damit die anderen, ebenfalls goldgeschmückten Leute, die zur selben Gesellschaft gehören, mehr Geschäfte machen können – aus persönlichen Rücksichten und im Interesse einzelner Krämer also. – Und den sehenden Augen wird es klar werden, dass die Trennung, die zwischen den Menschen besteht, nicht diejenige ist, die man annimmt, und daß jene, an die man bisher glaubte, gar nicht besteht. [….]

Es bleibt dem Erzähler überlassen, das in – zugegeben – pathetischer Rede zu konkretisieren:

Jawohl! Recht habt ihr, ihr arme, zahllose Handwerker des Krieges, ihr, die ihr den ganzen, großen Krieg mit euern eignen Händen vollbracht haben werdet, du Allmacht, die der Erfüllung des Guten noch nicht dient, du irdischer Haufe, darunter jedes Antlitz eine Welt voll Schmerzen ist, ihr, die ihr unter dem Himmel, wo lange Wolken zerreißen und wie böse Engel sich wirr entfalten, träumt gebeugt unter dem Joch eines Gedankens! – Ja, ihr habt recht. Alles das ist gegen euch. Alles das ist gegen euch, gegen euer großes, allgemeines Interesse, das in der Tat eins ist mit der Gerechtigkeit, – und nicht nur die Säbelrassler, die Hamsterer und die, die im Trüben fischen, sind eure Feinde.

Es hat nicht nur die verruchten Anteilhaber, die Geldleute, die großen und kleinen Geschäftemacher, die eingepanzert in ihren Banken und in ihren Häusern vom Kriege leben und während des Krieges in Frieden davon leben, mit ihrer versteckten Doktrin, die ihre Stirnen vernagelt, mit ihren Gesichtern, die wie ein Geldschrank verschlossen sind.

Es hat solche, die die Blitze der gekreuzten Klingen bewundern, und wie die Frauen von dem bunten Tuch der Uniformen träumen und schreien. Solche, die sich berauschen an der Militärmusik oder an Liedern, die man dem Volk einschenkt wie Schnaps, die Geblendeten, die Schwachen an Geist, die Fetischisten, die Wilden.

Die, die von der Vergangenheit leben und deren Wort im Munde führen, die Traditionellen, für die eine Vergewaltigung Gesetzeskraft hat, weil sie von jeher besteht; die, die sich von den Taten regieren lassen und die Zukunft und den leidenschaftlichen, bebenden Fortschritt den Geistern der Verstorbenen und den Ammenmärchen unterwerfen.

Zu ihnen gehören alle Priester, die euch aufreizen und mit dem Morphium ihres Paradieses einlullen möchten, damit alles beim Alten bleibe. Dazu die Advokaten – Nationalökonomen, Historiker und weiß ich noch was alles! – die euch mit theoretischen Phrasen verwirren, die den Kampf der nationalen Rassen unter sich proklamieren, wobei doch die geographische Einheit der modernen Nationen nur willkürlich durch die abstrakten Linien ihrer Grenzen bestimmt ist, und aus künstlich zusammengewürfelten Rassen besteht; und die zweifelhaften Genealogen, die der Eroberungssucht und der Raubgier falsche, philosophische Atteste und erfundene Adelsbriefe ausstellen. Die Gelehrten sind vielfach in einer Hinsicht Unwissende, die die Einfachheit der Dinge aus dem Auge verlieren und sie auswischen und durch Formeln und Einzelheiten verdunkeln. In den Büchern lernt man die kleinen Dinge, nicht die großen.

Und wenn sie auch sagen, dass sie den Krieg nicht wollen, so machen sie doch alles, um ihn am Leben zu erhalten. Sie nähren die nationale Eitelkeit und die Vorliebe für das Machtprinzip. „Wir allein, schreit ein jeder hinter seinem Gitter, wir allein haben den Mut, die Ehrlichkeit, das Talent und den guten Geschmack für uns gepachtet!“ Unter ihnen wird die Größe und der Reichtum eines Landes zu einer gefräßigen Krankheit. Aus der Vaterlandsliebe, die wohl recht und gut ist, solange sie die Grenzen des Gefühlsmäßigen und Künstlerischen nicht überschreitet, genau wie der ebenso heilige Familiensinn und die Vorliebe für die Provinz, aus all dem machen sie einen utopistischen und unmöglichen Begriff, der das Gleichgewicht der Welt stört, eine Art Krebsschaden, der alle Lebenskräfte aufsaugt, alles für sich in Anspruch nimmt und das Leben würgt und schließlich durch Ansteckung den Krieg heraufbeschwört, oder einen gewappneten Frieden, der zur Erschöpfung und zur Lähmung führt.

Sie fälschen die anbetungswürdige Moral: Wie viele Verbrechen haben sie mit einem Wort zu Tugenden gemacht, indem sie sie nationale nannten! Selbst die Wahrheit gestalten sie um. An Stelle der ewigen Wahrheit setzt ein jeder seine nationale Wahrheit. Soviel Völker, soviel Wahrheiten, die einander nicht gelten lassen und die Wahrheit fälschen und sie verzerren.

Alle die Leute, die jene kindischen, ekelhaft lächerlichen Reden führen und die sich über eure Köpfe hinweg herum zanken: „Ich hab nicht angefangen, du hast angefangen! – Nein, ich bin’s nicht gewesen, du warst es! – Fang doch du an! Nein, fang du an!“ Alle diese Kindereien, die die ungeheure Weltwunde offen halten; denn nicht die eigentlichen Beteiligten haben das Wort, im Gegenteil; somit fehlt aber auch der rechte Wille, der Geschichte ein Ende zu machen; alle die Leute, die auf Erden keinen Frieden machen können oder wollen; alle die Leute, die sich aus dem einen oder andern Grund an die frühere Weltordnung anklammern, sie begründen und zu ihren Gunsten Beweise erfinden, diese Leute sind eure Feinde!

Sie sind eure Feinde wie heute die deutschen Soldaten, die hier bei euch liegen, eure Feinde und nur arme Leute sind, die man schnöde betrogen und abgestumpft hat, und die zu zahmen Tieren geworden sind … Jene sind eure Feinde, wo sie auch geboren sind, ganz gleich, wie man ihren Namen ausspricht, ganz gleich, in welcher Sprache sie lügen. Schaut sie euch an im Himmel und auf Erden. Schaut sie euch überall an! Und merkt sie euch ein für allemal, damit ihr sie nie wieder vergesst!

Nach dem Krieg ist vor dem Krieg

Noch während des Krieges gründet Barbusse zusammen mit anderen Front­kämpfern den sozialistisch, antimilitaristisch und internationalistisch ausgerichteten Veteranenverband Association Républicaine des Anciens Combattants. 1923 tritt er der Kommunistischen Partei Frankreichs bei, engagiert sich Anfang der 30er Jahre in der antifaschistischen und Antikriegsbewegung, ist Vorsitzender des Comité mondial contre la guerre et le fascisme. Er unternimmt mehrere Reisen in die Sowjetunion, veröffentlicht 1935 eine Biographie Stalins. Im gleichen Jahr stirbt er in Moskau, an einer Lungenentzündung heißt es, wer weiß, im Moskau des Jahres 1935 starben Kommunisten meist nicht eines natürlichen Todes. Begraben liegt er auf Père Lachaise in Paris. An der Totenfeier sollen eine halbe Million Menschen teilgenommen haben, sagt man.

Le Feu gibt es im französischen Original auf Wikisource, die deutsche Übersetzung beim Projekt Gutenberg.

2 Leo Spitzer: Glossen zu „Le Feu“. In: Internationale Rundschau, 1918, S. 409. Wiederabdruck in: Studien zu Henri Barbusse. Bonn: (Friedrich Cohen), 1920, S. 48ff.