Andreas Latzko
Sieben Tage
Roman

Erstausgabe:
Krystall-Verlag, Wien-Leipzig, 1931


Neuausgabe:
Herausgegeben
und mit einem Nachwort versehen von
Jens von Fintel

Köln, 2014
veröffentlicht auf der
Rheinischen Kulturraumverdichtung
www.kulturraumverdichtung.de




[Einband der Originalausgabe, Entwurf: Robert Haas]


Dem Andenken meines Sohnes
Paul Latzko,
tödlich verunglückt in seinem
22. Lebensjahre

[Widmung der Originalausgabe]


Erstes Buch:
Das Geld

I.

Die ersten Schatten des Weihnachtsabends fielen in das verrauchte Grau der Bahnhofshalle, als der längst fällige Hamburger Schnellzug endlich in Berlin einfuhr. Er schüttete eine ungewöhnlich dichte Masse von Reisenden auf den Bahnsteig, Kaufleute, die in letzter Stunde vor dem Fest ihren Familien zustrebten, und einige hundert Urlauber der Marine, die zum Anhalter Bahnhof hinüber mußten und, in Sorge um den gefährdeten Anschluß, rücksichtslos durch das Gedränge ruderten. Baron Mangien ließ die Menge an sich vorbeihasten, belustigt von dem übermütigen Treiben der Matrosen, das so angenehm von der irritierenden Biederkeit der zahlreichen Familienväter abstach. Er vertrug den selbstverliehenen Glorienschein, das Sichwichtignehmen dieser Brotverdiener nicht.

Im Grunde aber wußte er sehr wohl, warum ihm diese armen Teufel so arg auf die Nerven gingen. Sie erinnerten ihn an die Szene bei seiner Abreise, an den einzigen vorwurfsvollen Satz, den sich seine Frau, ganz gegen ihre Gewohnheit, diesmal hatte entreißen lassen. Natürlich war sie im Recht. Ohne Zweifel verbrachte jeder Durchschnittsmann den Heiligen Abend im Kreise seiner Familie. Aber wie töricht war es, hieraus die Folgerung abzuleiten, der Generaldirektor und Hauptaktionär der Mangien-Werke müßte sich erst recht freimachen können. Lag es nicht im Gegenteil auf der Hand, daß die erhöhte Verantwortlichkeit Beschränkungen notwendig machte? Man konnte nicht einer Fabrik vorstehen, die viertausend Arbeiter beschäftigte, und das Familienglück eines Wirkwarenreisenden beanspruchen!

Der peinliche Augenblick des Abschiednehmens, da er wie ein verlogener Schuljunge vor seiner Frau gestanden, hatte einen bitteren Nachgeschmack zurückgelassen. Um ihn loszuwerden, redete der Baron sich ein, er sei nur aus Trotz abgereist. Ein einziges, zärtliches Wort hätte genügt, ihn zum Bleiben zu bewegen. Er ertappte sich bei diesem Selbstbetrug, als er auf den glitschigen, nebelfeuchten Platz vor dem Bahnhof hinaustrat und die Berliner Lichtreklamen in die Dämmerung rieseln sah. Beim ersten Schritt in das Häusermeer fielen alle Bedenken und Verstimmungen von ihm ab. Er dachte an das leidenschaftliche Drängen seiner Geliebten am Telephon – warum hätte er die Flehende, die sich mit Worten schon die Kleider vom Leibe riß, abweisen sollen seiner Frau zuliebe, die es unter ihrer Würde fand, den Kampf aufzunehmen um ihren Mann. Nach bald zwölfjähriger Ehe tat es zwölffach wohl, noch immer umworben und begehrt zu werden.

Eben wollte er ungeduldig die Nummer seines Gepäckträgers rufen, da sah er ihn auch schon heranhumpeln, schwer beladen, schäumend gegen die „Blauen Jungens“, die keinen Menschen an ein Auto heranließen. In der Tat jagte eben das letzte Taxi, johlende Matrosen auf dem Trittbrett und selbst auf dem Gepäcksgitter hinten, mit Vollgas davon, und der Baron mußte froh sein, daß er gerade noch eine elende Pferdedroschke für sich requirieren konnte.

Als der vorsintflutliche Karren klappernd losfuhr, vergaß Mangien Zorn und Ungeduld und bedauerte nur, daß kein Zeitungsphotograph bei der Hand war, den Berliner Einzug des größten Automobilfabrikanten Deutschlands in einer Pferdedroschke zu verewigen. Aber diese humoristische Seite hörte bald auf, ihn zu unterhalten, da kein vorbeiflitzender Chauffeur auf sein Winken und Rufen achtete und das Abströmen der Menge aus dem Stadtzentrum die Schneckenfahrt an jeder Straßenkreuzung stoppte. Wie ein unerschöpfliches Reservoir entleerte sich das Geschäftsviertel, beutebepackt stürmten die Horden der Plünderer aus der lodernden Stadt.

Im offenen Wagen, den rußigen, feuchtwehenden Nebel auf den Lippen, umtobt und überholt von allen Seiten, verlor der Baron den letzten Rest seiner Geduld, als in dem Hexenkessel vor dem Brandenburger Tor sein Wagen wie ein ängstlicher Fußgänger steckenblieb und der alte Kutscher zweimal die Gelegenheit zum überqueren versäumte.

Mehr noch als der Zeitverlust ärgerte ihn jedoch seine eigene Gereiztheit. Er mußte an sich halten, um nicht aus dem Wagen zu springen, so laut donnerte ihm aus dem betäubenden Lärm der zehntausendfach widerhallende Vorwurf seiner Frau in die Ohren. Jeder einzelne Menschentropfen in dem vorbeijagenden Strom hatte das gleiche Ziel, jeder eilte heim, nur er saß abseits in der altmodischen Droschke, herausgehoben, angeprangert sozusagen als der eine, der von Frau und Kindern fort zu der Geliebten fuhr.

Sein Zorn machte sich in lautem Unmut Luft und wäre vielleicht in Tätlichkeiten gegen den Kutscher ausgeartet, ohne den weißen Handschuh des Verkehrsschutzmannes, der eben zum drittenmal die Durchfahrt freigab. Ob nun der alte Mann auf dem Bock seine beleidigte Berufsehre herstellen oder nur seine Wut an dem wehrlosen Tier auslassen wollte: das arme Pferd, unsanft aus seinem knieweichen Dösen gerissen, glitschte aus und stürzte auf die Deichsel, die zerbrach.

Nach der Bummelei auf der Bahn auch noch ein Unfall! Das konnte alles verderben, wenn den Herren im Hotel das Warten zu lange wurde! Die angeblich wichtige Konferenz hatte den Vorwand für die Reise geboten, das Alibi durfte nicht versäumt werden. Statt erst lange nach einem Fahrzeug zu fahnden, ersuchte der Baron einen ärmlich gekleideten Mann, ihm das Gepäck zum nahen Hotel zu tragen.

Aber der Mann gebärdete sich wie ein Tollhäusler, sprang vor, um dem Baron aus nächster Nähe unter den Hut zu schauen, stieß mit dem Fuß nach den Handtaschen und schrie: „Ihnen – Ihnen soll ich helfen? Tragen Sie sich Ihren Dreck da selber!“

Mangien konnte sich nicht erinnern, dem Menschen jemals begegnet zu sein. Andere Hände griffen diensteifrig zu und das Gesicht des Wüterichs tauchte unter, ehe der Baron es genauer hätte prüfen können.

Ohne die Verspätung, die ihn zur Eile antrieb, wäre es ihm wohl kaum entgangen, daß sein unbekannter Feind gegenüber dem Hoteleingang hinter einer Litfaßsäule hervorspähte, verächtlich schmunzelnd über die Ehrfurchtsbezeugungen des herausstürzenden Personals. Wie eine Koppel losgelassener Hunde sprangen die livrierten Burschen an dem reichen Gast hoch, wetteifernd um die Gunst, seine Aktentasche tragen zu dürfen. Goldbetreßte Mützen flogen von den Köpfen, tiefe Bücklinge begleiteten den großen Mann in die taghell strahlende Halle. Erst als der Türsteher wieder allein war, wagte sich der Fremde aus seinem Versteck hervor, ging zögernd näher und ließ es sich bestätigen, daß der eben angekommene Gast der reiche Baron Mangien aus Hamburg gewesen.

„Hast vielleicht wat ausjefressen in seiner Fabrik?“ – erkundigte sich der Türsteher, neugierig wegen der finsteren Blicke und des gehässigen Tons, aber der sonderbare Kauz gab überhaupt keine Antwort, raste davon und blieb erst stehen, als die gestaute Menge an der nächsten Straßenecke ihn aufhielt. Es fehlte wenig, und er wäre noch einmal umgekehrt, sein Blick blieb haften an dem hohen Dach des Hotels. In Gedanken versunken, starrte er es unverwandt an, als könnte er durch Mauern und Wände jede Bewegung des verhaßten Gegners beobachten.

Karl Abt – so hieß der armselig gekleidete Mann mit den starken, verbrauchten Proletarierhänden – war ein fleißiger Besucher der Lichtspieltheater, ließ sich aber sein Geld nur aus der Tasche locken, wenn die ausgestellten Bilder elegante Damen und betörend gut gekleidete Lebemänner in den verschiedenen Aufmachungen ihres bewegten Nichtstuerdaseins zeigten. Wie es armen Leuten ging, brauchte er sich nicht auf der Leinwand vorführen zu lassen. Von Schmutz und Not, Vorstadtkneipen und Zinskasernen wußte er ohnehin mehr, als ihm lieb war.

Als Folge dieses gründlichen Studiums hatten sich in dem Gehirn des Fabrikmechanikers Karl Abt unverrückbar feste Vorstellungen von der Lebensführung des reichen Mannes eingenistet. Der Anblick einer elegant gekleideten Wachsfigur, ein seidener Schlafanzug im Schaufenster genügte, um den aus hundert Filmen geschnittenen und zusammengeklebten Bildstreifen, der als Illustration des Begriffes „Wohlleben“ in ihm bereit lag, augenblicklich vor seinem inneren Blick abrollen zu lassen.

So blitzte jetzt, von den hellgelben Reisetaschen Mangiens angekurbelt, der Film „Abreise des vornehmen Mannes“ an den gehässig funkelnden Augen vorbei. Ein glattrasierter Kammerdiener legte mehrere Anzüge mit seidenem Futter sorgsam in den Koffer. Dann übernahm der Chauffeur die Taschen aus knirschendem Schweinsleder ... Hier jedoch riß der Film jäh ab, verdrängt von der überraschenden Frage, was wohl den Freiherrn von Mangien, der in Hamburg Frau und Kinder und ein neuerbautes „fürstliches Heim“ besaß, nach Berlin führte – am Heiligen Abend?

War es überhaupt möglich, daß ein Mann, so reich und unabhängig, den Weihnachtsabend nicht im Familienkreise verlebte? Der Türsteher hätte lügen, sich einen Schabernack leisten können, aber das Bild? ... Das Bild in der illustrierten Zeitung?

Strich für Strich erweckte Abt die verdunkelte Erinnerung, bis das aufgefrischte Bild jeden Zweifel verjagte. Der schmunzelnde Herr, mit Frau und Kindern auf dem Rasenplatz vor seinem neuen Schloß photographiert, war bestimmt derselbe Mann, der soeben in dem vornehmsten Hotel Berlins abgestiegen war. Was hatte er aber hier zu suchen, während in Hamburg der Christbaum für seine Kinder angesteckt wurde? Lebte er am Ende nicht in gutem Einvernehmen mit seiner Frau? Das Familienbild in der Zeitung konnte gestellt sein. Auch eine Art Reklame.

So trostreich es für Abt gewesen wäre, den verhaßten Mann unglücklich zu wissen - er schüttelte doch gleich diesen Gedanken ab, weil er sich nicht feige mit Wahnbildern besänftigen wollte. Wen Erbitterung von daheim vertrieb, trug den Kopf nicht so hoch wie der Herr Baron, schritt nicht so eingenäht in seine Herrlichkeit an gewöhnlichen Sterblichen vorüber.

Was sonst aber konnte – – –

Geschäfte? – Unsinn! Dem ärmsten Mann war dieser Abend nicht feil.

Ohne recht zu wissen, warum, fühlte Abt sich bis in sein Innerstes aufgewühlt von der Frage. Wie ein Hund, der zitternd Wild wittert, stand er mitten im Menschengewühl, den Blick immer noch an den First des fernen Hotelpalastes gefesselt. Anfangs nur beiseite gestoßen, im Vorbeieilen angeschnauzt, erregte er allmählich Aufsehen. Der Menschenstrom begann sich zu kräuseln und lagerte eine Insel von Neugierigen um das Verkehrshindernis. Man wisperte und hielt ihn wohl für betrunken. Wer sonst pflanzte sich an der Ecke der Linden wie ein Wahrzeichen auf, verrußt und schmutzig, als hätte er es darauf abgesehen, Ärgernis zu erregen in dem festlichen Gedränge.

Mit kräftigen Stößen schaffte er sich Raum, ruderte mit Schultern und Ellenbogen rasch davon, ohne recht zu wissen, wohin. Was wollte er mit seiner Zeit beginnen? Die Einladung Doktor Landaus lautete erst auf halb acht, zum Rasieren und Umkleiden genügten zwanzig Minuten – früher als nötig in seine ungeheizte Bude zurückzukehren, drängte es ihn wahrhaftig nicht, aber die verwünschte Begegnung mit dem Baron hatte ihm das Bummeln gründlich verleidet. Er konnte nun keinen Schritt mehr tun, nirgends stehenbleiben oder hinschauen, ohne an den Herrn Baron erinnert zu werden, der alles, was in den zahllosen Schaufenstern geschichtet lag, kaufen konnte.

Nein, mit diesem Gedanken im Kopfe war es nicht möglich, ruhig durch die Straßen zu schlendern. Allein in einer Kneipe zu sitzen, war aber noch weniger verlockend, und selbst die Aussicht, den ganzen Abend mit Doktor Landau verbringen zu müssen, schreckte Abt nun so sehr, daß er am liebsten gleich telephonisch sich entschuldigt und unter irgendwelchem Vorwand abgesagt hätte, wäre es nicht eine unverzeihliche, ganz niederträchtige Undankbarkeit gewesen, seinen Wohltäter in letzter Stunde im Stiche zu lassen.

Ein Mann von der Bildung des Doktors hätte leicht bessere Unterhaltung finden können als die Gesellschaft eines verbrummten, unwissenden Fabrikarbeiters. Und nun sollte Abt ihn allein lassen?

Nein!

Entschlossen schnellte er in das Gedränge zurück und stieß so rücksichtslos um sich, als hätte es unter all den Eiligen kein anderer so eilig gehabt wie er. Nur fort, fort aus der Nähe der Versuchung! – An jeder Ecke überfiel ihn neu die Angst, er könnte doch noch umkehren und vor dem Hotel den Baron anpöbeln. Auf der Flucht vor sich selbst erreichte er durch finstere Nebengäßchen den Schlesischen Bahnhof und preßte sich in den ersten ostwärts fahrenden Stadtbahnzug.

Wie eine Kompresse kühlte die Schwärze vor dem Fenster des Abteils seine lichtmüden Augen. Er ruhte aus von Lärm und Eile und wäre auch eingenickt, hätte er nur die lästige, störrisch wiederkehrende Frage verscheuchen können:

„Warum hatte der Baron sein Haus verlassen? Warum verlebte er diesen Abend im Hotel?“

„Warum?“

II.

Der Baron hatte sich an den Herren vorbeistehlen müssen, die ihn längst in der Halle erwarteten; viel dringender als die angeblich wichtige Konferenz war ihm ein Telephongespräch mit Mimi. Er wollte hören, ob alles programmgemäß verlaufen, Gatte und Sohn richtig abgereist und alle Vorsichtsmaßnahmen getroffen waren.

Da fiel der Auftritt am Brandenburger Tor ihm ein. Wäre der Gedanke nicht so unsympathisch, beinahe widerwärtig gewesen, den Freund unter dem eigenen Dach, auf dem eigenen Lager zu betrügen - in der heiligen Christnacht noch dazu – hätte Mangien sich keinen Augenblick mit dem lächerlichen Problem beschäftigt, warum er auf die Sympathie eines unbekannten Proleten verzichten mußte. Auch so schüttelte er die Bedenken rasch ab – warum sollte er sich die Freude verderben, da ihn keine Verantwortung traf? Mimi selbst hatte die Zusammenkunft angeregt – auch die „wichtige Konferenz“ war ihr Einfall, und die Schuld trug allein Bodo. Warum hatte er seine Frau über Weihnachten allein gelassen? Sonst schleppte er sie auf alle Geschäftsreisen mit, hing so fest an ihren Röcken, daß sie ihm unter tausend Schwierigkeiten die Zeit für jedes hastige Schäferstündchen ablisten mußte, und gerade darum hatte sie sich mit solcher Vehemenz auf die unverhoffte Gelegenheit gestürzt, einmal ohne Angst vor dem Uhrzeiger zwei ganze Nächte „frei“ zu sein.

Auf dem Schreibtisch lag die Mitteilung der Hoteltelephonistin, es sei zweimal bereits, um siebzehn Uhr zwölf und um siebzehn Uhr sechsundzwanzig nach dem Herrn Baron gefragt worden. Das konnte nur Mimi sein. Sie rechnete nicht mit der Verspätung und zitterte schon, er könnte zuletzt doch nicht losgekommen und daheim geblieben sein.

Es bereitete dem Baron Vergnügen, sie noch ein wenig zappeln zu lassen, während er sich im Badezimmer die Hände wusch und, vom Hausdiener assistiert, rasch die Kleider wechselte. Er wußte nur zu gut, wie tief er hinabstieg, wenn er seine Frau mit dem „Luderchen“ hinterging, das die gute Mimi ohne alle Zweifel war.

Aber für zwei heimliche Liebesnächte taugte am besten ein „Luderchen“. Was konnte die arme Mimi letzten Endes dafür, daß ein unwandelbares Naturgesetz die froschblütigsten, langweiligsten Männer vom Schlage Bodo Brenkens gerade zu den temperamentvollsten, abwechslungsbedürftigsten „Luderchen“ hinzog? Eine solche Frau heiraten und dann auch noch allein in Berlin zurücklassen, der achtzigjährigen Mutter zuliebe, soviel Einfalt erforderte Sühne.

Das spöttische Schmunzeln Mangiens verschwand beim Eintritt des Boys, der im Auftrag der Herren Justizrat RilIa und Direktor Krüger ins Zimmer sprengte mit der Meldung: es sei gleich sechs, und aus Rücksicht auf den Heiligen Abend unmöglich, den Beginn der Konferenz noch länger hinauszuschieben.

Daß sie ihm nicht davonlaufen würden, auch nicht, wenn er sie bis sieben warten ließe, wußte der Baron genau. Es war durchaus nicht bloßer Zufall, daß er gerade diese beiden Namen aus der Liste seiner Aufsichtsräte herausgesucht hatte: die beiden, das stand unerschütterlich fest, konnte kein Christfest und kein Todesfall abhalten, wenn es ums Geldverdienen ging. Von den untersten sozialen Sprossen, mit Krallen und Zähnen, Bücklingen und Fußtritten emporgelangt, haßten sie jeden, der ohne Plage und Erniedrigung auf die Spitze der Leiter hinaufgeboren war. Ob höflich oder unhöflich, ob er sie warten ließ oder nicht, für diese beiden blieb er immer das verächtliche Vatersöhnchen. Warum sollte er ihnen nicht Zeit lassen, ihre Galle auszuspeien?

Auf der Fahrt von Hamburg nach Berlin hatte der Baron einen schlauen Kriegsplan ausgeheckt: er wollte seine Ankunft Mimi offiziell bekanntgeben, durch den Diener bei der Hausfrau anfragen lassen, ob er als Tischgast erwünscht sei. So gab er Mimi unauffällig Nachricht und baute allen Verdächtigungen vor – nur die verdammte Pferdedroschke hatte ihm einen Strich durch die Rechnung gemacht. Für den „Sprung“ in den Spielwarenladen war es zu spät geworden, als angesagter Gast mußte er Mimis Kinder unbedingt beschenken, er versuchte es mit einem telephonischen Auftrag, und sein Name übte die gewohnte Zauberkraft. Der Inhaber verpfändete dem Herrn Baron sein Wort, für rechtzeitige Zustellung zu sorgen, und wenn er selbst im Taxi mit den Waren in die Villa Brenken fahren müßte!

Der zweite Anruf fiel weniger glücklich aus, statt des Dieners kam gleich Mimi an den Apparat, und der Tonfall ihrer Begrüßung verriet, daß sie nicht allein im Zimmer war.

„Gib acht, was ich sage, Liebling!“ – instruierte sie der Baron. – „Ich frage dich jetzt, ob ich morgen bei euch zu Mittag essen darf – nachher sagst du mir, daß Bodo mit dem Jungen nach Brenkenburg gefahren ist und deine Kleine mit Fieber zu Bett liegt.“

Sie führte den Auftrag aus und rief unmittelbar anschließend, als wehrte sie sein Bedauern ab: „Es ist nicht so schlimm, wirklich nicht so schlimm, Baron! Ich gehe mit einem guten Buch zu Bett, den Leuten habe ich das Grammophon geborgt, die werden tanzen und genau so vergnügt sein, als wäre auch die Katze aus dem Hause.“

Mangien lächelte befriedigt. Küche und Dienerschaftsräume lagen im Souterrain, mit den Fenstern nach dem Garten; wurde auch noch getanzt und Musik gemacht, so konnte man vorne aus und ein gehen, wie man wollte – Mimi verstand sich darauf, alle Möglichkeiten zu nützen – der arme Bodo war ihr, weiß Gott, nicht gewachsen.

„Paß auf, Schatz!“ – rief er zwinkernd, als könnte sie seinen Gesichtsausdruck sehen – „ich werde jetzt die Stunden zählen, von Mitternacht zurück. Du rufe nur ,Ja‘, damit ich weiß, wann ich kommen soll. Also: Zwölf, elf, zehn – nun? Halb zehn? – Nein, hör mal! Noch früher wäre Leichtsinn! Gegen halb zehn also. Und den Schlüssel wie besprochen, nicht wahr?“

Ein Weilchen blieb er noch vor dem Apparat sitzen, dann griff er seufzend nach der Aktentasche und erteilte Auftrag, die Herren heraufzuführen.

Viel schlimmer, als der Baron vermuten konnte, war seine „Unverfrorenheit“, am Weihnachtsabend eine Besprechung anzusetzen, von den beiden Wartenden kritisiert worden. Besonders Direktor Krüger, Besitzer von Farbwerken, die mit großen Lieferungen an dem Unternehmen Mangiens interessiert waren, zappelte ruhelos zwischen den großen Lederstühlen der Halle umher und sparte nicht mit Kraftausdrücken. In regelmäßigen Zwischenräumen riß er seine goldene Uhr hervor, mit der Drohung, keine Sekunde länger zu warten. Justizrat Rilla zuckte nur die Achseln und lächelte sein saures, eiskaltes Lächeln.

„Gönnen Sie dem Mann doch sein Vergnügen! Welches Hochgefühl, andere antichambrieren zu lassen, wenn man von Vätern abstammt, die sich nächtelang auf dem Bock die Beine abfrieren mußten, während ihre Herren am Kartentisch saßen. Das welsche Kutscherblut meldet sich, voilà.“

„Kutscherblut? – Der Baron Mangien?“ – staunte aufstrahlend Direktor Krüger und hörte augenblicklich zu tänzeln auf. „Ist das richtig? – Von Kutschern?“

„Das wissen Sie nicht? Stammvater Mangin, ohne e, mit dem französischen Nasallaut gesprochen, ist auf dem Bock einer gräflichen Kutsche nach Hamburg gekommen, als die Aristokraten von drüben vor der Guillotine davonliefen. Genau wie unsere russischen Emigranten, hatte auch der Marquis oder Vicomte nur mit einem kleinen Ausflug gerechnet, mußte aber bald Pferde und Wagen an seinen eigenen Kutscher verkaufen. Für die Hanseaten war eine Fahrt in der goldstrotzenden, weich federnden französischen Karosse eine Sensation, das Geschäft florierte, und der schlaue Franzose verlegte sich auf das Fabrizieren ähnlicher Karossen, auf Halbpart mit einem Hamburger Wagenbauer, den er natürlich hinauswarf, als er ihn nicht mehr nötig hatte. Na und, was Konjunktur heißt, braucht Ihnen ja nicht erklärt zu werden. Fünfzehn Jahre lang hetzte Napoleon seine Offiziere und Minister durch Europa – man wohnte und schlief auf der Landstraße. Als der Wiener Kongreß endlich Ordnung geschaffen, reiste der alte Marquis auf Kosten seines Kutschers nach Frankreich, der Kutscher blieb in dem prächtigen Patrizierhaus, das er aus dem Zusammenbruch für sich herausgefischt hatte, und schrieb fortan seinen Namen mit dem deutschen ,ie‘. Mehr noch als sein Reichtum war die Nase wert, die alle Nachkommen von ihm erbten. Der Enkel warf sich auf Waggons und Lokomotiven, wie dann der Vater unseres jetzigen Herrn und Gebieters als erster in Deutschland die Zukunft des Motors gerochen hat. Zwischendurch bescherte der Waggonbedarf des Krieges Anno 70 den französischen Kutscherssöhnen das Freiherrnwappen, und wenn heute der Herr Vicomte oder Marquis von dazumal den Urenkel seines Leibkutschers sprechen wollte, müßte er auch hier unten antichambrieren – ganz wie wir.“

Mit gespitzten Lippen hatte Direktor Krüger die Geschichte der kompromittierenden Abstammung, wie ein ergötzendes Getränk, in sich eingeschlürft. tief beglückt von der Verheißung, den glühend beneideten Baron mit Anspielungen auf Peitschenschäfte und Postillonstiefel meucheln zu können. Er hätte vor Freude beinahe vergessen, sich weiter über das lange Warten aufzuregen, wäre nicht der große Zeiger der elektrischen Uhr immer höher gerückt.

„Sechs Uhr!“ – herrschte er wütend den Justizrat an – „wie lange wollen Sie denn eigentlich warten? Wir sind doch nicht seine Lakaien! Fahren wir einfach heim und fertig!“

Dr. Rilla wandte sich verächtlich ab, ohne die Aufforderung einer Antwort zu würdigen. Gerne hätte er sich den Spaß geleistet, auf den Vorschlag Krügers einzugehen, aber der gute Mann dachte ja nicht daran, einen so mächtigen Kommittenten wie Mangien wirklich vor den Kopf zu stoßen. Gewesener Korpsstudent mit dekorativ zersäbeltem Gesicht, hatte der Justizrat früh gelernt, daß alles bezahlt werden mußte; die Frage war nur, ob die Ware den Preis wert sei. Es tat ja auch nicht gerade wohl, von den einstigen Korpsbrüdern geschnitten zu werden, weil man die getaufte Tochter des allmächtigen Bankjuden Geheimrat Landau geheiratet hatte und mit dem berüchtigten Stänkerer und Ehrenproleten Dr. Heinrich Landau verschwägert war. Wer aber mit noch nicht vierzig Jahren Syndikus des größten Banken- und Industriekonzerns sein wollte, mußte diese Unannehmlichkeiten mit in Kauf nehmen.

Den Herrn Direktor brachte diese Gleichgültigkeit immer noch mehr aus dem Häuschen.

„Als Kutscherssohn könnte der Herr Baron wenigstens auf unsere Chauffeure Rücksicht nehmen! Meiner ist verheiratet, es ist nicht kollegial ...“

„Schicken Sie Ihren Wagen ruhig fort“, fiel der Justizrat ein, „mein Chauffeur bringt Sie nach Hause.“

„Wie denn das? Sie wohnen doch im Grunewald! Ich kann Ihnen nicht zumuten, jetzt noch ...“

Dr. Rilla winkte ungeduldig ab: „Ich muß ohnehin noch in die Stadt, zu meinem Schwager. Sie setzen mich nur am Gendarmenmarkt ab, das kostet Sie keine fünf Minuten, und mir ist es gleich, ob der Wagen mich unten erwartet oder eine Fahrt macht unterdessen.“

Direktor Krüger trat unentschlossen von einem Fuß auf den anderen, seine kleinen Äuglein tanzten neugierig über das steinerne Gesicht Rillas.

„Ihr Schwager? Ist das etwa der Bruder Ihrer Frau Gemahlin? Der Doktor Landau? Soll ein sonderbarer Heiliger sein. So ’ne Art Proletarierheiland. – Wie?“ Das von Schmissen geschmückte Gesicht Rillas blieb undurchdringlich. „Mehr sonderbar als heilig“, gab er trocken zur Antwort, nicht geneigt, der boshaften Klatschsucht Krügers mit näheren Einzelheiten zu dienen. Was aus den Zeitungen über die Reden und Taten Dr. Heinrich Landaus bekannt war, genügte vollauf.

Wie ein Foxterrier um einen Igel, tänzelte der dicke, kleine Direktor um die unantastbare Stachligkeit des Justizrates, redlich bemüht, mit taktlosen Anspielungen und geheucheltem Bedauern auf eine durchlässige Stelle in der Panzerung zu stoßen. Aber Rilla verleugnete den Schwager nicht, dieser Schandfleck war in dem Kaufpreis seiner Karriere mit inbegriffen. Der Bruder seiner Frau, Dr. Heinrich Landau, war ein Narr – er befreite Proletarierfrauen von unerwünschtem Kindersegen und hatte den geehrten Namen seines Vaters durch die Gerichtssaalrubrik aller Zeitungen geschleift – was weiter? Das alles war stadtbekannt, Herr Krüger durfte sich den Schnabel daran wetzen. Waldemar Rilla hielt still, wie auf dem Mensurboden, bis der Gegner, von der undurchsichtigen Höflichkeit verlockt, sich zu weit vorwagte:

„Ich finde es merkwürdig, daß Ihr Herr Schwiegervater den unbequemen Sohn nicht längst unschädlich gemacht hat. Nach der Brandrede im Gerichtssaal wäre es einem Manne mit seinen Verbindungen doch ein leichtes gewesen ...“

Wie ein guter Fechter im richtigen Moment die Parade durchschlägt, holte der Justizrat nun mit eisiger Ruhe zu einem wohlberechneten „Durchzieher“ aus: „Aber, ich bitte Sie“, rief er beinahe herzlich, „was können meinem Schwiegervater solche Torheiten anhaben? Jeder anständige Mensch zieht vor dem Namen Geheimrat Landaus den Hut. Nur schäbiger, gemeiner Neid wird das ungeheure Lebenswerk des Vaters über dem verrückten Treiben des Sohnes vergessen – statt umgekehrt.“

Eine Ohrfeige von solcher nicht alltäglicher Dosierung stillschweigend einzustecken, wäre selbst einem abgehärteten Kämpen wie Direktor Krüger nicht leicht geworden, hätte nicht, wie auf Stichwort, ein Boy die Meldung gebracht, der Herr Baron lasse bitten.


III.

Justizrat Rilla fand die Wohnungstür seines Schwagers unversperrt, ein Zeichen, daß die „Ordination“ noch nicht beendet war. Er hätte es unter Umständen zwar vorgezogen, auf dem kalten Flur zu warten, überzeugte sich aber, daß kein sogenannter Patient im Wartezimmer saß, und pendelte zwischen Türe und Fenster auf und ab, ängstlich besorgt, ja nicht die Stühle zu streifen, die als einzige Möbel ringsum an den Wänden standen. Es empfahl sich, mit den Klienten, die hierorts verkehrten, nicht einmal mittelbar in Berührung zu kommen.

Das Knarren des Fußbodens mußte auch im Ordinationszimmer hörbar sein, denn die Türe wurde plötzlich geöffnet und in dem schmalen Spalt erschien das blasse, magere Gesicht Dr. Landaus. Er spähte mit seinen kurzsichtigen Augen in den mangelhaft beleuchteten Raum und rief ohne Gruß: „Sind Sie’s, Abt? Nur fünf Minuten! Ich bin sofort fertig.“ Dann verschwand sein länglicher Kahlkopf hinter der zuschnappenden Tür.

Der Justizrat wiegte spöttisch den Kopf. Das war wieder einmal der unverfälschte Heinrich Landau! Sprach zu einem Menschen, der gar nicht im Zimmer war – wie er immer und überall seine Hirngespinste für die Wirklichkeit hielt und die Realität vornehm ignorierte. Diese widerspruchsvolle Existenz, dem erfolgreichen, zielsicheren Leben des Vaters als unwürdige Fortsetzung angehängt, erinnerte den Justizrat an die Theorie, die er einmal irgendwo gelesen hatte: das Judentum sei keine ernste Gefahr für den Gesellschaftskörper, weil es gegen seinen brutalen Raubtierhunger nach Geld zugleich das Antitoxin im Blute trage. Längstens die dritte, vierte Generation – so hieß es – schied erschöpft aus dem Kampf um Macht und Besitz, rasch gesättigt und wehleidig, zufrieden, in irgendeiner brotlosen Kunst friedlich das Leben zu verspielen.

Für den kuriosen Fall Dr. Heinrich Landaus lieferte aber auch diese gewagte Hypothese keine Erklärung, hielt er sich doch für stark genug, an der bestehenden Weltordnung zu rütteln. Alles, was er tat, entbehrte der Folgerichtigkeit – er selbst stand sich überall im Wege. Nicht aus philosophischer Genügsamkeit hauste er wie ein moderner Diogenes zwischen kahlen Wänden. Der einzige Sohn des reichen Bankpräsidenten Landau hatte nie genug Geld, seine bescheidensten Wünsche zu erfüllen, weil er draußen in den Elendsquartieren der Millionenstadt Tag für Tag auf Menschen mit dringenderen Bedürfnissen stieß.

Mit einem Fünkchen gesunden Menschenverstandes hätte er sich die fettesten Stellen verschaffen können, um von einem großen Einkommen ein Heer von Armenärzten sowie Gebärkliniken, Kinderkrippen, Tuberkulosenheime zu unterhalten. Statt so im großen Stile zu helfen, zog er es vor, seine schäbige Wohltätigkeitsgreißlerei notdürftig in Gang zu halten, immer in Geldverlegenheit, immer unterwegs und abgehetzt, nicht einmal befriedigt von den Resultaten seines lächerlichen Kampfes gegen die unerschöpfliche Not der Großstadt. Der Reichtum des Vaters galt ihm nicht für „redlich“ verdient, nur sein mütterliches Erbe, vor seiner Geburt auf ihm unbekannte Weise erworben, sollte ihn mit allen seinen Schmarotzern erhalten.

Für Justizrat Rilla bedeutete diese Prinzipientreue großen Gewinn, die Millionen, die sein Schwager ausschlug, flossen seiner Frau und seinen Kindern zu – ein ansehnlicher Profit, den des Schicksals Laune als Geschenk bescherte.

Nur eine Furcht trübte diese reine Freude: der Schwager konnte von heute auf morgen seine Ansichten ändern, plötzlich die entgegengesetzte Meinung vertreten, das „sündige“ Vermögen des Vaters müsse durch große Stiftungen in die Hände jener zurückgeleitet werden, die es auch wirklich „erarbeitet“ hatten. Wer würde dann solchem Unglück zu steuern vermögen?

Auf den alten Herrn, so stramm er ansonsten die Zügel noch in Händen hielt, war in dieser Frage kein Verlaß. Als Vater war er der richtige, sentimentale Jude, bereit zu jedem Opfer, wenn nur sein vielgeliebter Herr Sohn sich herbeiließ, zu ihm zurückzukehren. Ein aufrechter deutscher Vater hätte sein Haus mit der Hetzpeitsche verteidigt gegen den ungeratenen Erben, statt Vermittler zu suchen, die „heimlich“ trachten sollten, den verlorenen Sohn heimzubringen. Und gerade das heilige Christfest war als Rahmen gewählt worden für die sentimentale jüdische Familienszene! So zuwider Waldemar Rilla eine solche Gefühlsangelegenheit auch war, seine Frau hatte ihn doch leicht zu der Mission überreden können. Eine wirkliche Gefahr, der strenge Herr Sohn könnte sich erweichen lassen, drohte nicht. Ein Senegalneger und ein Eskimo lebten in weniger verschiedenen Atmosphären als der Herr Geheimrat und der Doktor Landau. Der Alte glitt in seinem Auto wie in einem Tauchboot durch die Stadt, von der Villa zur Bank und von der Bank zur Villa; die Menschenmassen, die er durchquerte, waren ihm nicht mehr als dem Perlenfischer das Meer, in das er mit angehaltenem Atem hinabstößt nach Beute. Wie sollte der Sohn, der das Geld verachtete und die Menschen liebte, in die Gletscherregion des Vaters zurückfinden? Ein derart risikofreies Unternehmen, das nur dem Schwiegerpapa eine Dankesschuld aufhalste, war durchaus nach dem Geschmacke RilIas. Forderungen an den Präsidenten der Deutschen Bodenbank verzinsten sich glänzend. Gemütseinlagen besonders. In der Verrechnung mit Familienangehörigen duldete der alte Herr kein Debetsaldo.

Es geschah also durchaus nicht aus Ungeduld, daß RilIa näher an das Ordinationszimmer heranrückte. Er hatte Zeit, war es nur müde, über den knarrenden Parkettboden zu spazieren, und horchte neugierig an der Tür. Gerade klirrte ein Instrument in die Stille – dann sagte der Doktor einige Worte, wurde unterbrochen von dem weinerlichen, monoton gurgelnden Gemurmel einer Frauenstimme.

Überzeugt, es sei nur Karl Abt im Wartezimmer, widmete sich Doktor Landau mit der gewohnten Gründlichkeit dem ausgemergelten, erschreckend verbrauchten Weib, das halbnackt, wie es vom Untersuchungstisch herabgestiegen war, seine Leiden klagte.

„Ziehen Sie sich erst an! Nachher sprechen wir weiter.“

Dem verzogenen Mund der Frau entfuhr ein Stöhnen, sie warf sich vor und starrte dem Doktor ins Gesicht, von der Angst gepackt, daß er sie nur vertrösten wollte. Nach langem, nutzlosen Wüten gegen den eigenen Leib, von Ärzten und Hebammen wie ein räudiges Tier verjagt, war ihr von einer mitleidigen Seele die Adresse des Doktor Landau zugeraunt worden. Sein Gesichtsausdruck schien ihr verheißungsvoll, und sie hätte sich auf seine herabhängenden Hände gestürzt, die Enden seines weißen Leinenkittels geküßt, wäre er nicht auf seiner Hut gewesen.

„Ziehen Sie sich an, zum Donnerwetter! Man wartet ja draußen!“ schimpfte er mit gekünstelter Wut, aber seine Augen, verlegen abseits irrend, straften seinen Zorn Lüge. Wie von derselben Maschine gestanzt, die schon Hunderte ihrer Produkte auf das Wachstuch seines Untersuchungstisches geworfen hatte – sah er die schlotternde, erschöpfte Kreatur vor sich stehen, die schlaffen Brüste mit vernarbten Wunden besät, zerbissen von dem betrogenen Hunger der Kinder, die aus Sparsamkeit möglichst lange an der Brust behalten wurden, weil nur die vergeudete Lebenskraft die Wochenrechnung beim Krämer nicht erhöhte. Nur was dem eigenen Körper abgelistet und ausgepreßt wurde, mußte am Löhnungstage nicht bezahlt werden. Erschüttert wandte sich der Doktor ab und flüchtete zu dem Kind, das für die Dauer der Untersuchung vor das Fenster verbannt worden war. Dort stand es reglos, keinen Zug von Neugierde im altklugen Gesichtchen, so unbeteiligt, als hätte es die Mutter nicht wimmern und flehen gehört hinter sich.

Was mußte ein siebenjähriges Mädchen schon gehört und erlebt haben, um gar nicht mehr darauf zu achten, was im gleichen Zimmer zwischen den Erwachsenen vorging? Auch dieses verhungerte kleine Ding wuchs unaufhaltsam dem Schicksal der Mutter entgegen, schon blitzte Feindschaft aus den verwilderten Augen und das zerzauste Köpfchen entzog sich mißtrauisch der fremden Hand, die teilnahmsvoll über den strähnigen Scheitel strich. Woher sollte das Kind auch wissen, was Liebkosungen waren? Es kam von dort, wo der Kampf ums Dasein Bruder gegen Bruder stellt, der Ältere nur auf Kosten des Jüngeren sich sättigen kann. Und damit nun noch ein siebentes hungriges Kind die Geschwister verkürze, sollte der Unglücklichen da hinten noch eine Geburt auferlegt, ihrem ausgeweideten, zerfezten Leib noch ein Leben entrissen werden?

Den Blick verloren im Nebel, der am Fenster vorbeizog, verglich Doktor Landau die Härte eines Todesurteils, das Siechtum, Todesfurcht und Qual auf Stunden und Sekunden reduziert, mit der Grausamkeit, die ein schuldloses Wesen zu lebenslänglichem Leben verdammte, verschärft mit Hunger, harter Arbeit, hartem Lager, und als einziger Weg in die Freiheit den Tod. Wie konnte man das gehetzte Menschentier von der Schwelle jagen, den Lebenskeim in ihrem Leibe nicht begnadigen, mit Berufung auf Pflicht und Gewissen?

„Gewissen?“ – knurrte der Doktor halblaut vor sich hin, aber der Zischlaut in der Mitte des Wortes schlug an das Ohr der ängstlich lauernden Frau und traf sie wie ein Peitschenhieb. Die Unglückliche mißdeutete das Achselzucken, warf sich auf die Knie, und es war keine kleine Mühe, sie wieder zu beruhigen. Vor ihren Augen trug Landau Namen und Adresse in den Vormerkkalender ein, gab sein Ehrenwort, nächsten Donnerstag, zu Silvester also, mit einer Pflegerin bei ihr zu sein.

Die Frau stieß wie ein Raubvogel auf die Hand des Doktors nieder und bedeckte sie mit Küssen, bis es ihm endlich gelang, sich zu befreien.

Wütend überschimpfte er ihr Dankgestammel, schob sie mit dem Kind zur Tür hinaus, und der Anblick ihrer eckigen Schulterblätter, der schmale, wie aus Holz gehauene Märtyrerrücken hielten seinen Blick gefangen, so daß er, wie aus dem Schlaf geschreckt, zusammenzuckte, als Rilla ihn beim Vornamen anrief.

„Ach, du bist’s? Ich komme sofort.“

Der Justizrat lächelte spöttisch über den enttäuschten Ton, der Herr Schwager hielt es nicht für nötig, sich Zwang anzutun – dafür verabschiedete er um so herzlicher das lumpige Weib. Wohl auch eine Klientin von der bewußten Sorte? Der alte Herr mußte sich beeilen, wollte er nicht erleben, daß der geliebte Sohn für eine Weile Pappschachteln zu kleben bekam.

Aus dem Vorzimmer zurückgekehrt, bot der Doktor dem Schwager keinen Stuhl, erkundigte sich barsch nach seinem Begehren und verhehlte seinen Unwillen nicht, als Rilla unaufgefordert in das Ordinationszimmer hinüberging.

„Wir könnten hier gestört werden, wie ich gehört habe, erwartest du ja noch einen Patienten.“

Die würdevoll herablassende Haltung wirkte so irritierend, daß Landau nicht gleich den Sinn der salbungsvollen Rede erfaßte. Er hörte die Worte Dankespflicht, Greisenalter, Vaterherz, traute anfangs seinen Ohren kaum. Von diesem kaltherzigen Streber, den nur Erfolgsanbetung und Neid leiteten, ranzige Variationen über das Motiv Elternliebe – Weihnachtszauber anzuhören, das war doch mehr, als man ertragen konnte.

„Ja, zum Donnerwetter! Hast du dich nur heraufbemüht, um mir mitzuteilen, daß Vater nicht jünger geworden ist? Die Tatsache ist mir nicht unbekannt. Ich weiß auch, daß er längst die Hoffnung aufgegeben hat, mich zu bekehren. Er hat mich abgeschrieben wie eine dubiose Forderung, und das ist hart für ihn, denn es gehört sonst nicht zu seinen Gewohnheiten, zwanzig Jahre lang Geld und Mühe in ein verfehltes Unternehmen hineinzustecken. Und jetzt soll ich ihm als Weihnachtsgeschenk den Defraudanten gegenübersetzen, der ihm sein Geld unterschlagen hat? Eine Zeitlang würde er an sich halten, um zuletzt aus irgendeinem lächerlich geringen Anlaß doch zu explodieren. Nein, er soll ungestört mit seinen Enkelkindern spielen, ich denke nicht daran, ihm und mir und euch allen den Weihnachtsabend zu verderben! Bitte, sage das auch deiner Frau! Ich komme nächstens mal bei ihr vorbei.“

Es ließ sich nicht viel gegen diese vernünftige Antwort einwenden, aber dem Justizrat war es darum zu tun, nicht so glatt davonzukommen. Er brauchte einen Streit mit Grobheiten, die er opferfreudig einstecken und, mit überlegener Nachsicht zitiert, als Aktivposten buchen lassen konnte. Mit berechneter Schärfe entgegnete er:

„Wenn du so rücksichtsvoll sein willst, brauchst du nur Vater nicht zu widersprechen! Ich meine, du könntest ihm auch mal eine Antwort schuldig bleiben, da du ihm ja, wie du selbst zugibst, manches andere schuldig geblieben bist. Er ist nicht nur um vierzig Jahre älter als du, er hat sich redlich Mühe mit dir genommen, hat dir ...“

„Vater? Mühe? Mit mir? Du meinst wohl ...“

„Genau, was ich gesagt habe!“ schnarrte Rilla streng, innerlich triumphierend über den Erfolg seiner Provokation. „Bis zu deiner Großjährigkeit hat dich dein Vater erzogen ...“

„Erzogen sagst du? Wo hast du je gesehen, daß reiche Leute ihre Kinder erziehen? Wie könnten sie die Zeit dazu aufbringen, da sie doch für die Zukunft, für die Laufbahn und das Erbteil ihrer Kinder vorsorgen müssen? Für die Zeit des Werdens gibt es ja bezahlte Kräfte genug, unwissende Bäuerinnen, Hausmeisterstöchter, arme Schlucker, an Hungern und Frieren gewöhnte. Ja, wenn, mein Vater mich erzogen hätte, dann wäre ich auch sein Sohn geworden! Wie hätte der weiche, noch ungeformte Ton der Vaterhand widerstehen können? Aber der böse, verbitterte Mediziner, der sich als Korrepetitor durch das Gymnasium gehungert hatte, wie sollte der mich auf mein Leben, auf die Zukunft, die mein Vater für mich zurechtzimmerte, vorbereiten? Was wußte er denn vom Reichtum, außer daß er ihn haßte? Täglich hatte er mir den Geiz meines Vaters, der ihm um kargen Entgelt seine Zeit abpreßte, unter die Nase gerieben. Seine eigene Tüchtigkeit hat er meinem Schlemmerdasein entgegengestellt, geprügelt hat er mich – um seine Wut auszulassen an der Menschensorte, die es so unverdient gut hatte, wie es ihm unverdient schlecht ging.“

Für eine Sekunde verstummte Landau, holte tief Atem und rief dann mit triumphierendem Hohn: „Das ist ja das Phantastische! Gerade die Männer, die nichts von dem friedlichen Einebnen der sozialen Unterschiede hören wollen, die schroffsten, unversöhnlichsten gerade, liefern ihre Kinder dem Einfluß aus dem feindlichen Lager aus! Glaubst du, es könnte auch umgekehrt einer von parfümierten Gecken erzogen werden und doch als tüchtiger Metzgermeister sein Brot verdienen? Da! ... Weil wir davon sprechen: du siehst an den zwei Gedecken, daß ich einen Gast erwarte. Ich könnte dir gleich ein Beispiel dafür geben, wie ...“

Noch mehr über die pädagogischen Ansichten seines Schwagers zu erfahren, hegte der Justizrat keinerlei Wunsch. Ohne jede Rücksicht auf die Erregung des Doktors fiel er mitten in den begonnenen Satz ein:

„Ich habe deine Vorbereitungen natürlich längst bemerkt und freue mich, meine Frau damit trösten zu können, daß ihr Bruder den Heiligen Abend weder in trauriger Einsamkeit, noch zwischen tuberkulösen Proletarierkindern oder in einer sonstwie unerquicklichen Umgebung verbringen wird. Ich weiß aus meiner Studentenzeit, daß derlei unlegitime Familienfeste sehr vergnügt ausfallen können. Ob du allerdings nicht besser daran getan hättest, deine Kleine schon nachmittags zu beschenken, um den Abend mit deinem greisen Vater zu verbringen, das wollen wir dahingestellt sein lassen.“

Der Doktor bemühte sich, den gleichen, süßlich spöttelnden Ton zu treffen:

„Bedaure sehr, dich enttäuschen zu müssen! Mein Gast ist männlichen Geschlechts und Proletarier, allerdings weder tuberkulös noch im Kindesalter, ein ausgewachsener Fabrikmonteur, nicht viel jünger als du und ich.“

„Sehr bedauerlich!“ warf der Justizrat über die Schulter zurück, schon die Klinke in der Hand. „Eine Liebschaft wäre immerhin noch entschuldbar gewesen. Daß man aber einem fremden Proleten zuliebe die Zusammenkunft mit einem Vater ablehnt, dem vielleicht nicht mehr viele Weihnachtsabende beschieden sein werden: für mein ordinäres Normalgehirn, das dem hohen Flug deiner menschheitsbeglückenden Ideen nicht folgen kann ...“

Diesmal war es der Doktor, der rücksichtslos mitten in den Satz hineinbarst mit seinem Spott: „Eigentlich solltest gerade du besser als jeder andere begreifen, daß ich meine Zeit und meine Person möglichst lohnend zu placieren wünsche. Du bist doch sonst nicht gegen die nutzbringende Anlage aller gegebenen Fähigkeiten. Bei euch wäre ich nur der Störenfried. Dieser arme Mechaniker hat niemanden auf der Welt, ist nirgends zu Hause, weil er ein entwurzelter verpfuschter Armer ist, wie ich ein verpfuschter Reicher. Für den bin ich ...“

„Bitte sehr! Wünsche gute Unterhaltung. Nach meiner unmaßgeblichen Meinung wär allerdings ein kleines Geldgeschenk, das dein einsamer Freund oder Schützling mit einer hübschen Genossin verzecht hätte, besser am Platze. Im allgemeinen ist es eher qualvoll für ungebildete Menschen ... Aber das verstehst du freilich besser! Bist ja Fachmann und kennst die seelischen Bedürfnisse der Arbeiter ...“

„Wie die seelischen Bedürfnisse von vernachlässigten Kindern!“ ergänzte Landau heiser, nicht länger fähig, das herausfordernde Gespötte zu ertragen. „Auch die euren leben in der Gesellschaft von Menschen, die aus der Gegend meines Mechanikers stammen. Nimm dich in acht! Kinder geraten oft mehr den Onkeln und Tanten als den Eltern nach. Es täte mir leid für deinen Friedl, wenn er ...“

Justizrat Rilla brach in ein donnerndes Gelächter aus und erhob die behandschuhte Rechte, wie ein Verkehrsschutzmann, der das Haltezeichen gibt. „Nur keine Bange! Gegen ein solches Erbe wüßte ich schon Rat! Wenn Kinder Rosinen im Kopfe haben, leisten gut eingeweichte Weidenruten vorzügliche Dienste!“

Der Doktor gab keine Antwort, der brutale Glanz auf den Zähnen Rillas verursachte ihm beinahe Erbrechen. Er machte sich an Schloß und Klinke zu schaffen, nur um die zum Abschied gereichte Hand übersehen zu können, und lief gleich an den Waschtisch, als hätte er einen besonders unreinen Patienten untersucht.

IV.

Karl Abt war mit der festen Absicht heimgekehrt, sich für den Besuch bei Doktor Landau umzukleiden. Auf dem Tisch seiner kahlen Kammer lag, in laubgrünes Papier gepackt, mit goldenem Faden umschnürt und mit einem Tannenzweig geschmückt, das Geschenk bereit, das er eigenhändig für den Doktor zusammengebastelt hatte. Mißmutig betrachtete er das armselige Päckchen. War es nicht lächerlich, einen reichen Mann, der sich alles leisten konnte, mit einem primitiven Aschenbecher zu beschenken?

Das war ja der große Unterschied! ... Man durfte es dem guten Doktor leider nicht ins Gesicht sagen, wenn er mit seinen Moralpauken loslegte, aber richtig war’s doch, daß er leicht predigen konnte. Freiwillig verzichten, mit Geringschätzung vorbeigehen an leicht erreichbaren Genüssen, war etwas ganz, ganz anderes, als ausgesperrt sein. Das sollte der Doktor erst mal probieren!

Rittlings auf dem Stuhle, die Ellbogen auf die Tischplatte gestemmt, mühte sich Abt vergebens, seiner Unlust Herr zu werden. Er hielt es sich immer vor, wie gut es der Doktor mit ihm meinte, es gab nicht viele auf der Welt, die so vollkommen frei von Hochmut, so aufrichtig warm mit einem ungebildeten Arbeiter sprechen konnten. Und doch war es nicht dasselbe, als säße man mit seinesgleichen beisammen. Den ganzen Abend sich belehren lassen, nicht auf den Tisch hauen und dem andern über den Mund fahren dürfen, wo einem ohnehin die verdammte Begegnung noch in den Knochen saß!

Unter dem eisernen Bett, in die Mauerecke zurückgeschoben, dunkelte ein kleiner, schwarzer Holzkoffer, der die vier Kriegsjahre lang die Zivilkleidung des Füsiliers Karl Abt im Kasernendepot bewahrt hatte. Jetzt enthielt er die „Verlassenschaft“ der Mutter, das ganze Ergebnis ihres langen Lebens, auch der Zeitungsausschnitt mit dem Bild der freiherrlichen Familie mußte noch darinnen sein.

Lange blieb Abt unschlüssig sitzen, den Blick unverwandt auf das Kistchen geheftet. Durch die papierdünnen Wände des Zimmers drang fernes Säuglingsgeschrei, Streit, Gelächter, Gesang, das Knarren schwerer Stiefel auf der Treppe und das Schlurfen von Filzpantoffeln über seinem Kopf. Durch alle Ritzen sickerte Küchengeruch. In der eigenen Kammer saß man doch gleichsam mitten im Leben der ganzen Zinskaserne, verfolgt von der dicken, klebrigen Gemeinschaftsbriihe, die bis unter die Haut sich einfraß.

Gereizt zog Abt endlich den Schlüssel hervor und schloß auf. Nicht als ob er noch gezweifelt hätte! Selbstverständlich war der elegante Gast der Baron Friedrich Mangien, aber warum sollte man sich die Gruppe nicht wieder mal besehen? Fürs Umkleiden blieb immer noch Zeit genug.

Wie ein Musterkoffer wirkte die kleine Kiste, Millionen Frauen rackerten ihr Leben lang, und der einzige Ertrag war solcher Plunder. Zuoberst lag ein Bibelspruch, von verblaßten Bildern aus dem Leben des Erlösers umrahmt, und darunter die Bescheinigung des Pastors: das verbrauchte alte Weib mit dem gelbgedörrten Gesicht sei dereinst als junges, blühendes Bauernmädel zum erstenmal an den Tisch des Herrn getreten. Dann kam der Trauschein, der verdorrte Myrtenkranz und der zerfetzte gelbe Brautschleier, der um sechs ganz gleiche Päckchen gewickelt war, in jedem ein Büschel Kinderhaare, ein Taufschein und eine Todesurkunde. Nur die Papiere Karl Abts fehlten: er hatte in den sechs fetten Jahren an der Hamburger Fleischschüssel genügend Kraftreserven gesammelt, um dem Elend zu widerstehen, dem die jüngeren Geschwister der Reihe nach erlegen waren.

Eigentlich verdankte er also, genau besehen, sein Leben weniger seinen Eltern, als den Gnadenbissen vom freiherrlichen Tisch. Ohne die hohe Gönnerin, die ihn über das Taufbecken gehalten, ohne die ersten sechs Lebensjahre unter dem Schutze der Frau Baronin Mangien, hätte die Mutter auch ihren Ältesten hergeben müssen. Vielleicht war auch das ein Grund für die Andacht, mit der sie ihr Leben lang den Namen „Mangien“ ausgesprochen hatte.

Vierzehn Jahre alt war das dumme Bauernmädel gewesen, als es in das Märchenschloß des reichen Fabrikherrn kam, in eine eigene Kammer mit eigenem Bett. Voll Dankbarkeit für die Ehre, solchen Halbgöttern dienen zu dürfen, rastlos bemüht, sich dieser Auszeichnung würdig zu erweisen, rackerte das Kind sich zur Küchenmagd, die Küchenmagd sich zur Hilfsköchin, endlich zur Köchin empor. Jahrzehntelang kam kein neues Möbelstück oder Kunstwerk ins Haus, konnte die Fabrik nicht vergrößert, die Zahl der Arbeiter nicht erhöht werden, ohne daß auch die treue Seele in der Küche, strahlend vor Stolz, sich miterhöht und zugleich ihrer Herrschaft noch demütiger untertan gefühlt hätte.

Noch als sie fieberglühend vor Ehrgeiz die Vorbereitungen zum Festessen anläßlich der Taufe des kaum mehr erhofften Enkels und Thronerben des Hauses dirigierte, wäre die bald Vierzigjährige dem Verleumder an die Gurgel gesprungen, der sie mit dem Verdacht entehrt hätte, sie könnte jemals die Undankbarkeit begehen, ein eigenes Heim zu gründen, nicht mehr zufrieden mit ihrem Anteil am Gedeihen des Hauses Mangien! Da barst aber eines Tages das Wasserrohr in der Küche, man verlangte einen Arbeiter aus der Fabrik, und mit dem ersten Blick in die klaren, blauen Augen, die so treuherzig unter der stolzen Stirne leuchteten, war das Schicksal der Unglücklichen besiegelt. Noch ehe der „Kleine Herr Baron Friedl“ seinen ersten Geburtstag feierte, war sie dem sieben Jahre jüngeren Manne angetraut.

Ludwig Abt war, ein kreuzbraver Mann, sanft und nüchtern, zärtlicher Gatte und Vater. Warum er sich dennoch ruinierte, das klar zu begreifen, gelang der armen Frau bis an ihr Lebensende nicht. Hätte man ihr auch rechtzeitig die Warnung ins Ohr geflüstert, ihr Bräutigam sei ein „Roter“, ein „Sozialist“ – damals, zu Beginn der achtziger Jahre, klang das neue Wort nicht nur Köchinnen fremd. Wie hätte das beschränkte Mädchen an eine Auflehnung gegen die Allmacht des Geldes, an eine Feindschaft zwischen ihrem guten Mann und ihrem Halbgott, dem Herrn Baron, denken können? Ihre ganze Wohnungseinrichtung. bis zum letzten Kochtopf, war mit den Ersparnissen bezahlt, die sie im Hause Mangien gemacht hatte. Daß dieses Geld kein Geschenk, sondern in fünfundzwanzig Dienstjahren mit harter Arbeit redlich verdient war, ließ sie sich nicht einreden, ja sie zerzankte sich zum erstenmal mit ihrem Mann, als er auch für die zahllosen Geschenke der Frau Baronin für seinen Erstgeborenen nicht dankbar sein wollte. Er brauche keine Almosen! Man solle ihn anständig bezahlen für seine Arbeit, damit er selbst für seine Kinder sorgen könne!

Gewöhnt, sich zu fügen, trotz allem Stolz auf den schönen, herzensguten Mann, der gelehrte Bücher las und auch unter den Arbeitern besonderes Ansehen genoß, versuchte die einfache Frau es gar nicht, die Gespräche zu verstehen, die unter den Männern geführt wurden. Sie machte sich auch keine Gedanken über die Stöße von Zeitungen, die, hinter Schränken und unter den Betten versteckt, nach Einbruch der Dunkelheit einzeln abgeholt wurden. Was ihr Ludwig tat, konnte nichts Unrechtes sein, meinte sie, bis, nach der Geburt des dritten Kindes, die Bombe barst.

In ihrer grenzenlosen Güte hatte die Frau Baronin die helle, gesunde Wohnung in dem neu erbauten Pförtnerhäuschen der Fabrik für die Familie ihrer treuen Köchin bestimmt – dazu Beheizung, Beleuchtung und ein Jahreseinkommen gewährt, das ein gewöhnlicher Arbeiter überhaupt nicht erreichen konnte. Die Wöchnerin bekam einen gefährlichen Fieberanfall vor Schrecken, als Ludwig Abt trotzdem entrüstet die Zumutung zurückwies, seine Kollegen zu bespitzeln und jede kleine Verspätung wie Diebstahl an der kostbaren Zeit des Herrn Barons zu notieren. Er tat aber noch weit Schlimmeres, mißbrauchte das Vertrauen der Herrschaft und berief sich öffentlich auf die Warnung der Baronin: der Lohn allein reiche nicht für drei Kinder.

Wie schlimm dieser beispiellose Undank sich auch rächte, Frau Abt nahm alle Strafen beinahe mit Genugtuung hin: sie wäre entwurzelt dagestanden in einer Welt, die ihren Mann für seine Auflehnung nicht gezüchtigt hätte. Es überraschte sie nicht, daß die Polizei in ihre Wohnung eindrang und Stöße von eingeschmuggelten „Vorwärts“-Nummern beschlagnahmte, die aus der Schweiz direkt an Ludwig Abt gesandt worden waren, damit er sie verteile. Sie gab sich und die Ihren verloren – und hatte recht, denn wer einmal in das stählerne Netz des Bismarck-Puttkammerschen Sozialistengesetzes hineingeraten war, konnte in Deutschland keine Arbeitsstelle mehr finden, die Polizei spürte ihn überall auf, bis ihn die Verzweiflung zerbrach oder aus der Heimat vertrieb.

Als die erste Kerkerstrafe wegen Verbreitung aufrührerischer Schriften abgebüßt war, zog die ganze Familie nach Berlin, und Frau Abt war froh, der Gefahr entronnen zu sein, dem Herrn Baron oder gar ihrer zürnenden WohItäterin unter die Augen zu treten.

Sie ging kochen, waschen, scheuern, durchwachte die Nächte mit schlecht bezahlter Heimarbeit, gezwungen, auch ihren Mann zu erhalten, der sich immer tiefer in seine Verblendung hineintreiben ließ. Er tat ihr leid, weinend sah sie den schönen, gesunden, tüchtigen Arbeiter langsam verfallen, immer verbohrter und gewalttätiger werden. Ein einziges Mal nur verlor sie die Selbstbeherrschung, als ihr das Elend zum sechstenmal einen kleinen Sarg in die kalte Dachkammer stellte. Der Schmerz um die Kinder löste ihre Lippen und kreischend schilderte sie sein Werk: die verwanzte, leere Wohnung, die gepfändeten Möbel, die verwilderten Gräber seiner Kinder, die verscherzte Herrlichkeit des Pförtnerhäuschens, des Hamburger Paradieses, aus welchem er seine Familie vertrieben hatte.

Lange wußte Karl Abt nicht viel mehr über seinen Vater, als was er aus diesem Wutausbruch der Mutter erfahren und mit der ganzen Leidenschaft seines erbitterten Kinderherzens sich eingeprägt hatte. Verständnislos sah der Zehnjährige die Verzweiflung der Mutter, als man sie am Morgen nach dem Begräbnis des sechsten Kindes zu ihrem erhängten Mann auf den Dachboden hinaufholte. Was hatte sie denn groß verloren an dem verbrummten Nichtstuer, der nur brüllend die Fäuste geschüttelt oder stundenlang stumm vor sich hingestarrt hatte und nun mit blaugedunsenem Gesicht und gräßlich stieren Augen langsam in der Luft sich drehte. Mit der Zeit lernte er freilich begreifen, daß er dem Verstorbenen bitter Unrecht getan. Seit ihn der Tod der Mutter, die Angst vor dem Alleinsein in die Hörsäle der Arbeiterbildungsschule hineingejagt hatte, war ihm aus Vorträgen, Büchern und hauptsächlich aus Unterhaltungen mit Doktor Landau ein ganz neuer Vater erstanden, ein tapferer Mann, kein Schwätzer, o nein, ein Kämpfer.

Zu ihren Lebzeiten aber hatte die einfältige Frau das Gift in ihrem Sohne genährt, sein Heimweh künstlich wach erhalten nach den unerreichbaren Herrlichkeiten. Als hielte sie es für ihre heiligste Pflicht, den rußigen, zerlumpten Jungen nicht Wurzel fassen zu lassen in dem Boden, der ihn ernähren mußte, sprach sie ganze Sonntagnachmittage lang nur von der Vergangenheit, frischte an Hand der Photographien die schon zerfließenden Erinnerungen auf, schwärmte ihm von seiner schönen, vornehmen Patin so ausdauernd und eindringlich vor, daß der nun bald Vierzigjährige immer noch den süßen Duft der weichen, weißen Hand roch und ihre Berührung auf seinem Scheitel fühlte, wenn er nur den Namen „Mangien“ hörte.

Mit einem wütenden Fußtritt schleuderte Abt die Kiste wieder unter das Bett zurück und sprang auf.

Luft brauchte er jetzt, Luft, Luft und Zeit, sich auszutoben. Er dachte nicht daran, den ganzen Abend beim Doktor zu hocken, dessen weise Ermahnungen und Ratschläge doch nicht mehr ungeschehen machen konnten, was die arme Mutter ahnungslos an ihm gesündigt hatte.

Predigten taten nicht not! Was der Karl Abt nicht tun und denken sollte, wußte niemand besser als Karl Abt selbst. Natürlich war es Verrat am Andenken des Vaters, wie ein verjagter Hund hinter dem Reichtum, hinter den wohlriechenden, aufgetakelten Weibern her zu sein! Alle hatten sie recht, nicht nur der Doktor, auch die Kameraden in der Fabrik und die Mädchen, die ihn verhöhnten, weil es ihn in die Friedrichstadt und nach dem Westen zog, vor die teuren Tanzlokale und überallhin, wo die feinen Damen ihre seidebestrumpften Beine sehen ließen.

Kläglich? ...

Ja doch: kläglich und lächerlich und verächtlich! ...

Aber wer hatte Schuld? Keinem Tier draußen im Zoo dürfte man das Futter so vor der Nase tanzen lassen, wie in dem verfluchten Berlin der Reichtum die Armen herausforderte!

Mit einem zornigen Griff stülpte sich Abt den Hut auf den Kopf, blieb aber doch wieder unentschlossen stehen. Um den Doktor war es ihm nicht bange! Der hatte immer Berge von unerledigten Zuschriften und Bittgesuchen auf dem Schreibtisch, mußte Notizen, Flugschriften, statistische Ausweise sichten und ordnen – es konnte sein, daß er das Ausbleiben seines Gastes gar nicht bemerkte.

Was sollte aber der Karl Abt mit sich beginnen? Irgendwie – irgendwo mußte die Zeit bis zehn Uhr wenigstens totgeschlagen werden.

Die Werktagskleidung abzulegen, war nicht nötig, alle besseren Lokale waren gesperrt. Wie sonst an Feiertagen in einem Kaffeehaus zu sitzen, wäre Verschwendung: am Christabend gingen Damen nicht aus. Während er so mit sich zu Rate ging, schlug es in der Nähe sieben. Nahm er die Stadtbahn, bis zur Station Lehrter Bahnhof, konnte er wie im Vorjahr auf denselben Wegen den Tiergarten durchqueren, als käme er von Mutters Bett, aus der Charite. Eine Stunde ließ sich auch heuer wieder mit einem Rundgang durch das reiche ViIIenviertel totschlagen; da stiegen die Kerzenpyramiden bis zu den Zimmerdecken, man sah den Baumschmuck durch die Vorhänge glitzern – und zuletzt blieb, als sichere Zuflucht, die Kneipe der armen Frau Schütze, die zugleich mit Mutter als Herrschaftsköchin in Hamburg gedient hatte.

Von dort erst wollte er den Doktor anrufen, wenn es schon bestimmt zu spät sein würde,. den versäumten Besuch nachzuholen. Bis dahin hatte er Zeit genug, eine glaubwürdige Entschuldigung auszuklügeln.

V.

Der Haß, den die Begegnung mit dem Baron in Abt aufgewühlt, wurzelte in dem Absagebrief Mangiens auf eine Bittschrift, die Abt ohnehin schweren Herzens ein Vierteljahr vor dem Tode der Mutter seinem Stolze abgerungen hatte.

Wiederholt war er von den Krankenschwestern gebeten worden, wenn er nur irgend konnte, ein Wasserkissen zu beschaffen. Das Spital war dazu nicht in der Lage und die Gefahr wuchs, die welke Haut der Sterbenden könnte wundgerieben werden an der derben Bettwäsche der Anstalt. Hätte aber das Unheil mal begonnen, gäbe es kein Anhalten mehr. Abt hätte gerne gehungert, wäre der Kaufpreis innerhalb seiner Möglichkeiten gelegen. Nie war ein anständiger Mensch einem Verbrechen so nahe, wie Abt in dem Sanitätsgeschäft, als er die Verkäuferin das Wasserkissen wieder zusammenfalten und in die Schublade zurücklegen sah. Jeden Abend, wenn er, aus dem Spital kommend, an den übervollen Schaufenstern der Adventzeit vorbei mußte, die Automobile sich stauen und Pakete in allen Gassen vorbeitragen sah, hätte er stehenbleiben und wie ein verwundetes Tier in das Gewühl hineinbrüllen mögen: wo so viel Geld für Überflüssiges vorhanden ist, müsse doch auch das Geld für das Wasserkissen da sein, in dem großen, reichen Berlin die paar lumpigen Mark für eine arme, sterbende Frau!

Ja, eine Absage Mangiens wäre damals weniger schlimm gewesen, als der Zehnmarkschein mit der vorgreifenden Warnung: „von weiteren Ansuchen unbedingt Abstand zu nehmen, da bei den zahlreichen Anforderungen grundsätzlich keine Unterstützungen über zehn Mark an einzelne liquidiert würden.“

Sicher hätte Abt den Zehnmarkschein zurückgeschickt, mit einigen verächtlichen Begleitwerten sich Erleichterung verschafft, wäre die lange erwartete Antwort nicht am dreiundzwanzigsten Dezember, gerade einen Tag vor dem Weihnachtsabend, eingetroffen. Der Sterbenskranken das Christfest zu verschönern, war doch eine zu starke Versuchung.

Was hätte er nun dafür gegeben, wäre er damals weniger weich gewesen. Denn gerade am Heiligen Abend, als das Bäumchen in der Mitte des Krankensaales angesteckt wurde, und er mit der Schwester die Kranke aufgesetzt hatte, erblickte er zum erstenmal das rote Fleckchen, nicht größer als ein Pfennigstück. auf Mutters Nachthemd. Von Tag zu Tag verschlimmerte sich die Wunde, wie die Schwestern vorausgesagt hatten; ein böses Tier zuletzt, das noch drei volle Monate die Haut von dem armen, mißhandelten Körper fraß, bei jeder Bewegung ein leises Ächzen den blutleeren Lippen erpreßte, nur weil der filzige, herzlose Lump nicht mehr als höchstens zehn Mark entbehren konnte von seinen Millionen! War es nicht wie eine Ermahnung des Schicksals, wie ein Ruf aus dem Grabe: „Vergiß meine Qualen nicht!“ – daß genau übers Jahr, gerade am Weihnachtsabend, der Schuft in Berlin auftauchen, dem Sohn über den Weg laufen mußte?

Ergrimmt hatte Abt im Eilschritt den ganzen Tiergarten durchquert und blieb unentschlossen stehen am Rande der breiten Villenstraße, geblendet von den Reflexen der hellen Fensterreihe, die sich in dem feuchten Fahrdamm spiegelte. Sollte er seinen Vorsatz ausführen und durch die Straßen des reichen Viertels irren? Plötzlich wurde er aufgeschreckt von der fremden Stimme eines Mannes, der von rückwärts an ihn herangekommen war. Unter jedem Arm ein mächtiges Paket, konnte er die Adresse nicht lesen, die man ihm in die Hand gedrückt hatte. Abt nahm ihm den Zettel aus der Hand und trat unter die nächste Laterne.

Zuerst fuhr er sich ärgerlich über die Augen. Wo er hinsah, las er nun schon den verhaßten Namen. Aber zum Teufel: stand da nicht wirklich „Im Auftrag des Herrn Baron Mangien“?

Erschreckt von dem seltsamen Gesichtsausdruck Abts hätte der Austräger gerne seinen Zettel zurückverlangt.

„Ik werd’ schon alleene finden – jib mir den Wisch nur wieder!“ bettelte er vergebens: der ungeschlachte Kerl lief voraus und blieb erst stehen, als er die gesuchte Hausnummer gefunden hatte.

Eine Tiergartenvilla wie jede andere, die Wohnung reicher Leute. Daß der Herr Baron in dieser Gegend Freunde hatte und ihre Kinder mit Geschenken bedachte, war nichts Erstaunliches. Nur die Neugierde, warum er nicht bei seinen eigenen Kindern daheim saß, regte sich wieder, ließ nicht locker, weckte die unsinnige Hoffnung, der Austräger werde vielleicht etwas zu sagen wissen, wenn er wieder herauskäme.

Zuerst wollte er überhaupt nicht den Mund auftun, lief so rasch er konnte, erst als die menschenleeren Straßen des Villenviertels glücklich durcheilt waren, verlangsamte der Hasenfuß das Tempo, wurde allmählich gesprächig und wagte sogar das Zweimarkstück zu zeigen, das er bekommen hatte. Das war ein Dusel!

Gereizt stieg Abt auch noch die Treppen zur Untergrundbahn mit hinunter, hielt den Schwätzer am Rockärmel fest, ohne aber mehr herausbringen zu können, als daß der Hausherr sich nicht hatte sehen lassen. Vielleicht war die schöne Frau eine Witwe? In Trauer war sie allerdings nicht – ganz in roter Seide – und gerochen hatte sie! „Junge – Junge! Wie ein ganzes Hyazinthenbeet!“

Lange noch stand Abt vor der Perronsperre der Untergrundbahn. Ein schönes Weib? Und kein Mann im Hause? Es sollte ja vorkommen, daß es auch die feinen Herrschaften nicht so genau nahmen mit der Moral? Ein solcher Tatbestand hätte das Rätsel gelöst, warum der Herr Baron sich in Berlin herumtrieb! War der andere etwa über Weihnachten verreist? – – –

Beinahe wäre Abt gegen ein Gartengitter gerannt, qualvoll vertieft in die ungewohnte Gedankenarbeit. Er wußte dunkel noch von einer Rauferei mit dem „kleinen Herrn Baron“, wühlte verzweifelt in seinen Erinnerungen, auf der Suche nach dem Erlebnis, das nicht ohne irgendwelchen Zusammenhang gerade jetzt in seinem Gedächtnis auftauchen konnte.

Zu Ostern, an einem Ostersonntag oder -montag mußte es gewesen sein, das war sicher – weil der Vater ihm am Vorabend eine große Glaskugel ans Bett gebracht hatte, eine buntschillernde Kugel mit eingegossenem Osterlamm. Und auf einmal wurde die ganze Erinnerung lebendig: am nächsten Abend hatte es Schläge gesetzt, harte Schläge von der Mutter, von der sanften, geduldigen Mutter, die nicht oft und nicht leicht die Hand erhob. Warum? Weil der „kleine Herr Baron“ die Kugel hatte haben wollen! Ein ganzes, großes Zimmer der Villa war voll von Spielzeug und der Proletenbalg hätte sich geduldig seine Kugel nehmen lassen sollen, seinen einzigen Schatz! Mit sechs Jahren war man ja noch dumm – lernte es erst später, daß man nicht der Stärkere sein durfte, und alles für die andern da war.

Der Herr Baron aber hatte nicht umlernen müssen. Der durfte immer noch nach allem greifen. Was ihm gefiel, nahm er sich einfach, ob Glaskugel, ob Frau – für ihn gab es kein Mein und Dein, war doch aus dem „kleinen Herrn Baron“ der große Herr Baron geworden, der erst recht alles durfte!

Schwer stöhnend riß sich Abt den Hut vom Kopf und zerrte an seinem Halskragen.

Die ganzen drei Jahrzehnte, während welcher er selbst immer nur entbehrt und sich geplagt hatte, kein höheres Ziel, keine glücklichere Möglichkeit vor Augen, als bestenfalls ein Dach, ganze Schuhsohlen und das bißchen Fraß zu haben – dieses arme Leben, auf einmal jenem des Barons gegenübergestellt, schmerzte wie eine Wunde. Wie gejagt stürmte er durch die Straßen, als könnte er seinen Gedanken entfliehen. Erstaunt merkte er, daß ihn seine Schritte zurückge tragen hatten vor die Villa. Das Blinken des Messingschildes zog ihn hinüber. Er kannte den Namen schon, vom Zettel des Austrägers, sagte ihn halblaut vor sich hin:

„von Brenken, von Brenken, von Brenken“ – bis ihm, ehe er es hätte verhindern können, die Hand hochschnellte zum Klingelknopf.

Am liebsten wäre er dann davongelaufen, brachte aber die Kraft nicht auf, sich loszureißen, und dachte erst daran, daß er ja etwas sagen, einen Vorwand erfinden mußte, als er durch das ovale Fensterehen schon den Kammerdiener die Treppen herunterkommen sah.

Es blieb ihm kein anderer Ausweg, als den Bettler zu spielen, aber auch das erforderte Übung. Er errötete bis über die Ohren und wäre in die schlimmste Verlegenheit geraten, hätte ihn der Diener nach seinem Begehren gefragt. Aber es geschah zu oft, daß invalide Soldaten, die unter dem Befehl des Hausherrn den Krieg mitgemacht hatten, an die Gutherzigkeit ihres einstigen Kommandanten appellierten. Einer, der gar am Heiligen Abend auf der Straße lag, durfte keinesfalls mit leeren Händen fortgeschickt werden. Der Herr Major war ja leider seit Mittag verreist, für einstweilen würde jedoch die Frau Baronin bestimmt gern –

Verreist! – Weiter hatte Abt gar nicht zugehört. Ohne sich um das erstaunte Gesicht des Dieners zu scheren, murmelte er etwas von „Wiederkommen“ und eilte davon.

Verreist!! –

Einige Sekunden lang durchströmte ihn Glückseligkeit, ein Triumphgefühl, als wäre ihm der Herr Baron nun ausgeliefert. Warum? – Weil er heute in Berlin angekommen, und der Major Brenken von Berlin abgereist war? Die großartige Entdeckung! Und wenn Mangien wirklich ein Verhältnis mit der Frau Major hätte? Was ginge ihn, Karl Abt, das an? Ein Wink, und der nächste Wachposten würde kurzen Prozeß machen mit dem frechen Proleten, der versuchen wollte, dem großen Herrn unbequem zu werden.

Hatte die erste Tracht Prügel wegen der Glaskugel nicht genügt?

VI.

Otto Schütze saß wie immer am Ecktisch unter der Hindenburg-Büste und klopfte Karten mit seinen Gästen. Das konventionelle Wirtslächeln erstarrte sofort um seinen Mund, als er in dem eintretenden Gast den Sohn des erhängten Ludwig Abt erkannte.

Zu Beginn seiner Laufbahn, als ungelernter Hilfsarbeiter in den Mangien-Werken, war auch Otto Schütze begeistert zu der neuen Bewegung gestanden, die kürzere Arbeitszeit und höheren Lohn verhieß. Sich irgendwie für die Partei einzusetzen, hatte er sich aber gehütet: es war nicht nach seinem Geschmack, für andere seine Haut zu riskieren, wie der dämliche Abt. Wer eine glänzende Stelle ausschlug, seine Familie ins Elend stürzte aus sogenannter Solidarität, verdiente nichts Besseres als den Strick um den Hals. Anständige Menschen sorgten für sich selbst; die Narren, die der „Allgemeinheit“ dienen wollten, fielen zuletzt dieser Allgemeinheit zur Last. So war es auch dem Ludwig Abt ergangen.

Einwandfrei nachweisen hatte man es Herrn Schütze allerdings nicht können, daß die Polizei damals durch ihn auf die Spur der versteckten Zeitungen gekommen war. Fest stand nur, daß der obskure Hilfsarbeiter plötzlich das schmucke Pförtnerhäuschen hätte beziehen sollen, und von der Polizei beschützt, bei Nacht und Nebel hatte verduften müssen, um sich den Fäusten seiner gewesenen Arbeitskameraden zu entziehen.

Die Angst vor dem Verprügeltwerden verzieh er Ludwig Abt bis über das Grab hinaus nicht, trotzdem er seine ganze Karriere dem Toten zu verdanken hatte. Nicht nur der famose Einfall, eine ältere Herrschaftsköchin mit Ersparnissen zu heiraten, war dem Beispiel Abts abgeguckt, auch das gesuchte Objekt hatte er im Hause Abt kennengelernt und mit seiner angeblichen Hochachtung für den gutherzigen tüchtigen „Freund“ geködert. An der Seite eines Mannes, dem Ludwig Abt sein Vertrauen schenkte, hoffte die spätere Frau Schütze jenes sichere Glück zu finden, das nach vielen Jahren in fremden Küchen das Ziel ihrer Sehnsucht war.

Die Ärmste sollte noch weit schlimmer enttäuscht werden als ihre Freundin. Kaum war mit ihrem Gelde die Kneipe gekauft und in Gang gebracht, da entpuppte Herr Schütze sich als wütender Kapitalist, für den niemand um geringen Lohn genug arbeiten konnte. Keine Kellnerin und kein Abwaschweib hielt es unter seiner Herrschaft aus, nur seine angetraute Frau konnte ihm den Dienst nicht künden, mußte geduldig bei dem Rohling ausharren, als unbezahlte Magd. Während er seinen Rausch vom Vorabend ausschlief, humpelte die müde, alte Frau bei Morgengrauen schon in die Markthallen und stand bis in die Nacht hinein in der Küche. Wehe ihr, wenn ein verspäteter Chauffeur noch etwas Warmes haben wollte und sie kein Feuer mehr im Herd hatte!

Wäre Herr Schütze nicht gewesen, so hätte die Mutter Abts sich nicht wundgelegen, die arme Freundin hätte mehr geopfert als der reiche Baron. Bis zuletzt hatte Frau Schütze jede Minute, die sie dem Mißtrauen ihres Tyrannen ablisten konnte, am Sterbebette der Freundin verbracht. Aus Dankbarkeit besuchte Abt sie nun ein- oder zweimal wöchentlich, aß bei ihr zu Abend und hörte geduldig die alten Geschichten an, die über das graue, verrunzelte Gesicht einen verklärten Schimmer huschen ließen. Herr Schütze sah die Besuche mit scheelen Augen, aber sein aufgeschwemmter, verfetteter Körper fürchtete die Bekanntschaft mit den arbeitgestählten Fäusten Abts, und so betrat er nie die Küche, wenn er den verhaßten Hungerleider dort wußte.

Wie auf Grund eines stillschweigenden Übereinkommens blickten die zwei Männer verächtlich aneinander vorbei, nur die fünfzigjährige Kellnerin fletschte verliebt ihr gelbes Pferdegebiß, hielt den stattlichen Mann, so lange sie konnte, im Schankraum zurück und seufzte ihm nach, als er hinter der Küchentür verschwand.

„Fröhliche Weihnachten!“ rief Abt der zudringlichen alten Schachtel zu und vergaß in seiner Eile anzuklopfen. Erschrocken schnellte Frau Schütze von ihrem Holzhocker hoch, streckte aber dann ihrem einzigen Freund die knollige, verwelkte Knochenhand entgegen und nickte, eine Träne im Augenwinkel. „Heute vor ’nem Jahr“, flüsterte sie, „hat sie noch gelebt.“

Abt blieb stumm, ließ sich der alten Frau gegenüber an dem mit Wachstuch bespannten Tisch nieder, das Gesicht der Türe zugewendet, verlegen, als hätte er Angst, ihren Blicken zu begegnen. Er kannte diesen Tonfall! Gleich nach dem Leichenbegängnis war es ihm wie eine kalte Klinge ins Herz gedrungen, daß ein lebendiger Mensch so sehnsüchtig von der feuchten Grube sprechen konnte, mit einem Heimweh in der Stimme, als gäbe es kein schöneres, kein erstrebenswerteres Ziel auf der Welt. Unter den Frauen, die am Morgen, wenn er zur Arbeit ging, mit versorgten Gesichtern aus allen Häusern strömten, hatten viele dieselbe gebrochene Haltung, schlappten weit vornübergebeugt an ihm vorbei, als hätten sie alle schwere Säcke auf den Rücken, in die jeder neue Tag wie eine Steinquader fiel. Frau Schütze warf sich vor, den Gast sogleich an den Tod seiner Mutter erinnert zu haben. War er gekommen, um sich die Weihnachtslaune von ihr verderben zu lassen?

Mühselig stemmte sie sich in die Höhe und holte aus der Vorratskammer den Protektionsbraten hervor, den sie immer für ihren Liebling in Bereitschaft hielt. Eifrig humpelte sie auf ihren kranken Beinen um den Herd, schürte das Feuer, lauschte verstohlen nach der Gaststube hinüber, immer in Angst, von Schütze überrascht zu werden. Vergebens drohte ihr Abt, endgültig auszubleiben, wenn sie die Kinderei mit den Protektionsportionen nicht sein ließ, die Alte schüttelte nur trotzig den Kopf. Ein wenig Helle kam in ihre trüben Augen, wenn er sich das Essen gut schmecken ließ; wie früher die Mutter, begleitete sie mit den Augen jeden Bissen bis zu seinem Mund, und er erzählte ihr, was in der WeIt vorging, brach gleichsam ein kleines Guckloch in die Küchenwand, wie er früher die Mutter unterhalten hatte, bis zu dem Abend, an dem man sie in die Sterbekammer schob.

Was sollte er aber heute erzählen, wenn nicht die Begegnung mit dem Baron? Auch für Frau Schütze war ja der Name „Mangien“ eine Reliquie aus der glücklichen Hamburger Zeit. „Jessus nein – den Herrn Baron?“ – Die alte Frau wiegte ihren gelblichweißen Scheitel – „Jessus nein!“ – Und ein Schwall von Erinnerungen brach los.

Karl Abt ließ die Alte schwatzen, blies große Wolken aus seiner Zigarre, und hätte ihr gerne noch lange zugehört, wäre nicht das Kartenspiel draußen abgebrochen worden. Herr Schütze hatte verloren und eilte mit wütendem Grunzen durch die Küche, um Geld zu holen aus der Kassette, die angekettet unter seinem Bette stand. Abts längeres Verweilen hätte das Donnerwetter nur noch verschlimmert, das der Spielverlust ohnehin schon auf Frau Schütze herabbeschwor; so nahm er lieber Abschied und trank draußen eine Flasche Rotwein mit der verliebten Kellnerin, den Unhold gnädiger zu stimmen mit der Zeche. Das Klügste wäre nun gewesen, ins Bett zu kriechen, hätte er nur das Wachliegen im Dunkel nicht so sehr gefürchtet.

Der kalte Wind stach feine, spitze Regentropfen ins Gesicht, aus den Beinen stieg der ziehende Schmerz schon das Rückgrat hinauf, und doch konnte Abt sich nicht entschließen, den Heimweg anzutreten, die Unruhe trieb ihn noch einmal vor die Villa zurück. Er wollte nur eben dort vorbei und wieder durch den Tiergarten zum Lehrter Bahnhof, denn er redete sich darauf aus, leichter einzuschlafen, je mehr er sich ermüdete.

Drei Fenster glühten in dem großen, schwarzen Würfel, die Fassade und der kleine Vorgarten lagen im Dunkel: nur der Namensschild blinkte im Licht der Straßenlaterne wie ein wachsames Auge.

Es gab, weiß Gott, nichts zu sehen an dem Hause – und doch war es Abt unmöglich, von hier loszukommen. Ecke der Tiergartenstraße schlugen die Füße Wurzeln – und als es eben gelingen wollte, den einen vom Asphalt zu lösen, knarrte ein Tor.

Blitzschnell tauchte Abt unter, so tief, daß nur sein Kopf über den niedrigen Backsteinsockel des Gartengitters ragte. Was er sah, schnürte ihm den Atem ab. Im dunklen Vorgarten der Villa Brenken stand eine weibliche Gestalt, sah sich nach allen Seiten um, ein helltönender Metallgegenstand klirrte gegen Stein – dann huschte die Frau wieder ins Haus und das Torschloß schnappte zu.

Noch lange blieb Abt in seiner hockenden Stellung. Wer war das?! Die Frau Major? Oder nur eine Magd? – Wie ein Dieb schlich er sich heran, kroch beinahe auf allen Vieren durch den Vorgarten, tastete über den feuchten Schuhabstreifer, hob ihn auf – und fand einen Schlüssel, dem deutlich ein süßer Duft entströmte.

Eine Sekunde lang schloß er die Augen. Hineingehen ... Einfach aufsperren und hineingehen! ... Wer den Hausschlüssel vor das Tor legte, mußte auf unangemeldeten Besuch von der Straße gefaßt sein! Die Frau Major würde sich hüten, Krawall zu schlagen. Hinein! – Solche Gelegenheit bot sich kein zweitesmal!

Aber der kühne Vorsatz verebbte rasch. Geknickt, von der Erregung entkräftet, ließ Abt den Schlüssel in das Versteck zurückfallen und schlich wieder davon.

Eben schwebte am anderen Ende der Straße der Tschako eines Schupomannes vorbei.

Langsam den Zaun entlang kriechend, hörte Abt dann plötzlich das Rattern eines Autos, das näherkam und in einiger Entfernung stoppte. Zwei Männerstimmen, überdröhnt von dem asthmatischen Stampfen einer alten Motordroschke. Dann fuhr der Wagen zurück. Verhallende Hupensignale. Stille.

Karl Abt blieb reglos, alle Muskeln gespannt. Nichts rührte sich. Erst als das Auto längst außer Hörweite war, klopften rasche Schritte auf, ganz in der Nähe. Der Mann hatte sich nicht bis an sein Ziel fahren lassen.

Keinerlei Überraschung durchfuhr den geduckten Körper Abts, mit einer sonderbaren Ruhe, mit einer Art sachlicher Befriedigung stellte er fest, daß der nächtliche Besucher, wie er erwartet, der Mann mit den hellgelben Reisetaschen, der Fahrgast der verunglückten Pferdedroschke, der Herr Baron Mangien war.

Frech, ohne nach rechts oder links zu schauen, huschte er in den Vorgarten, bückte sich nach dem Schlüssel, und war auch schon verschwunden.

„Schnapp!“ – entfuhr es triumphierend den Lippen Abts, so laut, daß er sich bestürzt umsah. Das fehlte gerade, daß er durch eigene Unvorsichtigkeit die unverhofft herrliche, einzige Gelegenheit sich verderbe! Diesmal saß der Fuchs in der Falle, hatte selbst den Kopf in die Schlinge gelegt: heute oder nie galt es, ihn fest am Genick zu packen.

Fürs erste hieß es aber, aus der Nähe des Hauses zu verduften. Vorläufig saß ja der Vogel fest, brauchte nicht bewacht werden. Um der Frau Major flüchtig guten Abend zu sagen, hatte sich der Herr Baron nicht nach Berlin bemüht und in der Christnacht bei ihr eingeschlichen!

Geschäftig, eine prickelnde Unruhe im Blut tauchte Abt in das Dunkel des Tiergartens und setzte sich auf die nächste Bank, unbekümmert um Nässe und Kälte. Er saß vornübergebeugt, die Ellbogen auf die Knie gestützt, das Kinn in die Hände gelegt. Der Regen tropfte ihm in den Hals, ohne daß er es merkte, so versunken war er in die Frage, wie er den Baron abfangen sollte. Aber je länger er überlegte, um so zahlreicher stellten sich die Bedenken ein, um so deutlicher fühlte er, daß er seine Macht überschätzt hatte. – Dienerschaft und Polizei schützten den Dieb dort im Haus! Nur eine einzige Waffe gab es, nur eine Hoffnung, das Heft in die Hand zu bekommen: erwischen lassen durften sich die beiden nicht! Bei Nacht miteinander abgefaßt, des Ehebruchs überführt, saßen sie in der Patsche, half alles Geld des Barons nicht, das stand fest.

So nahe wußte Karl Abt sich dem Ziel und fand doch keinen Weg. Alle Möglichkeiten hatte er schon durchsiebt: klingeln und den Diener überrennen, der öffnete? Der Baron würde sich verstecken, in einen Schrank einsperren lassen, bis die Polizei den Narren fortgeschleppt hätte! – Dem gehörnten Major einen Brief schreiben – ohne den Schatten eines Beweises in Händen? – – Er würde den Verleumder ins Loch werfen und als „Erpresser“ abstrafen lassen. Selbst wenn es gelänge, den Herrn Baron vor dem Tor abzufassen, wenn er gegen Morgen das Haus verließ – auf der Straße half kein Geschrei und kein Skandal, einmal über die Schwelle, war wieder Mangien der Herr, alles diente ihm – nur der überführte Verbrecher käme hinter Schloß und Riegel für den mißglückten „Raubüberfall“.

„Also nichts? – Wieder nichts?“ – Da blieb sein Blick an den Porzellanknöpfen der Telephonleitung hängen, und die Verzweiflung, die ihn fast sprengte, durchstieß ein Freudenschrei. Wie hatte er daran nicht denken können?

Am Telephon verrieten ihn seine zerschundenen Hände, die schäbige Kleidung nicht. Mutters vielgerügte Neigung zum Vornehmtun kam ihm jetzt zugute: nicht umsonst hatte sie den Sohn für jeden derben Ausdruck auf den Mund geklopft. Das erste, was Doktor Landau aufgefallen war, das gepflegte Deutsch des einfachen Fabrikarbeiters, sollte die Herrschaften da oben verwirren helfen! Jedermann konnten sie an dem anderen Ende der Leitung vermuten, nur den Mechaniker Karl Abt nicht, dessen Existenz ihnen vollkommen unbekannt war!

Vergnügt wie ein Schuljunge, dem ein Spitzbubenstreich gelang, warf er sich federnd gegen den Wind, ein unterdrücktes Jauchzen in der Kehle, durchkreist von triumphierender Zuversicht.

VII.

Als es im Frühjahr 1913 in der Mailänder Gesellschaft bekannt wurde, daß die schöne Mimi Neuhoff als Braut von ihrem Besuche in Deutschland zurückgekehrt war, lief sofort das Bonmot von Mund zu Mund: nur ein preußischer Offizier hätte endlich die Courage aufbringen können, die Tochter der Mama Neuhoff zu heiraten. Mutter und Tochter standen in schlechtem Ruf, und so hielt man die Reise für einen schlauen Trick, die Tochter dort anzubringen, wo der Papa nur als reicher Seidenfabrikant, nicht auch als der meistbetrogene Ehemann Italiens bekannt war.

In der Tat konnte aber niemand mehr über das Resultat der Reise erstaunt sein als die Braut selbst. Sie war der zähen Beharrlichkeit Bodo von Brenkens erlegen und hätte ihr Jawort gern zurückverlangt, wäre der Versuch nicht aussichtslos gewesen, ihren Bräutigam von seinem Entschluß abzubringen. Was sollte auch das verwöhnte, unternehmungslustige Mädchen in die Ehe locken? Geld war genug vorhanden – Freiheit noch mehr! Der Papa war als Vater genau so schwach und blind wie als Ehemann – und der Mama brauchte die Tochter nur zu drohen, ihr den jeweiligen „Cavaliere servante“ abspenstig zu machen, dann verstummte jeglicher Widerspruch sofort. Bequemer und schöner als im Elternhaus konnte es Mimi Neuhoff nirgends haben, aber sie hatte es anderseits bald heraus, daß ihr Leben nicht weniger frei und bequem sein würde an der Seite des Unikums von einem Kavallerieoffizier, der so schüchtern treuherzig aus den blauen Augen himmelte und gleich den Vater um ihre Hand, statt sie um ihren Mund, gebeten hatte.

Dritter Sohn eines verschuldeten ostpreußischen Majoratsherrn, hätte Rittmeister von Brenken als Verwaltungsbeamter, Landrat oder Staatsanwalt bei einem kleinen Provinzgericht bescheiden durch ein karges Dasein gedöst, hätte nicht die Erbtante gerade ihn zum Liebling erkoren. Aus eigenem Hang mehr zum aktenbeschwerten Schreibtisch als zu Stall und Kasino hingezogen, hatte Bodo von Brenken auf Wunsch und Kosten der Tante Offizier werden müssen und war im Kreise seiner Kameraden sehr bald als „saure Gurke“ verschrien. Im Grunde tat ihm der Spitzname unrecht, wie ihm überhaupt mit der einzigen Ausnahme der Erbtante, alle Welt unrecht tat. Er war gar nicht sauer, er hatte nur ein zu hohes spezifisches Gewicht, mußte immer bis zum Grund, auch seine Liebe machte erst halt vor dem Altar, sehr zur Freude Papa Neuhoff’s, der sich viel auf den Schwiegersohn aus „altadeligem Geschlecht“ zugute tat.

Als der Krieg das Vermögen der Eltern verschlang und zugleich mit den Maschinen in Mailand auch das Herz ihres Besitzers zum Stillstand brachte, da aßen Witwe und Tochter zunächst die Erbtante Bodos arm, der auf diese Art – wie die Berliner Spaßvögel sagten – nachträglich erst erfuhr, wie sehr er aus Liebe geheiratet hatte.

Weit entfernt gegen solche Verschwendungssucht aufzubegehren, ließ sich der Mustergatte sofort nach dem Zusammenbruch pensionieren und nahm mit der ihm eigenen Gründlichkeit das Studium der Seidenfabrikation auf. Eine winzige deutsche Zweigstelle des einstigen Mailänder Betriebes wurde mit geborgtem Geld zu einem mächtigen Unternehmen ausgebaut und in der Inflationszeit mit einem Haufen Altpapier schuldenfrei gemacht. Der Kürassiermajor wurde im Handumdrehen zu einer Autorität in der Kunstseidenproduktion und schaffte sich neuen Reichtum ganz aus eigener Kraft. Den konfiszierten Besitz in Italien befreite ein fascistischer Deputato als Heiratsgut – für sich selbst: mit dem noch gut erhaltenen Mann und der zurück gewonnenen Fabrik war Mama Neuhoff endgültig versorgt, der tüchtige Bodo, ohne Streit und Feilschen, von seiner Schwiegermutter befreit – und seine Frau nach wie vor in der Lage, das gewohnte verschwenderische Leben fortzusetzen. Mimi führte ihre sensationellen Toiletten in Cannes, Deauville, Scheveningen und Baden-Baden spazieren, als hätte sie einen kleinen, krummbeinigen „Koofmich“ und nicht einen Reiteroffizier aus „altadeligem Geschlecht“ geheiratet, und der gute Bodo verbrachte oft zwei aufeinanderfolgende Nächte auf der Eisenbahn, um sich einen Sonntag lang an den Erfolgen der Vielumworbenen zu erfreuen.

Wenn sie solcherart alle Schwächen und vor allem das blinde Vertrauen ihres Mannes mit einer Unverfrorenheit mißbrauchte, die ganz Berlin mit ständigem Gesprächsstoff versorgte, so wußte sie dennoch genau, welchen Schatz sie an ihrem braven Bodo besaß. Sie betrog ihn wohl, aber sie vernachlässigte ihn nicht und durfte sich mit gutem Gewissen rühmen, restloser als die sogenannt „treuen“ Frauen ihren Mann zu beglücken. Zufrieden und verliebt wie am ersten Tage ihrer Hochzeitsreise, hätte er gewiß jeden Tausch energisch abgelehnt, wie auch sie selbst keinen ihrer Liebhaber zum Manne hätte haben wollen.

Vergnügt summend zog sie nun vor dem Spiegel ihres Schlafzimmers ihre Brauen nach und horchte von Zeit zu Zeit gespannt hinaus. Es war ein großer Triumph für sie, daß Mangien ihretwegen Frau und Kinder am Weihnachtsabend verlassen hatte, und sie brannte darauf, ihn mit Zärtlichkeit und Schmeicheleien dafür zu belohnen. Sonja Mangien geschah nur, was sie verdiente! Statt um ihren Mann zu kämpfen, spielte sie die gekränkte Königin, präsentierte wie ein strenger Gläubiger die Rechnung für die schuldig gebliebene Treue, immer stumm, aber auf eine so aufreizend vorwurfsvolle Art, daß auch ein weniger umworbener Mann als der „schöne Friedl“ Reißaus genommen hätte.

In den Augen Mimis war just die Verwöhntheit der besondere Charme des Barons. Kein anderer Mann hatte sie so lange und so restlos fesseln können. Ihn zwei Nächte lang ungestört für sich zu haben, erfüllte sie mit freudiger Ungeduld. Sie hätte ihr Töchterchen gerne abgeküßt für die kleine Erkältung, die unverhofft die Zusammenkunft ermöglicht hatte.

Nervös durch das Zimmer pendelnd, zupfte Mimi hier und dort was zurecht, die Augen immerfort unterwegs nach der Uhr, bis endlich ein kalter Luftzug die nur angelehnte Tür aufstieß, während unten das Tor leise knarrte.

„Die Türe! – – Laß mich erst die Türe schließen, Schatz!“ – wehrte sie, schwach widerstrebend, seine Zärtlichkeiten ab und drehte, unter seinem Arm hindurchgreifend, hinter seinem Rücken den Schlüssel um. So groß ihre Freude war, sie vergaß doch keinen Augenblick die gebotene Vorsicht – trug vor allem Pelz und Hut ins Badezimmer – damit nichts, wenn er sich etwa verstecken mußte, seine Anwesenheit verriete. Zufrieden lächelnd ließ er sich liebkosen und neckte sie mit gleichgültigen Fragen, absichtlich kühl, bis ihre Ungeduld auf ihn übersprang. Aber gerade als er sie an sich gerissen hatte, fuhr die Telephonglocke schrill in ihre Umarmung.

Eine Sekunde blickten sie einander fragend an, dann wollte er sie zurückhalten: „Ach was! Falsch verbunden. – Komm!“

Sie jedoch war schon von ihm fort, zog das rote Hauskleid wie einen blutigen Streifen hinter sich her: „Vielleicht doch Bodo!“ – flüsterte sie, den Zeigefinger warnend an den Mund gelegt. – „Der Himmel weiß, wie er es fertig bekommen hat, sich verbinden zu lassen. Nach sechs gibt es in Brenkendorf keine Post. Aber er setzt ja alles durch!“

Der Baron schwieg, peinlich berührt von der Elastizität, mit der sie sofort in die Rolle der Ehefrau zurückfand. Schon im Tonfall der ersten Frage hörte er die Zärtlichkeit der treubesorgten Gattin mitschwingen. Er wollte sich abwenden, aber der weiße Rücken, von dem schmalen Streifen der Seide überquert, hielt seinen Blick fest, neugierig eher als beunruhigt ging er näher an sie heran.

Aber sie beachtete ihn gar nicht, – wiederholte nur immer lauter, mit einer unverständlich wilden Gereiztheit: „Falsch verbunden! Ich sage Ihnen doch, daß Sie falsch verbunden sind! Hören Sie nicht? Falsch verbunden!“ Endlich riß ihr die Geduld und sie schlug den Hörer wütend auf den Haken zurück.

„Was gibt’s denn, Schnuck?“ fragte er begütigend, den Arm schon nach ihr ausgestreckt. Aber sie stieß ihn so heftig zurück, daß er sich gekränkt zurückzog. Ohne auf sein beleidigtes Gesicht zu achten, warf sie sich gleich wieder auf den Apparat, der mit kurzen Unterbrechungen weiterbellte wie ein gereizter Köter, der springend an seiner Kette zerrt.

„So häng doch einfach aus!“ rief er ihr verärgert zu, verstummte aber sofort, als er die Veränderung in ihrem Wesen bemerkte. Mit zusammengebissenen Zähnen, etwas Beängstigendes in der Haltung, horchte sie gespannt und brach endlich los: „Das ist nicht wahr! Hören Sie doch endlich! – Was Sie gesehen haben, interessiert mich nicht. Vielleicht hat meine Zofe – oder das Mädchen – was sagen Sie? - Das können Sie halten, wie Sie wollen! – Ich kann doch Herrn von Mangien nicht herhexen aus Hamburg!“

Eine Sekunde lang stand der Baron wie versteinert, in die Brust getroffen von seinem Namen. Von ihm – von ihm war die Rede? – Zum Teufel! Da wollte er doch – Aber sie ließ sich den Hörer nicht entreißen, stieß ihn wieder zurück und deckte für eine Sekunde das Schallrohr mit der Hand: „Warte doch! – – Willst du mich ganz zugrunde richten?“

Unwillkürlich trat Mangien näher an die Badezimmertüre heran, hätte am liebsten Hut und Mantel geholt und sich gedrückt, wäre sein Name nicht so oft gefallen. Er mußte doch erfahren, wer ihn bei Nacht im Hause Bodos suchte! ,,Wer ist es denn? – Mit wem sprichst du?“ – fragte er und packte sie bei den Schultern, ohne jedoch Antwort zu erhalten. Sie warf sich aufs Bett, vergrub das Gesicht in den Kissen, von lautlosem Schluchzen geschüttelt.

„Mimi! Hörst du mich denn nicht? – Sei doch vernünftig! Sage mir wenigstens, was geschehen ist. – Wer war denn am Apparat?“

Die Arme weit ausgebreitet, schnellte sie hoch, wandte ihm ihr angstzerwühltes Gesicht zu: „Weiß ich’s denn! Er hat uns belauert! Und will ...“ Ihre Stimme überschlug sich, sie konnte nicht weiter, warf ihren Kopf auf dem Kissen hin und her und stöhnte, halb von Sinnen: „Alles hat er gesehen, der Schuft! Mich mit dem Schlüssel erst – dann dich! Bodo bringt uns um!“ „Quatsch! Was heißt das: gesehen? Er soll es beweisen! Laß mich nur erst herauskriegen, von wo der Kerl spricht! Hast du die Stimme nicht erkannt? – – Wäre ich nur selbst am Apparat gewesen! ich hätte schon ...“ Als wäre ihm diese Drohung zu Ohren gekommen, meldete sich der unbekannte Feind abermals mit wütenden Klingelstößen, und Mangien stürzte durch das Zimmer, die Fäuste zum Kampf geballt: „Jetzt laß mich! Laß mich nur!“ drängte er, mußte aber wieder nachgeben, so schwer hing ihm Mimi am Arm.

„Nicht du! – Um Gottes willen nicht! Haben wir einmal zugegeben, daß du hier bist, so hat er uns ganz in der Hand! Deine Stimme darf er nicht hören! Um Christi willen!“

Betroffen trat Mangien zurück, auf einmal ernüchtert und nun selbst bestürzt über die gedankenlose Leichtfertigkeit, mit der er sich beinahe verraten hätte. Mimi besaß mehr Geistesgegenwart, wahrscheinlich auch – mehr Übung.

„Aber ja doch“, höhnte sie nun am Telephon. „Das haben Sie jetzt schon fünfmal wiederholt. Sie haben gesehen, und Sie wissen, und Sie werden davon Gebrauch machen – bitte – ist zur Kenntnis genommen. Jetzt sagen Sie endlich, was Sie wollen! Nur um zu drohen, haben Sie doch nicht angerufen! – Wie? – Aber ich sage Ihnen ja, daß er in Hamburg ist! Ja, wenn Sie’s besser wissen, dann gehen Sie ins Hotel Atlantik, wo er gewöhnlich in Berlin absteigt, oder rufen Sie dort an!“

Endlich schien der Halunke am Telephon ein wenig Vernunft anzunehmen. Das Schnarren der Membrane verstummte.

„Hören Sie!“ rief Mimi entschlossen. „Ich will versuchen, den Baron zu erreichen, falls er wirklich in Berlin ist ... Heiliger Himmel, wollen Sie die ganze Litanei nochmals von vorne anfangen? Sie wissen, daß er hier ist, und ich weiß, daß er nicht hier ist! Darüber werden wir uns telephonisch nicht einigen. Die Hauptsache ist: Sie wollen ihn heute nacht noch sprechen. Hier bei mir! Ja – ja – ja! Hier bei mir – ich verstehe. Vielleicht kann ich ihn bei Bekannten wo aufstöbern. Rufen Sie in einer halben Stunde wieder an! Bitte – bitte! – Auch gut. Kommen Sie vorbei! In einer halben Stunde. Schluß!“

Sie hatte kaum angehängt, als sich Mangien schon auf sie stürzte, bleich vor Erregung. „Was heißt das? Du glaubst doch nicht, daß ich den Kerl hier abwarten werde. Warum hast du ihn nicht gleich aufgefordert, zwei Zeugen mitzubringen? Erst soll er beweisen, daß ich hier gewesen bin! Leugne doch einfach! Niemals wird Bodo einer Verleumdung Gehör schenken, wenn du ...“

Mit blitzenden Augen vertrat sie ihm den Weg: „Drücken willst du dich? Damit er mir das ganze Haus auftrommelt? Auf mich hat er es ja gar nicht abgesehen! Nur dir will er etwas antun! Nur dir! ...“

Beschämt und angewidert wich der Baron zurück, während sie ihre zerstreuten Kleider vom Boden auflas. War das noch dieselbe Frau? Welche Verwandlung in der kurzen Zeit! Eine Feindin schien sie, nur um sich selbst und ihre Position in Sorge. Wie eine Mauer war die Gefahr zwischen beiden hochgeschossen, auch Mangien hatte nur den einen Wunsch, so rasch als möglich fortzukommen, ehe er von dem Unbekannten ertappt und an Bodo verraten werden konnte.

Vorsichtig, mit gespieltem Gleichmut, ging er wie unabsichtlich immer näher an die Badezimmertüre heran, verstohlen hinter sich greifend nach der Klinke: „Es kann sich ja doch nur um eine Erpressung handeln. Wer sonst sollte? – Ich werde den Kerl unten auf der Straße abfangen! Hier hetzt uns das erste laute Wort die ganze Dienerschaft auf den Hals!“

Sie ließ ihn ins Badezimmer hinein, ohne aufzublicken. Als er schon im Mantel zurückkam, maß sie ihn verächtlich von Kopf bis Fuß.

VIII.

Karl Abt stand wieder vor dem Brenkenschen Haus. Mit fliegenden Pulsen überdachte er noch ein letztesmal den entworfenen Plan. Befriedigt stellte er fest, daß sein Gedächtnis ihn nicht betrogen hatte: der linke Flügel des Haustores öffnete sich nach innen. Drückte er sich vor dem rechten Flügel tief in die Ecke hinein, so konnte er vom Flur durch das ovale Fenster nicht erspäht werden. In der Meinung, der Feind sei noch weit, würde Mangien aus dem Hause treten – und dann genügte der Bruchteil einer Sekunde, um hinter seinem Rücken hindurchzuschlüpfen. Das mußte klappen.

Auf der kalten Steinstufe hockend, glühte er, als säße er im Kesselhaus, zitternd vor freudiger Erwartung. Bisher ging alles vortrefflich! Welche Überraschung für das Pärchen, wenn der strenge Herr am Telephon sich als abgerissener, gemeiner Arbeiter entpuppen würde. Mehr als ihrer viertausend hielt der gnädige Herr Baron an der Strippe, und sollte nun selbst stramm stehen, den Mund nicht auftun, ehe er gefragt würde. Beim ersten unhöflichen Wort war Abt fest entschlossen, Lärm zu schlagen. Auch das versprach netten Spaß, das verehrliche Liebespaar inmitten der erstaunten Dienerschaft zu sehen.

Daß der Baron bestimmt mit seiner Brieftasche herausrücken würde, überzeugt, das Schweigen eines armen Proleten müsse selbstverständlich um Geld zu haben sein, war aber doch das herrlichste von allem! Da sollte er sich diesmal verdammt schneiden! ... Wie ein Klopffechter auf seine sichere Finte freute sich Abt auf den wundervollen Triumph: den geblähten, hochmütigen Fatzke ratlos vor sich zu sehen.

Diese Vorstellung – der bloße Vorgeschmack schon seiner Überlegenheit, erfüllte Abt mit so freudiger Ungeduld, daß er immer von neuem der Versuchung unterlag, sich den Auftritt im vorhinein auszumalen. Wie ein Schauspieler in der Kulisse kräuselte er verächtlich die Lippen, übte flüsternd das höhnische „Ich pfeife auf Ihr Geld“, und kam mit seinen Vorbereitungen über diesen Punkt nicht hinaus.

Plötzlich aber fiel es ihm siedheiß ein, daß er ganz vergessen hatte, darüber nachzudenken, was er eigentlich für sein Schweigen dem Baron als wirksamste, befriedigende Demütigung auferlegen sollte.

Es war zu spät, der Schlüssel drehte sich im Schloß, und die hohe, schlanke Gestalt Mangiens erschien auf der Schwelle. Wie vorausgesehen, suchte er über das Gitter hinweg die Straße ab, trat zögernd in den Garten hinaus und hatte kaum drei Schritte getan, als er unvermutet von hinten angerufen wurde: „Kommen Sie herein! Hier bin ich!“

Im dunklen Treppenhaus sah der Baron nur die Silhouette eines Mannes, ohne Einzelheiten unterscheiden zu können – der Gedanke, sich selbst zu retten, einfach davonzulaufen, blitzte verführerisch in ihm auf. Wie wollte der Kerl beweisen, daß ein anderer Mann vor ihm im Hause gewesen war? – Einmal im Dunkel des Tiergartens konnte nichts mehr passieren. Vor das eiserne Muß gestellt, selbst mit dem Erpresser fertig zu werden, besaß Mimi Schlauheit genug, sich irgendwie herauszulügen.

Die Zipfel des schwerenPelzmantels über die Knie gehoben, wollte sich Mangien schon losschnellen, als, von Mimi in der Etage angedreht, die Treppenbeleuchtung aufflammte und der Anblick der schlechtgekleideten, verdächtigen Gestalt jeden Gedanken an Flucht sofort ausschaltete. Einem Strolch durfte er sie nicht ausliefern – das änderte die Situation von Grund auf! Wozu auch ausreißen? – Auf einige hundert Mark mehr oder weniger kam es nicht an, der Handel konnte gleich auf der Straße abgeschlossen werden. Genügte der Bargeldvorrat dem Ehrenmann nicht, war auch das Scheckbuch bei der Hand.

„Wollen Sie sich herausbemühen ? Da unter die Laterne ...“

Ohne zu antworten wandte Abt sich entschlossen um und stieg langsam die Treppen empor.

Diese Festigkeit beunruhigte den Baron, eine beklemmende Vorahnung machte ihm den Entschluß schwer, freiwillig in das Haus zurückzukehren. Noch einmal irrte sein Blick voll Sehnsucht die menschenleere Straße entlang, zu dem lockenden Dunkel unter den Bäumen hinüber – – aber – es gab keine Möglichkeit! – In ihrer körperlichen Sicherheit bedroht, ließ nur ein Feigling seine Dame im Stich.

Der durchnäßte, triefende Schmutzfink stand schon mitten in Mimis Schlafzimmer, als ihn Mangien oben einholte. Auf dem hellen Teppich zerflossen schwarz seine Fußspuren – die klobigen Stiefel, das zerzauste Haar, die ganze rohgezimmerte Gestalt wirkte so aufreizend zwischen den feinen Möbeln, daß es Überwindung kostete, nicht gleich mit einer entsprechenden Anrede auf den ordinären Burschen loszufahren.

Auch Abt selbst fühlte peinlich den Gegensatz zwischen seiner plumpen, verwahrlosten Erscheinung und diesem gepflegten Interieur.

Das Gesicht gesenkt, sah er sich verstohlen im Zimmer um, musterte Teppiche, Spiegel, die seidene Decke auf dem offenen Bett – und die verblaßte Erinnerung an die Herrlichkeiten der Mangien-Villa lebte sofort auf, machte ihn zaghaft, bis sein Blick auf das verhaßte, rosige Knabengesicht des Barons fiel.

Zuerst wußte er nicht genau, was ihn eigentlich so sehr fesselte in diesem Antlitz. Seine Augen kamen nicht los von den glatten, zart getönten Wangen, – wie die rosigen Füßchen eines Säuglings, so unbenützt frisch war noch seine Haut.

„Immer – immer hat er es so schön gehabt!“ – dachte Abt mit einem raschen Rundblick durch den Raum, absichtlich bemüht, den Zorn in sich zu schüren, um endlich Mut zu finden zur ersten Attacke.

„Ich heiße Abt! Karl Abt!“ – stellte er sich vor, und es fuhr ihm wie ein heißes Eisen durch den Leib, daß kein Zucken im Gesicht Mangiens, keine Gebärde – nichts – das Aufleuchten einer Erinnerung verriet. Was war in diesem reichen Leben der Streit um eine Glaskugel, die kurze Freundschaft mit einem Bettelkind?

Scharfsichtiger als der Baron fühlte Mimi Brenken wachsende Beunruhigung. – Trotz der schäbigen Kleidung schien ihr Abt kein einfacher Erpresser zu sein, nicht Geldgier, eine unheimlich fanatische Gehässigkeit flammte in seinen Augen, so oft er den Blick auf Mangien richtete. Sie stellte sich absichtlich zwischen die beiden, so daß ihr verbindlich lächelndes Gesicht dem sprungbereit lauernden Menschen sein Opfer verdeckte: „Sie wollten doch den Baron sprechen? Bitte, hier ist er! Aber mein krankes Kind schläft nebenan, wecken Sie es mir nicht auf! Nur leise – nicht wahr?“

Wider Willen errötend, schlug Abt verlegen die Augen nieder. Was mischte sich die Frau in den Handel? Mit der hatte er nichts zu schaffen.

Auch der Baron fand das Eingreifen Mimis überflüssig – er schob sie beiseite und musterte spöttisch den kuriosen Burschen, der sich in dieser Situation zeremoniell vorgestellt. Wünschte er am Ende mit einem: „Sehr angenehm“ begrüßt zu werden?

„Wir wollen Ihre kostbare Zeit nicht länger als nötig in Anspruch nehmen. Darf ich fragen, wieviel Sie brauchen, um sich anderweitig angenehm bemerkbar zu machen?“

Alles Blut wich aus den Wangen Abts, vor seinen Augen flammten rote Lichter. Er sah die Hand Mangiens an die Brusttasche fahren, sah das herablassend arrogante Schmunzeln und stieß einen unartikulierten Laut aus, wie ein verwundetes Tier. Mit verzerrten Zügen warf er sich ganz nahe an den Baron, so daß ihre Gesichter einander beinahe berührten: „Ich huste auf Ihr Geld! Verstehen Sie? – Was kostet es Sie denn, ein paar Lappen aus der Brieftasche zu ziehen? Wo Sie die her haben, wachsen auch noch mehr – Sie brauchen nur zu pflücken. Das wäre ja bequem! So billig bin ich nicht!“

„Ich habe keine Summe genannt! Sie sollen gar nicht billig sein“ – –

„Ich brauche Ihr Geld nicht!“ schmetterte Abt jubilierend. „Heute nicht mehr! Bestraft sollen Sie werden! Piesacken will ich Sie, daß Sie Ihr Leben lang daran denken, was Sie mir, was Sie meiner armen Mutter –“ Seine Stimme überschlug sich, er wischte mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirne und knöpfte den Mantel auf, glühend vor Erregung.

Der Baron war unwillkürlich zurückgewichen vor dem keuchenden Haß, der ihm wie eine Stichflamme ins Gesicht schlug. Nun wußte er Bescheid. Das war ja derselbe Rüpel, der am Brandenburger Tor schon – Er mußte die ganze Zeit vor dem Hotel gelauert haben! – Es war aber auch Leichtsinn gewesen, ohne jede Vorsicht, ohne Wagenwechsel direkt zu Mimi gefahren zu sein – gewarnt von dem Benehmen dieses Narren. Um eine Erpressung ging es dem nicht! Ein Querkopf, der wahrscheinlich was angestellt hatte in der Fabrik.

„Sie sind offenbar der Meinung, ich hätte Ihnen unrecht getan – und wollen mich darum strafen? Bei einer Belegschaft von mehreren tausend Arbeitern kann ich unmöglich jeden Einzelfall prüfen. – Es kann sein, daß man Sie, ohne mein Wissen, unverdient entlassen hat. Statt mir zu drohen, erzählen Sie lieber Ihren Fall – es ist nie zu spät, ein Unrecht wieder gutzumachen.“

„Gutmachen?“ – wiederholte höhnisch Abt. – „Bitte! Machen Sie meinen Vater wieder lebendig, und meine arme Mutter!“

Der Baron stampfte ungeduldig mit dem Fuß.

„Ich habe Ihre Eltern doch nicht umgebracht.“

„I bewahre! Richtig mit Messer oder Revolver umgebracht haben Sie keinen! Das haben Sie ja nicht nötig! Dafür haben Sie die Gesetze, Richter, Advokaten, Polizei – ein großer Herr wie Sie macht nichts Unerlaubtes – mein Vater ist gejagt worden, bis er selbst Hand an sich legte, und wenn Sie hier nicht in der Patsche säßen – eins-zwei-drei hätten Sie mich hinter Schloß und Riegel. Meinen Sie, ich weiß nicht, was mir bevorstehen würde, könnten Sie mich nur erst aus dem Hause haben?“

Nein! Mit Entgegenkommen war bei dem Menschen nichts auszurichten. Das Beste war, man kehrte den Herrn heraus, das Parieren saß den Leuten im Blut.

„Hören Sie mal, mein Lieber! Ich will nicht in der Christnacht den schlechten Kerl machen, Sie tun mir leid, weil ich mir sage, daß es Ihnen verdammt dreckig gehen muß, sonst hätten Sie was Besseres anzufangen gewußt, als stundenlang vor dem Hotel zu stehen, im Regen. Vielleicht kann ich was für Sie tun – wenn Sie sich anständig benehmen. Großmäulig dürfen Sie mir aber nicht werden, sonst gehe ich da an den Apparat und rufe das nächste Polizeirevier an! Was auf Hausfriedensbruch und Erpressung steht, werden Sie wohl wissen.“

Wie Branntwein schlürfte Abt die Herausforderung. Oh, so war’s recht, so sollte der Herr Baron nur fortfahren!

„Nu man tau! Herr Baron! Bitte, telephonieren Sie doch! Einfacher, Sie reißen fix ein Fenster auf und ich brülle Ihnen selbst einen Grünen her! Oder soll ich auf der Treppe Krach schlagen? Ist sicher Dienerschaft genug im Haus. Keine Bange! Ich lasse mir die Hände binden. – Die Dame hat Ihnen den Schlüssel gewiß nur hinausgelegt, damit Sie ihr fröhliche Weihnachten wünschen. Wie peinlich, daß der Herr Major gerade verreist ist! Die Menschen sind ja so schlecht. Am Ende werden Sie noch verquatscht.“ –

„Hund!“ knirschte Mangien, von dem frechen Hohn außer sich gebracht, die Rechte unterwegs nach der Revolvertasche.

Aber sein Zorn berauschte Abt noch mehr, er stemmte herausfordernd den Brustkasten vor und jauchzte übermütig: „Ne Kugelspritze haben Sie auch? – Nur immer zu! Knallen Sie los! Was habe ich groß zu verlieren? Die verschwitzten Lumpen, meine dreckige Kammer und das Vergnügen, sechs Tage von sieben in der Fabrik zu rackern. Da! – Schauen Sie sich meine Pfoten mal an! – – Wenn Sie schießen, brauche ich Sie nicht länger zu zerfetzen – hab’ meine Ruh’ – aber Sie sitzen drin! Und die Dame auch! – Ich warte.“

Ohne Widerstand ließ sich Mangien den Browning von Mimi entwinden. „Ich habe keinen Grund, Ihren Tod zu wünschen“ – sagte er heiser – „Sie wollen mir um jeden Preis was antun, ich weiß noch immer nicht, warum. Sagen Sie es doch endlich klipp und klar, was soll ich eigentlich für Sie tun? Ohne eine bestimmte Absicht hätten Sie mir nicht aufgelauert. Von Geld wollen Sie nichts hören. Also was wünschen Sie?“

Das war die einzige Frage, die Abt in Verlegenheit bringen konnte. Er blickte zu Boden und stammelte: „Was ich – was ich wünsche?“ – – Seine Sicherheit war auf einmal wie weggeweht. Da blieben seine Augen im Umherirren an den blanken Lackschuhen, der tadellos gebügelten Hose des Barons haften. Unwillkürlich verglich er damit seine eigenen, klobigen Schnürstiefel, die ausgefransten, durchnäßten Hosen. Und da warf er mit einemmal den Kopf wieder hoch, selbst überrascht von dem Einfall, der ihm seine ganze Sicherheit zurückgab.

„Nicht viel, gar nicht viel will ich!“ – höhnte er triumphierend, das Gesicht strahlend vor Schadenfreude. „Einmal Herr sein, einmal befehlen – Ihnen befehlen will ich! Dreißig Jahre muß ich kuschen – und Sie haben nur zu befehlen. Heute soll es mal umgekehrt sein! Heute werden Sie parieren! Ist doch nicht zuviel verlangt, daß einmal, nach dreißig Jahren, der Herr Baron die Klappe halten soll. – – Es stehen Ihnen jetzt schon die Adern aus der Stirne und es sind noch lange keine dreißig Minuten, daß“ – – –

„Was schwatzen Sie da immerfort von dreißig Jahren?“ – barst der verhaltene Zorn aus Mangien. – „Vor dreißig Jahren habe ich mein Schaukelpferd geritten.“

„Weiß ich! Weiß ich! Weiß ich so gut wie Sie! Bin ja auf demselben Schaukelpferd gesessen – habe die große Ehre genossen, mit dem kleinen Herrn Baron spielen zu dürfen, bis –“

„Ach, Sie sind das? – – Wie sagten Sie ist Ihr Name? Haben Sie nicht? Aber ja! Jetzt entsinne ich mich genau: Ihre Mutter war Köchin. – Hat Ihnen mein Sekretär am Ende das Geld nicht geschickt? – – Dann ist die Sache verschlampt worden! Ich weiß bestimmt –“

Gewiß doch! Untertänigsten Dank dem Herrn Baron! „Die zehn Em sind richtig bei mir eingelangt, mit der Verwarnung, ja kein zweitesmal zu belästigen! Sind viel Geld, zehn Em! Mehr hat der Herr Baron wohl selber nicht!“

Er schlug ein häßliches Gelächter an, so laut, daß Mimi Brenken auf ihn zusprang und ihm die Hand auf den Mund gelegt hätte, wäre er nicht von selber verstummt. Zu früh Radau machen wollte er nicht – bewahre! Was hatte er davon, wenn es Skandal gab – ehe der Herr Baron vor ihm gedienert, sich klein gemacht und erniedrigt hatte? Das versprach den Hauptspaß!

Ganz leise, im Flüsterton – nur in den fahrigen Gebärden die schwer gemeisterte Wut, erzählte er ausführlich die Vorgeschichte seines Bettelbriefes, schilderte die Qualen der Mutter, die Verzweiflung, die ihn jeden Abend an den reichen Schaufenstern der Friedrichstadt vorbeigepeitscht hatte.

„Ein armer Prolet wie ich hat ja nichts zu verkaufen als seine Klauen. Mehr als arbeiten kann er nicht! Aber ein Arbeitstag bleibt immer nur ein Arbeitstag. Gerade, daß es zum Fressen und Schlafen langt – für Extraausgaben reicht’s nicht – das wird der Herr Baron selbst nicht leugnen können.“

Er sprach längst nicht mehr zu Mangien. Die realistische Beschreibung der Krankheit seiner Mutter hatte Eindruck auf Mimi gemacht. Der entsetzte Ausdruck ihrer blauen Augen wirkte aneifernd auf die Beredsamkeit Abts. Er verstummte nur, weil er, von der Erinnerung übermannt, nicht weiter konnte.

In die kurze, gespannte Stille fiel gerade das fröhliche Geklingel der alten französischen Spieluhr, die stündlich dieselben zierlichen Gavottetakte zirpte.

Aus seinem finsteren Brüten geschreckt, warf sich Abt überrascht herum und knurrte gallig: „Für so was gibt es freilich immer Geld genug! Für Uhren, die musizieren, für jeden Klimbim. Es müssen doch teure Bilder an der Wand hängen, und so ’ne chinesische Puppe, die darf auch, Gott bewahre, nicht fehlen. Nur für eine arme Frau, die fünfzig Jahre lang nie die Hände in den Schoß gelegt hat – für die sind allerhöchstens zehn Mark da! Reicht ihr das nicht, soll sie sich eben wundliegen, an das Bettuch hinkleben und die halbverharschte Haut wieder frisch aufreißen, sie hat ja immer nur gearbeitet. Mehr als zehn Mark ist die nicht wert!“ – – –

Der Baron zeichnete mit der Schuhspitze das Blumenmuster des Teppichs nach – und schwieg. Was sollte er diesem Desperado erwidern? Daß man bei einem täglichen Einlauf von zwanzig bis fünfzig Bettelbriefen unmöglich jeden Wunsch erfüllen konnte? – Da verlangt einer den Mietzins, um nicht auf die Straße gesetzt zu werden, ein anderer droht mit Selbstmord, hilft man ihm nicht mit ein paar tausend Mark, seinen alten, ehrlichen Namen vor der drohenden Pleite zu retten und jeder denkt, wie der rachsüchtige Narr da: auf die paar lumpigen Mark, die er so dringend nötig hätte, könne und dürfe es dem reichen Mangien nicht ankommen.

Das dem Wüterich begreiflich zu machen, wäre ein aussichtsloser Versuch gewesen. Da hieß es geschickt sein – lavieren und in allem nachgeben, bis es gelang, den Kerl aus dem Hause zu locken. Konnte sein Gebrüll kein Unheil mehr anrichten, dann stellte man ihn vor die Wahl: hier hast du einen Batzen Geld – aber gib Ruhe! Sonst rufe ich meinen Freund an im Polizeipräsidium, der versteht es glänzend, mit rabiaten Leuten fertig zu werden. Wie’s beliebt!

„Ich denke, Herr Abt, wir werden uns schon verständigen können – der eigentliche Schuldige ist mein Sekretär, dem werde ich auch gehörig meine Meinung sagen. – Hätte er sich die Arbeit weniger bequem gemacht und ausführlicher den Inhalt Ihres Briefes angegeben, die Qualen wären Ihrer armen Mutter erspart geblieben, das dürfen Sie mir glauben. Gutzumachen ist das leider nicht mehr! Aber wenn Sie mich begleiten wollen – ich muß nur erst“ – – –

„Ah? Sie meinen, ich soll von hier fort“, höhnte Abt. „Nee, Herr Baron, so dämlich bin ich noch lange nicht! Kommt nicht in Frage, aber schon gar nicht!“

„Ja, was wollen Sie denn zum Teufel? Ich frage jetzt zum letztenmal: wollen Sie Geld? Können Sie haben! Wollen Sie eine Anstellung? Ich bin gerne bereit, Ihnen zu einem besseren Einkommen oder mit einer Geldsumme zu einer selbständigen Existenz zu verhelfen – nicht etwa, weil ich den Roman fürchte, den Sie sich da ausgedacht haben, von einem herausgelegten Schlüssel und was weiß ich. Das Gewäsch läßt mich kalt! Sie selbst haben die Dame gezwungen, mich herzurufen, und möchten jetzt Kapital daraus schlagen, daß Ihr Wunsch erfüllt worden ist. Bange machen lasse ich mir nicht, das schlagen Sie sich aus dem Kopf! Aber um Ihrer Mutter willen, der ich ...“

Mit einem raschen Griff hatte Abt den zierlichen, hellgeblümten Stuhl in seiner Nähe hoch über den Kopf gehoben und vor die Türe gestellt. Rittlings – den Rücken gegen den nach innen sich öffnenden Flügel gelehnt, rekelte er sich wie einer, der nicht so bald wieder aufzustehen gedenkt. „Nun, dann können wir ja warten“ – grinste er gelassen. – „Den Herrn Major wird mein ,Roman‘ von dem Schlüssel schon interessieren! Wann kommt er denn zurück? Vor Montag wird nicht gearbeitet – ich habe Zeit. Es sitzt sich so ganz famos hier. Man wird mich schon nicht verhungern lassen in einem so noblen Haus.“

Der Baron und Mimi wechselten einen raschen Blick, beide erschreckt von der überlegenen Ruhe Abts. Als wäre seine Wut auf einmal verraucht, saß er, das kräftige Gebiß wie eine Bulldogge vorgeschoben. Seine kalte Entschlossenheit wirkte viel beängstigender als vorhin der fahrige, unbeherrschte Zorn: Mangien sah sich unwillkürlich nach dem Revolver um, den Mimi auf den Kaminsims gelegt hatte.

Dem Scharfblick Abts entging die flüchtige Kopfwendung nicht, er kicherte verächtlich und deutete auf den Browning: „Der wird Ihnen nicht aus der Patsche helfen – helfen kann hier nur ich – wenn ich will, aber dafür habe ich meinen festen Preis. Und wenn Sie mir ein Haus unter den Linden schenken, oder eine Farm in Südamerika – ich will, was ich will! Entweder Sie parieren – oder – es gibt einen Mordsskandal! Bitte, der Herr Baron kann wählen!“

Ich kann nicht wählen, ehe ich weiß, was Sie wollen!“ – knurrte Mangien verärgert, sogleich unterbrochen von dem boshaften Gelächter Abts: „Und nachher können Sie es erst recht nicht. Warum stellen Sie sich so begriffsstützig? Das ist doch Ihr Rezept: der eine befiehlt, und der andere kuscht und pariert – nur daß heute ausnahmsweise nicht Sie kommandieren. Heute steht die Welt Kopf! – Sehen Sie den kleinen, weißen Knopf dort an der Wand, und hier den garstigen, gespaltenen Nagel auf diesem schrundigen Zeigefinger? – Ein richtiger, schmutziger Proletenfinger. Aber wenn er auf die Klingel dort drückt, dann geht es dem Herrn Baron schlecht! Heute ist mal so’n Tag, daß der Prolet der Dienerschaft klingeln kann – also muß man ihm parieren! Das ist doch klar wie Stiefelwichse. Nicht?“

Die Augen Mangiens wanderten unruhig hin und her, von Abt zu Mimi und wieder zurück zu Abt: es war ihm nicht klar, wo der Kerl eigentlich hinauswollte.

„Passen Sie gut auf, Herr Baron!“ – jubilierte Abt. „Ich wünsche – oder nein: ich befehle, daß Sie drei Tage ganz wie ein armer Arbeiter leben. Sie sollen es einmal verkosten, wie schön es ist, ein gewöhnlicher Prolet zu sein! Nicht für lange! I bewahre. Ich will auch nicht den schlechten Kerl machen – nur so, wie Sie mir mit ein paar Banknoten das Maul stopfen wollten, nur so einen Eßlöffel voll Armut sollen Sie schlucken, vom Besten, von der Schlagsahne bloß: drei Feiertage ohne Arbeit – das ist doch nicht zu viel verlangt? Wenn der Klingelknopf da drüben wieder für Sie da wäre – – Hand aufs Herz, Herr Baron, wären Sie es zufrieden, daß man mich nach drei Tagen schon aus dem Loch befreit?“

Mangien begriff noch immer nicht, wollte nicht begreifen, wo das Geschwätz hinaus sollte. Er gab keine Antwort und machte ein so verständnisloses Gesicht, daß Abt sich an Mimi Brenken wandte: „Findet die Dame, daß ich unbescheiden bin? Dreißig Jahre lang war alles Gute für den Herrn Baron da! Die drei Feiertage will ich’s jetzt fein haben, und der Herr Baron soll in meine Haut hinein – das ist doch“ –

„In Ihre Haut?“ – explodierte Mangien – „lassen Sie endlich diese albernen Redensarten! Können Sie denn Ihre Haut ausziehen?“

„Richtig!“ – fiel Abt spöttisch ein und betrachtete nachdenklich seine vorgestreckten Hände: „Die Pelle muß ich mir schon behalten, ist dreißig Jahre lang gegerbt worden, von heut auf morgen heilen die Schrunden nicht. – Aber das tut nichts! In Ihren Handschuhen werden auch meine Schaufeln wie feine Kavalierspfötchen aussehen, und der Herr Baron wird es selbst nicht glauben, wie ähnlich er einem ordinären Proleten sein wird, hat er nur erst meine schäbigen Kleider an! So ’ne zerflickte Joppe und ein graues Hemd, da kann einer nach Belieben Baron sein ...“

„Was? ... Ich? Ich soll Ihre Kleider anziehen? Das werden Sie nicht erleben!“

„Sachte! Nur immer schön sachte, Herr Baron, vergessen Sie nicht das Knöpfchen da an der Wand! Wozu sich erst lange zieren, wenn man zuletzt doch klein beigeben muß? Immer ’rin ins Vergnügen! Graulen Sie sich vielleicht vor meinen Lumpen? – Nach Rosen duften sie zwar nicht – aber Sie hätten’s schlimmer treffen können, viel schlimmer! – – Ich habe nicht geheiratet, wie die anderen, nur um nicht ganz zu verschweinen – es kommt nicht so oft vor, daß ein Arbeiter seinen ganzen Lohn ganz allein auf sich verbrauchen kann! Sie bekommen eine Kammer für sich, meine Sonntagskluft hängt im Schrank – wenn Sie wollen, können Sie sich fein machen. Was wetten wir, daß Sie in Ihrer ganzen Fabrik keinen auftreiben, der Ihnen Besseres bieten könnte als ich?“

Dem Baron wurde beinahe übel, als er das zerknüllte, schmutzgraue Flanellhemd musterte. Er dachte an den Schweißgeruch, der immer in sein Auto hineinschlug, wenn er abends die Kolonnen seiner heimströmenden Arbeiter überholte. – Und er sollte – Er?

„Sie sind toll! Glauben Sie im Ernst, daß ich in diese Maskerade –“

„Zum Spaßmachen bin ich nicht hergekommen“, drohte Abt finster. „Hier in der Rocktasche steckt mein Arbeitsbuch, auf der ersten Seite finden Sie die Adresse. Da ist das Kuvert mit meinem ganzen Wochenverdienst – keinen Pfennig habe ich noch verbraucht. Einen Taler müssen Sie morgen früh der Alten geben, die Ihnen den Kaffee bringt; den Rest dürfen Sie in drei Tagen verjuxen, weil Sie es nun doch einmal besser gewöhnt sind. Sie sollen nicht sagen können, daß ich nicht nobel war. Zu Weihnachten hat meine Wirtin die Kammer gründlich gestöbert und das Bett rein bezogen. Denken Sie immer daran, was für ’nen Dusel Sie haben! Sonntagabend bekommen Sie alles zurück, Pelz, Kleider, Brieftasche – und auch Ihr Geld – was kann ich schon groß verbrauchen? Ich will keinen Profit! Ein ehrlicher Tausch. Ich gebe Ihnen vom Besten: drei arbeitsfreie Tage – und lebe so gut, wie es Ihnen immer geht – Weihnachten nur, dann zottle ich an meine Drehbank zurück und habe nichts gesehen und weiß von nichts, darauf können Sie sich verlassen! Ich halte dicht, wenn ich auch nur ein schmutziger Prolet bin. Auf mein Wort ist Verlaß. Die Dame braucht sich nicht zu ängstigen. Aber versuchen Sie nicht, mich zu prellen! Ich warne Sie! … Wenn Sie mich reinlegen, mache ich Ihnen einen Tanz, an den Sie Ihr Leben lang denken werden! Jetzt habe ich doch klar gesprochen. Das ist mein Preis! Wollen Sie ihn bezahlen, so hören Sie Ihr Lebtag nichts mehr von mir. Wenn nicht, trommle ich das ganze Haus zusammen. Der Herrgott ist nicht reich genug, mir anders mein Schweigen abzukaufen!“

Mangien stand verwirrt, mit halbgeöffnetem Mund. – Was war da zu tun? – Gab es wirklich keinen anderen Ausweg? Seine Augen suchten den Blick Mimis, aber sie sah verlegen an ihm vorbei, innerlich von der Ungeduld verzehrt, alle Wünsche des gefährlichen Gegners erfüllt zu sehen. Ihr wollte der rachsüchtige Mensch ja nichts anhaben. Es war Pflicht und Schuldigkeit Mangiens, die Gefahr, die er ihr auf den Hals gehetzt hatte, um jeden Preis abzuwehren.

Unauffällig kam sie näher an den Baron heran und tuschelte ihm flehentlich zu: „Je t’en supplie, cheri, fais semblant, je te donnerais des habits de Bodo, après.“

Mit gespielter Lustigkeit riß Mangien die Türe zum Badezimmer auf und stand stramm wie ein Lakai: „Bitte, hereinspaziert! Aber bitte, gehen Sie doch voraus! Nur nach Ihnen, selbstverständlich!“

Schon bereit, der Aufforderung zu folgen, ließ sich Abt wieder auf den Stuhl zurückfallen: „Nicht zu machen, Herr Baron! So ganz von heute bin ich nicht, wenn wir einmal von hier fort sind und ich nicht mehr da auf den Knopf drücken kann, sind Sie gleich wieder obenauf. Ein Wink an die Polizei, und man findet Ihre Sachen bei mir, erfindet einen Diebstahl oder ein Raubattentat, die Scherze kenne ich! Da muß alles haargenau ausgeknobelt werden, Schritt für Schritt, damit Sie mir nichts andrehen können! Ich warne Sie noch einmal! Von hier marschieren Sie schnurstracks zu mir hinaus und legen sich in die Klappe, für Kontrolle werde ich sorgen! Sollte meine Wirtin sich wundern oder sonst wer zu viel fragen, dann sind Sie mein Jugendfreund aus Hamburg, das ist übrigens nicht einmal ganz gelogen! Ob Sie sich Müller nennen oder Knepke, ist schnuppe, nur – mit dem Handwerk, da müssen Sie schon etwas vorsichtig sein. Mit Ihren rosigen Patschhändchen glaubt man Ihnen den Arbeiter nicht, aber sagen Sie: Schneidergesell, das geht! In Hamburg arbeitslos, wollen in Berlin auf die Suche gehen und dürfen über Weihnachten in meiner Kammer wohnen, weil Sie sonst nirgends Bleibe haben. Alles andere schiebe ich schon selbst, wenn ich zurück bin.

Das ist alles, glaube ich. Wie Sie Ihre Zeit totschlagen, ist mir egal! Bekanntschaften sind bald geschlossen da draußen. In die Stadt hinein wird es den Herrn Baron nicht ziehen, in der – „Maskerade“ – es gibt auch genug zu sehen bei uns! – Sollten Sie den Versuch wagen, mich reinzulegen, werden Sie Wunder erleben, das sage ich Ihnen noch ein letztes Mal! Und wenn Sie mich wie eine Katze im Spreekanal ersäufen lassen, der Skandal bleibt Ihnen doch nicht erspart, dafür habe ich schon vorgesorgt. Merken Sie sich das gut!“

Blaß vor Angst, ein leises Zittern in allen Gliedern, war Mimi ganz nahe an den Baron herangeschlichen, berührte von rückwärts seinen Arm und flehte flüsternd: „Va, chéri!“

„Also dann vorwärts!“ kommandierte Mangien, innerlich fest entschlossen, die Sache leicht zu nehmen. Aber es half aller gute Wille nicht. Als ihm aus nächster Nähe der saure Geruch der verregneten Kleider in die Nase stieg, trat er einen Schritt zurück, bezwang sich jedoch wieder, und wollte dem Hundskerl wenigstens die Schadenfreude verderben. Die Augen funkelnd vor Bosheit, legte er ihm die Hand auf die Schulter und fragte mit affektierter Besorgnis: „Hja, wie ist das? Haben Sie auch schon an sich selbst gedacht, Verehrtester? Ich werde einen ganz patenten Schneidergesellen hinstellen, daran zweifle ich nicht. Wie steht es aber mit Ihnen? Steckt man Sie ein, weil Sie nicht in meine Kleider hineinpassen, dann müssen Sie reinen Mund halten! Und wie soll ich Sie dann befreien? Will man Ihnen den Kavalier im Biberpelz nicht glauben, kann es leicht geschehen, daß ...“

„Nur keine Bange, Herr Baron!“ unterbrach ihn Abt mit derselben Vertraulichkeit. „Wenn Sie nur dicht halten, das übrige lassen Sie meine Sorge sein. In so ’nem feudalen Pelzmantel kann einer der größte Gauner sein, es traut sich doch keiner an ihn ’ran. Da nimmt man eher den Herrn Baron Mangien beim Kragen, nur weil er keinen anhat.“

IX.

In ihrem Schlafzimmer allein geblieben, horchte Mimi Brenken eine Zeitlang ängstlich an der Tür. Sie erriet aus dem hastigen Hin und Her die Ungeduld Mangiens, mit der unappetitlichen Operation des Kleiderwechsels so rasch als möglich fertig zu werden. Daß er sich vor ihr als Unterlegener in der beschämenden Verkleidung sehen lassen mußte, würde er ihr nie verzeihen, das sah Frau Mimi voraus. Nun die Gefahr des nächsten Skandals abgewehrt schien, flammte das ungelöschte Begehren neu in ihr auf.

Die Schläfen zwischen den Händen, saß sie grübelnd auf der Chaiselongue, als die Tür aufflog und mit heftigem Schwung der Baron ins Zimmer schnellte. In dem grauen, kragenlosen Flanellhemd ohne Schlips, den gepflegten Scheitel von der durchnäßten, schadhaften Mütze verdeckt, wirkte er auf Mimi so geschlechtslos wie ein Handwerker, den man durch die intimsten Räume der Wohnung stapfen sieht ohne von einem Gedanken an seine Männlichkeit inkommodiert zu werden. Sogar sein Gesicht schien verändert, irgendwie degradiert von der ordinären Kleidung. Mimi Brenken hielt sich an das geliebte Grübchen am Kinn, heftete den Blick auf seine schmalen, zärtlichen Hände; so nur gelang es ihr, das Widerstreben zu überwinden und mit erzwungener Unbefangenheit an ihn heranzutreten.

Aber seinen lauernden Augen war ihr Zurückweichen nicht entgangen; er sah den Schrecken in ihrem Gesicht. Er selbst war entsetzt von dem Bild, das ihm der große Spiegel im Badezimmer gezeigt hatte. Verzweifelt warf sie sich an seine Brust und protestierte: „Nein! So darfst du nicht bleiben! Das erlaube ich nicht! Laisse moi faire!“ zischelte sie vorsichtig und ließ das Badezimmer nicht aus dem Auge. Eine halbe Stunde, nicht länger, sollte Mangien sie mit dem gehässigen Menschen allein lassen und an der Straßenecke warten! Unter vier Augen wollte sie den Kerl schon drankriegen, sie war mit ganz anderen fertig geworden! Eine Frau hatte leichteres Spiel – – –

Angewidert schob der Baron sie zurück. Es ekelte ihn, daß sie gleich bereit war, mit dem ordinären Schmutzfink sich als Weib einzulassen. Er hörte auch nur mit halbem Ohr auf ihren komplizierten Plan mit Lichtsignalen und erneutem Kleidertausch mittels Bodos Garderobe, hatte nicht die geringste Lust, sich auf der Straße herumzutreiben, bis sie im Bibliothekszimmer den großen Kronleuchter anknipsen würde. Sah er die Fenster nur kurz aufflammen und gleich wieder erlöschen, so sollte er rasch davonlaufen und im finsteren Tiergarten versteckt bleiben, bis der Feind sich entfernt hatte. – Das alles schien vor allem darauf angelegt, ihn noch einmal heraufzulocken! Er aber hoffte ohne ihre Hilfe, mit ganz anderen, viel sympathischeren Mitteln den verdammten Erpresser loszuwerden. Nur erst mal aus dem Hause sein!

Der kleine Leitwitz würde gewiß besseren Rat wissen! Gerade wollte er spöttisch dankend auf Mimis weitere Mitwirkung verzichten, da erschien Abt im Türrahmen, als Gentleman verkleidet, den Zeigefinger drohend erhoben. Das emsige Getuschel hatte sein Mißtrauen geweckt. „Ich warne Sie noch einmal! Was Sie französisch miteinander flüstern, verstehe ich nicht. Aber es wird Ihnen schlecht bekommen, wenn Sie ...“

„Der Baron hat kein Wort gesagt!“ – unterbrach ihn Mimi hastig. – „Ich habe versucht, ihn zu überreden – Sie dürfen alles wissen, Herr – verzeihen Sie, wie war doch Ihr Name?“

Einige Sekunden lang blieb es still. Abt fühlte die prüfenden Blicke der schönen Frau auf sich ruhen, und dies Gemustertwerden machte ihn so verlegen, daß er nicht einmal seinen Namen über die Lippen brachte. Er hatte sich eben von Kopf bis Fuß im Spiegel betrachtet, und das Bewußtsein, als „Herr vor ihr zu stehen, nahm ihm die Unbefangenheit. Hölzern, wie eine Marionette, schlug er die Hacken aneinander und kippte ungeschickt vornüber, wider Willen bemüht, eine Verbeugung zu machen, die seinem geänderten Äußeren entsprach.

Frau Mimi beobachtete mit heimlicher Freude seine Unsicherheit, hoffte, leichtes Spiel zu haben mit dem schüchternen Elefanten. Beiläufig gleich groß wie Mangien, sah er überraschend gut aus in dem eleganten Anzug – so gut, daß es gar keine Überwindung mehr kostete, ihn mit der gewohnten Höflichkeit wie einen Besucher aus der eigenen Gesellschaftsschicht zu behandeln. Mimi wunderte sich selbst, wie leicht und selbstverständlich ihr die Ansprache „Herr Abt“ von der Zunge glitt.

Mit ihrem gewinnendsten Lächeln erklärte sie, ihre ganze Hoffnung sei nun „Herr Abt“, da der Baron es entschieden ablehne, sich hinter ihren Rockschößen zu verkriechen.

„Ich werde Sie bestimmt nicht für feig halten, Herr Abt, wenn Sie zu meiner Beruhigung den Baron vorausgehen lassen und mir noch ein paar Minuten Gesellschaft leisten. Die Herren schauen beide so wenig friedfertig drein: ich möchte es nicht zu einem Streit kommen lassen! Ein lauter Wortwechsel vor meinem Haustor könnte alles wieder verderben.“

Den Schluß hörte Abt nur mehr mit halbem Ohr, verwirrt von ihrer unbefangenen, natürlichen Liebenswürdigkeit. Ohne jeden Beiklang von Spott hatte sie „die Herren“ gesagt – genau wie vor dreißig Jahren die Frau Baronin von ihrem Sohn und dem kleinen Proleten, dessen Patin sie war, immer nur als von „den Kindern“ gesprochen hatte.

Mimi Brenken ließ sich die Gelegenheit nicht entgehen, rasch – ehe Abt Zeit fand, aus seiner Verträumtheit aufzuwachen, schob sie den Baron vor sich zur Tür hinaus und warf im Vorbeihuschen nur so leichthin die Erklärung zurück: „Ich sperre dem Baron das Tor auf. – Einen Augenblick!“

Wie gelähmt starrte Abt ihr nach. Es war ihm nicht recht, daß sie den Baron auf diese Art forteskamotierte – er wußte genau, daß er sich hatte übertölpeln lassen. Aber die Schlauheit der schönen Frau empörte ihn nicht, es war ihm beinahe angenehm, daß sie ihn so schmerzlos von seinem Widersacher losgelöst.

Den Baron hielt er wohl zu allem fähig. Nicht über den Weg traute er dem! Nur der Gedanke, daß er der Dame nicht die Polizei ins Haus schicken, auch nicht in der Nähe der Villa einen Straßenauflauf verursachen durfte, beruhigte einstweilen. Und weiter wollte Abt vorerst nicht denken! Es freute ihn, noch bleiben zu dürfen, und er versteckte seine großen Hände, die so unförmig aus den weißen Manschetten ragten, unwillkürlich hinter dem Rücken, als er Mimi wieder im Türrahmen auftauchen sah.

Da rollte ein dumpfer Donner durch das Haus. Blaß stand Mimi Brenken vor ihm, einen Augenblick ratlos, in stummer Bestürzung.

Hatte Mangien in seiner Wut sich vergessen und das Tor zugeworfen oder war es ihm zufällig aus der Hand geglitten? Jedenfalls war durch seine Unvorsichtigkeit die Dienerschaft alarmiert und durfte um keinen Preis die Anwesenheit des nächtlichen Gastes bemerken.

Ehe Abt begriff, was eigentlich vorging, hatte Mimi schon die Türe abgesperrt und langte nach dem elektrischen Kontakt. „Rühren Sie sich nicht! Keinen Laut! Sonst bin ich verloren!“

Verständnislos starrte er sie an, und sein Atem stockte, als die hereinstürzende Finsternis Bilder, Spiegel, den ganzen Reichtum fortfegte. Verschwunden war alles Trennende – nicht mehr der eingeschüchterte Knabe aus der Mangien-Villa – der Mechaniker Abt fühlte neben sich im Dunkel die schöne Frau.

Vergaß sie, daß er ein Mann war? – Auch nur aus Fleisch und Blut wie der andere, dessen Kleider er am Leibe trug! ... Woher nahm sie den Mut, sich mit ihm einzuschließen – das Licht abzudrehen? –

Vom Stuhle hochgeschnellt, die Hände zu griffigen Pranken gekrümmt, stand er vornübergebeugt – da klopfte draußen jemand an die Türe, und die Stimme des Dieners rief: „Frau Baronin! ... Frau Baronin! ... Haben Frau Baronin nicht gehört? Das Haustor ist zugefallen.“

Ohne Licht zu machen, mit kunstvoll verschleierter Stimme, als wäre sie eben aus dem Schlaf aufgefahren, heuchelte Mimi Brenken erst Erstaunen, dann Ärger und Ungeduld. Bis auf einmal das Lämpchen auf dem Nachttisch aufflammte.

„Ach, Sie haben geträumt!“ – brach sie ungeduldig die Unterhaltung durch die verschlossene Türe ab.

Oh, wie reute es ihn, daß er, eingeschüchtert, sie nicht genommen hatte, wie man derlei Weiber eben nahm! So schön sie nun auch war, das Begehren ebbte ab, Geringschätzung verdrängte den Respekt, als sie auf den Fußspitzen zur Türe schlich und mit angepreßtem Ohr hinaushorchte.

Der Diener suchte die ganze Wohnung nach Einbrechern ab, Mimi hörte ihn in das Herrenzimmer treten, den Kronleuchter andrehen und kurz darauf wieder auslöschen – genau wie sie es mit Mangien verabredet hatte. Der arme Friedl mußte glauben, sie gäbe ihm das Alarmzeichen! Daß er, einmal verjagt, zurückkehren und telephonisch bei ihr anfragen würde, war kaum zu erhoffen.

Ihre Enttäuschung wuchs, als auch Abt in schroffem Ton um seine Entlassung bat. Plötzlich wieder kalt und feindselig, war er schwer zu bewegen, noch zu bleiben, bis der Verdacht des Dieners geschwunden wäre. Trotz ihrer gesellschaftlichen Gewandtheit wurde es ihr anfangs nicht leicht, den mürrischen, einsilbigen Mann in ein Gespräch zu ziehen. Allmählich aber gingen ihre Fragen nach seinem schweren Schicksal in echte Teilnahme über, die Abt Schritt für Schritt gewann.

Es ärgerte sie nun wirklich, daß der einfältige Mensch, von seiner Wut verblendet, nicht etwas Vernünftigeres vom Baron gefordert hatte. Er hätte sich für immer aus seiner Armut herausheben, in eine andere, angenehmere Existenz emporschwingen können! Nach drei Tagen Probewohlstand würde ihm die Rückkehr in sein gewohntes Dasein nur um so bitterer werden! –

Der Baron war weder hart noch geizig! Rechtzeitig befreit, ehe die Rachsucht Abts ihn zu arg verärgert hätte, würde er gewiß mit sich reden lassen.

Ursprünglich ohne jeden Hintergedanken, wirklich nur aus Teilnahme angeregt, hatte sich ihr Vorschlag sehr rasch in den einzig denkbaren Rettungsplan gewandelt, der wenigstens für die zweite und letzte Nacht das Beisammensein mit Friedl vielleicht noch ermöglichen konnte!

Mit einer verächtlichen Handbewegung wies Abt den Gedanken von sich, für irgendwelche Vorteile den Baron freizugeben. Er wäre nie im Leben das Gefühl losgeworden, die Haut seiner armen Mutter verschachert zu haben. – Aber, schließlich lag ihm nichts daran, den Herrn Baron schon morgen freizugeben – statt am Sonntag erst. Wenn der Dame ein besonderer Gefallen damit geschähe – in Gottes Namen, so sollte denn der Baron mit den vierundzwanzig Stunden davonkommen. Was er an der Mutter verbrochen hatte, war mit drei Tagen ebensowenig abgebüßt.

„Bis morgen abend muß er aber schon warten! Bei Tag kann ich mich nicht draußen blicken lassen, in diesem Aufzug!“

Gerne hätte Mimi Brenken alle näheren Einzelheiten der Befreiung gleich durchbesprochen, aber sie fürchtete, Abt zu verstimmen, wenn sie zu sehr in ihn drang. Es war auch an der Zeit, ihn aus dem Hause zu lassen, ehe die Mädchen in die Mette gingen.

„Vergessen Sie Ihren Mantel nicht!“ – ermahnte sie ihn freundlich, beglückt über den unverhofften Erfolg.

Ihren Mantel?“ ... Sie hatte es bestimmt nicht spöttisch gemeint, und doch brachte es Abt nicht über sich, in ihrer Gegenwart den feudalen Pelz anzuziehen. – Er schlug das schwere Stück unter den Arm und kehrte sich rasch ab von der schönen, weißen Hand, die sie ihm entgegenstreckte.

„Nicht sprechen auf der Treppe!“ – hauchte sie ihm ins Ohr, und kaum hörbar, als sie sich schon anschickte, das Tor zu öffnen: „Auf Wiedersehen!“

„Wiedersehen?“ ... Wann und wo denn? – Er wandte sich zurück, die schmerzvoll spöttische Frage im Blick – aber da war das Tor schon zu – und er stand wieder zwischen den verschlossenen, finsteren Steinburgen, als hätte er das ganze siegreiche Eindringen nur geträumt.

Für eine Sekunde wurde es ihm rot vor den Augen, seine Faust schnellte in die Höhe, das ovale Guckfenster zu durchschlagen – aber da fiel ihm das ungewohnte Gewicht des schweren Pelzmantels in den Arm und brachte ihn noch rechtzeitig zur Besinnung.

X.

Der erste Chauffeur, der stadtwärts durch die Tiergartenstraße fuhr, zog die Bremse an, als er die elegante Silhouette des einsamen Fußgängers erblickte. Karl Abt sah sich nach allen Seiten um, und begriff erst, daß dies ihm selbst galt, nachdem er sich überzeugt hatte, daß weit und breit keine andere menschliche Gestalt durch den schütteren Nebel schritt.

Befriedigt folgte er der Aufforderung, von Herzen froh, nicht zu Fuß in die Stadt zu müssen, denn die blanken Lackschuhe preßten ihm bei jedem Schritt schmerzhaft die Zehen zusammen. Auch die feinen Wildlederhandschuhe platzten beinahe über den breiten, verarbeiteten Pranken, durften aber um keinen Preis abgestreift werden, sollte nicht jeder auf den ersten Blick den verkleideten Proleten erkennen.

Die Füße weit von sich gestreckt, lehnte Abt mißmutig in der Wagenecke und haderte mit dem Zufall, der, selbst wenn er sich einmal als gnädig erwies, sein Geschenk gerade auf die einzige Nacht aufsparen mußte, die in Berlin nicht viel belebter war als im letzten Provinznest ... Theater, Tingeltangel und Tanzdielen blieben am Heiligen Abend geschlossen – vielleicht, daß in der Friedrichstadt einige Lokale offen hielten für die Gäste der umliegenden großen Hotels. Er kannte eine Bar, die, nur für Amerikaner und andere reiche Ausländer erschwinglich, hinter dem Scheinbetrieb eines Restaurants den kostspieligsten Dirnen Berlins als Warenbörse diente. Als Zaungast hatte Karl Abt oft halbe Nächte lang vor dem Eingang dieser Sündenstätte ausgeharrt, um die gold- und silberbeschuhten Frauenbeine beim Besteigen der Autos mit den Blicken zu verschlingen.

Bei dem Gedanken, daß diesmal er selbst vielleicht hinter zwei herrlich gedrechselten Beinen aus der Bar schreiten würde, fiel es ihm siedheiß ein, daß er sein Geld noch nicht gezählt hatte. Am Ende war der Baron nur mit der Handvoll Kleingeld ausgegangen, das die linke Westentasche beschwerte? – Das Portefeuille sah durchaus nicht so vielversprechend aus, wie man sich die Brieftasche eines Millionärs vorstellt, aber der Inhalt enttäuschte nicht: hinter einigen Hundertmarkscheinen ruhte ein ansehnliches Dollarpäckchen.

Das Ziel war schnell erreicht. Der goldbetreßte Portier, der sonst denselben Karl Abt wie ein bissiger Hund ankläffte, wenn er zu dicht neben dem Eingang sich aufstellte – erstarb heute in Demut und Diensteifer, und nicht etwa nur aus Berechnung, nicht um des Trinkgeldes willen bloß – eine überzeugte Andacht leuchtete in seinen erloschenen Greisenaugen, als er ehrfurchtsvoll den kostbaren Biberpelz in Empfang nahm.

Dieselbe Erfahrung wiederholte sich drinnen im Saal: auch die befrackten Kellner führten einen wedelnden Ergebenheitsveitstanz auf. Lauter gesunde, arbeitskräftige Männer, übertrafen sie noch den Türsteher, der, verbraucht und erschöpft, wenigstens seine Angst vor Krankheit und Alter als Entschuldigung für sich hatte. Das war ein Stühleschieben und Tischerücken; Pantomimen der Hochachtung und des Diensteifers wurden aufgeführt.

Wirkliche Not lehrte solche Tänze nicht! ... Vor den lichtgeblendeten Augen Abts huschten die Gesichter entlassener Kameraden, plötzlich abgebauter Familienväter vorbei. Er dachte an seinen Freund, der sich im Kanal ertränkt hatte, um das Greinen seiner hungrigen Kinder nicht mehr zu hören, und bis zur letzten Stunde still bescheiden von Türe zu Türe gewandert war, ohne ein überflüssiges Wort zu verlieren, wenn er abgewiesen wurde. Dieses Zappeln und Sichverneigen lehrte nur der zu leichte Verdienst, die Gewohnheit, ohne Anstrengung von einer Arbeit zu leben, die eigentlich gar keine Arbeit war.

Abt fühlte sich selbst erniedrigt, es beschämte ihn, seinesgleichen so vor den Kleidern und der Brieftasche des Barons dienern zu sehen – er nahm schnell an dem erstbesten Tisch Platz, um dem lächerlichen Wettbewerb ein Ende zu machen. Als er aufblickte, sah er gerade gegenüber die große, schlanke Blondine sitzen, die er die „Stolze“ getauft hatte, weil sie immer mit hochmütig zurückgeworfenem Kopf aus dem Lokal trat und wie eine gekränkte Königin das Auto bestieg. Die war also da! ... Sie erwiderte sofort seinen Blick. Ein kalter Kitzel fuhr ihm über den Rücken. Aber es saßen noch viel schönere da – silberne und goldene Schuhe wippten, bis über die Knie enthüllte Beine in stramm gespannten, fleischfarbenen Seidenstrümpfen lockten von allen Seiten, er fühlte sich gemustert, mit Sachkenntnis eingeschätzt. Verlegen wie ein keusches Mädchen bestellte er: „Eine Flasche Sekt!“ – und seine Verwirrung wuchs, als der Kellner unbeweglich hinter ihm stehenblieb. Auf die Frage, welche „Marke“ er zu trinken wünsche, war er nicht gefaßt, wollte aber den gezierten Affen nichts merken lassen.

„Französischen! – Natürlich!“ warf er, ohne aufzuschauen, über die Schulter zurück, schroff zurechtweisend, als wäre er gekränkt. Zu spät wurde ihm klar, daß die Frage keine Unterschätzung bedeutete, war doch in der Weinkarte, die ihm der Kellner unter die Nase schob, eine ganze Seite mit unaussprechbaren Namen bedeckt! „Französische Schaumweine“ las er zu oberst und riß gereizt die Karte an sich. Wie hätte er wählen können, ohne heimlich belächelt zu werden für seine Aussprache, wäre er nicht so vorsichtig gewesen, die Handschuhe anzubehalten. So tupfte er mit dem Zeigefinger stumm auf die Zeile mit der höchsten Preisziffer und atmete befreit auf, als er den lästigen Burschen – endlich befriedigt – mit fliegenden Frackschößen durch den Saal schießen sah.

Er wollte lustig sein! Jedes Mädchen, das, von dem bekannten Flaschenhals der teuren Sektmarke angelockt, zu seinem Tisch kam, erhielt sofort ein Glas vorgesetzt, so daß bald ein ganzer Damenkranz um den freigebigen Gast versammelt war. Von allen Seiten wurde ihm zugetrunken, der Wein glühte und trommelte in seinen Schläfen – und doch gelang es ihm nicht, die Hemmungen abzuschütteln, die ihm die Freude vergällten. Da rieb sich nun die „Stolze“ wie eine schnurrende Katze an ihn, er roch ihr Parfüm, sah bis hoch über die Knie ihre kerzengeraden, schlanken Beine – aber ihre rauhe, vertrunkene Stimme, die plumpe Geldgier, die ihre kostbaren Kleider Lügen strafte, alles erinnerte ihn nur an die völlig andere Welt zwischen den seidebespannten Zimmerwänden der Frau Major, an die sichere, unbefangene Liebenswürdigkeit und den leisen Duft, der aus dem glatten, einfachen Hauskleid unvergleichlich verführerischer lockte als das aufdringliche Benehmen der aufgedonnerten Dirnen. Wie in dem zu engen Handschuh seine verarbeitete Faust, steckten auch in den teueren Kleidern nur arme Vorstadtkinder, in Seide gepackt, weil sie dem Vergnügen der reichen Herren dienten. Statt in der Fabrik – im Bett! – – Ohne die Livree, den nackten Leib zu kaufen – mit dem Geld des Barons, widerstrebte Abt wie eine Art Blutschande! – – –

Es war keine leichte Aufgabe, die „Stolze“ loszuwerden - der kalte Nachtwind draußen tat wohl, wie nach einem Aufenthalt in der gemeinsten, übelriechenden Hafenkneipe – und doch hatte Abt die Friedrichstraße kaum erreicht, als er seine dumme „Zimperlichkeit“ schon bereute. Was konnten die armen, geschminkten Dinger dafür, daß sie nicht wohlbehütet in einer Tiergartenvilla saßen? Da war es leicht, fein und vornehm zu sein, und – wie eine Köchin für den Schatz den Hausschlüssel vors Tor zu legen! – Wäre die schwer lastende, lähmende Verstimmung nicht gewesen – er wäre aus bloßem Trotz in das Lokal zurückgekehrt und hätte doch noch ein Mädchen mitgenommen, irgendwo mußte er ja schließlich für die Nacht unterschlüpfen, um die verdammten Lackschuhe von den Füßen herunterzubekommen.

Gegen einen Laternenpfahl gelehnt, suchte er seine armen, wie von glühenden Klingen durchwühlten Sohlen abwechselnd zu entlasten – sah ratlos die spärlichen Fahrzeuge vorbeirollen. bis ihm auf einmal ein rettender Gedanke durch den Kopf schoß. Wieder kam ihm der Kintopp zu Hilfe: er hielt mit einer lässigen Armbewegung das erste unbesetzte Taxi an und ließ sich vor den Bahnhof Friedrichstraße fahren.

Er hatte, weiß Gott wann, ein dämliches Lustspiel gesehen, dessen Held, unterwegs bestohlen, ohne Gepäck in New York angekommen war. Was sonst den tolpatschigen Kerl im Film aus dem Regen in die Traufe hetzte, das war natürlich blanker Unsinn. Aber die entrüstete Gebärde des Hoteldirektors und seine überströmende Höflichkeit, als statt des mangelnden Gepäcks die volle Brieftasche als Sicherstellung angeboten wurde – diese Episode in die Wirklichkeit zu übersetzen, wartete jetzt Abt die Ankunft eines Fernzugs ab, suchte sich von der Fahrplantafel eine Abfahrtsstation aus und humpelte in das nächste große Hotel hinüber.

Alles ging über Erstaunen gut – nachlässig stopfte er die Quittung für die deponierten zweihundert Dollar in die Tasche, angenehm überrascht von seiner Begabung, den Leuten etwas vorzuflunkern. Fast glaubte er selbst schon, sein „Gepäck“ sei ihm gestohlen worden, spielte sich wie ein Schauspieler den Ärger über den peinlichen Verlust vor und nahm mit erfreuter Miene zur Kenntnis, daß ihn der Hotelfriseur, trotz des Feiertags, mit den nötigen Toilettenartikeln versorgen werde. Nur ganz zuletzt hätte er sich beinahe doch verraten, überrascht von der Frage, ob er auch ein Bad wünsche? Daß in dem großen, vornehmen Hause nicht so prompt ein Bad zu bekommen war – kam ihm sonderbar vor, und er begriff es erst richtig, als der Kellner eine Seitentür aufstieß, und das angedrehte Licht auf hellen Porzellanwänden und blanken Nickelröhren spielte.

Die gleichen geschliffenen Spiegel – derselbe schwarzweiß gewürfelte Fußboden – die schneeweiße viereckige Wanne, auch hier in eine Nische eingebaut – sogar die Lage, rechter Hand vom Bett und gegenüber der Zimmertüre – alles war genau wie bei der schönen Frau. Aber Abt wurde zur Besinnung gebracht von dem stechenden Schmerz in seinen gefolterten Füßen. Fluchend schleuderte er die verdammten Marterwerkzeuge von sich, rieb und knetete die Zehen, ohne sich um den Kellner zu kümmern – der mit schuldigem Respekt den prächtigen Pelz über einen Bügel legte und zum Kleiderständer trug.

Es wirkte peinlich auf das Stilgefühl dieses Mannes, der in der nobelsten Etage des Hauses Dienst tat, einen Kavalier mit Biberpelz und Dollardepot in Strumpfsocken herumgehen zu sehen. Vielleicht konnte das Zimmermädchen mit ein Paar Pantoffeln aushelfen? Auch nach einem Schlafanzug wollte der gefällige junge Mann Ausschau halten – und er zeigte sich aufrichtig überrascht, als Abt den vermeintlichen Wink mit dem Zaunpfahl mit der Überreichung eines Dreimarkstückes honorierte. Daß man ernstlich Hausschuhe für nötig halten konnte in einem Zimmer, das bis in die hintersten Ecken mit Teppich belegt war, klang scherzhaft für Karl Abt, der ohne Bedenken barfuß über den Bretterboden seiner Kammer und, wenn er gerade Eile hatte, auch über die Steinfliesen des Korridors ging. Überrascht nahm er ein Paar prächtige, grün gefütterte Pantoffeln aus feinstem Leder in Empfang, und wanderte eine Weile neugierig im Zimmer umher, den ungewohnten Genuß auszukosten.

Das Schönste war aber doch das Bad in der glatten, blütenweißen Wanne. Wie in einer Luftschiffgondel fühlte er sich. Selten nur rollte unten ein Auto vorbei oder eine Lokomotive pfiff. Sonst war es still, kein Säuglingsgeschrei, kein Küchengeruch, als gäbe es überhaupt keine Nachbarschaft, so wunderbar allein lag er in der großen, appetitlichen Wanne, befreit von der Last des eigenen Körpers, als lösten sich seine Glieder langsam auf in dem heißen Wasser.

Welcher Widersinn überall! – Wer verrußt, von Schmutz und Schweiß harter körperlicher Arbeit besudelt, nach Hause kam – konnte bestenfalls jeden Samstag hastig sich abreiben im Volksbad, gedrängt von der Polonaise der Nachfolger, die nach fünf Minuten schon ungeduldig an der Türe trommelten! Und gerade' wer gar nicht die Gelegenheit hatte, richtig schmutzig zu werden, mußte das Bad immer bereit haben, auch wenn er für eine Nacht im Hotel abstieg.

„Schluß!“ schnauzte er sich selbst an, aber das große, wollige Badetuch, das raffinierterweise auch noch vorgewärmt war, machte den guten Vorsatz gleich wieder zunichte, erinnerte ihn an das graue, kaltfeuchte Handtuch, das er nächsten Samstag wieder hin und her drehen würde nach einem trockenen Fleckchen!

Wen hatte er eigentlich bestraft? – Den Baron doch nicht! Der würde sich nach drei Tagen rasch in die Wanne legen und jede Erinnerung an den flüchtig gestreiften Schmutz vom heißen Wasser aus den Poren laugen lassen, glücklich, die Heimsuchung hinter sich zu haben, wie man froh aus einem bösen Traum erwacht.

Bestraft war, wie immer, nur der Arme – der Arbeiter Karl Abt, der zurück mußte in den Lärm und Gestank der verhaßten Zinskaserne! Sich selbst hatte er verurteilt, von allem zu kosten, was nicht sein eigen bleiben konnte.

Wozu aber nachträglich räsonieren? Auch die kurze Freude sich noch verderben? Als bliebe nicht Zeit – oh, Zeit die Fülle zum Nachdenken und – zur Reue. Denn wahrhaftig, in dem Punkte hatte die schöne Frau Major recht gehabt: man mußte schon mit Dummheit geschlagen sein, um aus einer nie wiederkehrenden, einzigen Gelegenheit, wie diese, nichts als die alberne „Maskerade“ für sich herauszuschinden!

Was er eigentlich hätte verlangen sollen, darüber dachte Abt nicht nach. Mit der Erinnerung an die schöne Frau tauchte auch das geschlossene Haustor mit dem ovalen Fenster wieder auf, und das wehe Gefühl der Leere, als wäre ihm etwas Kostbares in der Hand zerronnen.

Der Kühle des feinen Leinens hingegeben, wühlte er sich tief hinein in das weiche Bett, knipste das Lämpchen auf dem Nachtisch aus und glitt rasch in ein Gewirr erregender Träume.

XI.

Dreimal mußte der Hotelfriseur seine hochgetürmte Mustersammlung von Seifen, Flaschen, Dosen, Kämmen und Bürsten unverrichteter Dinge in den Laden zurückbalancieren – der bestohlene Provinzonkel schlief so fest, daß man ihm auch das Bett unter dem Leib hätte forttragen können. Aber die Aussicht war zu verlockend, den feinen Gast von Grund auf mit allen nötigen Toilettenartikeln auszustaffieren – der Mann hatte sich ja wohl nicht ein Zimmer mit Privatbad geben lassen, um drei Tage lang wie ein Höhlenbewohner zu leben? Nach zwölf Uhr gab es in ganz Berlin keine Zahnbürste mehr zu kaufen, es war Menschenpflicht sozusagen, und höchstwahrscheinlich auch lohnend zugleich, den vierten Besuch nicht aufzugeben.

„Frau Wiedler, sind Sie’s?“ – rief Abt schlaftrunken auf das Pochen des Friseurs, und schwang sich aus dem Bett, stöhnte aber laut auf vor Schmerz, so heftig stießen seine Füße gegen den ungewohnt nahen Boden, der sich zum Glück überraschend weich gegen die Sohlen stemmte. Nebenan im Lichtstreifen lag ein grün gefütterter Pantoffel – – ein Schneehaufen, vor den Bettrand gekehrt, entpuppte sich als Badetuch, das er beim Schlafengehen einfach abgeworfen hatte.

Mit einem Schlag wußte er wieder alles. Die Erlebnisse des Vorabends stürmten ungeordnet auf ihn ein: der Baron – das Schlafzimmer bei der schönen Frau – die Männerstimme und das hartnäckige Pochen jagten ihm den Gedanken durch den Kopf, Mangien könnte schon die Geheimpolizei auf seine Spur gehetzt haben. Rasch hüllte er sich in das Badetuch, schlüpfte in die Pantoffel, ließ sich durch die geschlossene Türe genauen Bescheid geben, dann erst sperrte er auf. Nach dem Schrecken begrüßte er den Haarkünstler mit erleichtertem Aufatmen. In den engen Rasierstuben draußen in seiner Welt duzten sich die Inhaber mit ihren Gästen, und niemand kam auf den Gedanken, besondere Ehrfurchtsbezeugungen zu fordern für das Geld, das er für das Rasiertwerden bezahlte. Wie Türsteher und Chauffeure am Vorabend hielt sich aber selbst dieser wohlhabende Ladenbesitzer und Bourgeois für verpflichtet, den Untergeordneten zu spielen im Verkehr mit dem Kunden, dessen Reichtum er viel höher schätzte als seinen eigenen Besitz. Allerdings gab er seine Hochachtung nicht umsonst. Geduldig ließ Abt sich Gummischwamm, Kamm und Bürste, die teuersten Lotionen, Seifen und Tuben anhängen, mochte der Mann getrost meinen, er habe einen Dummen gefunden: diese einzige Gelegenheit, auf Kosten des Barons einzukaufen, mußte ausgenützt werden.

Wider Erwarten fand es Abt auch nicht unangenehm, so lange an sich herumbasteln zu lassen. Er wurde rasiert, geschoren, gewaschen, mit duftigen Essenzen und Pomaden eingerieben, und hörte nur mit halbem Ohr auf das pausenlos sprudelnde Geschwätz, das wie ein lauer Regen auf ihn niederplätscherte. Seine Gedanken schweiften zurück zum Baron, er dachte an die schönen Arme der Frau Major, die so blendend weiß aus der roten Seide hervorgeleuchtet hatten, sah zwischendurch im Spiegel seine struppigen Haare weich und hell werden und zu einem tadellosen Scheitel sich ordnen – und fuhr ärgerlich auf, beschämt über seinen Einfall: so zurechtgemacht könnte er vielleicht einen viel günstigeren Eindruck auf die Dame machen.

Er wurde vollends grob vor Schrecken, als der unersättliche Geschäftsmann ihm auch noch die Nägel pflegen wollte. Die Hände unter das Badetuch zurückgezogen, erklärte er schroff, seine Zeit sei nicht gestohlen; er hatte auch Hunger, war seit dem Abendessen bei Frau Schütze nüchtern und es ging auf Mittag.

Bestochen von der unverhofft hohen Einnahme, schoß der Friseur sofort an den Schreibtisch und bestellte telephonisch das Frühstück. Abt selbst hätte nie daran gedacht, zu dem Morgenkaffee zwei Eier im Glas und auch noch eine Platte mit kaltem Fleisch zu fordern. Es war eine aufregende Überraschung, daß der kleine Apparat an das Stadtnetz angeschlossen werden konnte! ... Es war also möglich, ohne aus dem Zimmer zu treten, da vom Tisch aus die Frau Major anzurufen – – mit ihr zu sprechen, zu zweit – wie gestern! – Vielleicht – vielleicht ließ sich ein Vorwand finden? Es war ja eigentlich nichts fest ausgemacht worden! Schon das Bewußtsein, ihre Stimme an das andere Drahtende knüpfen zu können, war ein Geschenk – die Versuchung, es sofort zu probieren, ließ das Blut rascher kreisen – ganz, ganz leise meldete sich auch der Gedanke, noch einmal hinzugehen – persönlich Abschied zu nehmen. Hatte sie nicht „Auf Wiedersehen!“ gesagt?

Als alles Eßbare mit Heißhunger vertilgt war, steckte Abt die letzte dicke Zigarette aus der goldenen Dose Mangiens an, lehnte zufrieden in dem prächtigen Armstuhl und streichelte mit zärtlichen Blicken den Telephonapparat, der ihm jeden Augenblick seinen Wunsch erfüllen konnte. Nichts störte sein Behagen, als der betrübliche Gedanke, daß er niemand teilhaben lassen konnte an seinem Wohlleben. Da war dies blasse, blutarme Gesichtchen der blonden Frieda aus der chemischen Färberei, umsonst verspottete sie das ganze Haus, sie wußte es selbst, daß sie in ihren ausgetretenen Schuhen und verwaschenen Blusen keine Aussichten bei dem mit Recht verhöhnten Narren hatte, der sich, wie man sagte, für „zu gut“ hielt für seinesgleichen. Sie war doch froh, wenn er ihr erlaubte, seine Kleider in Ordnung zu halten. Wie hätte er sich jetzt herrlich revanchieren können für alles, wäre es nicht ganz und gar unmöglich gewesen, sich in den Kleidern, in dem Pelzmantel des Barons vor ihr sehen zu lassen! Sie hätte denken müssen, er habe einen Mord oder wenigstens einen Einbruch begangen.

Das einzige, was er für sie tun konnte, war, ihr ein Theaterbillett zu schicken; sie ging für ihr Leben gern ins Theater, sollte einmal bequem auf einem feinen Platz sitzen, statt sich die armen, schwachen Beinchen in den Leib zu stehen, nach der Fabrik auch am Abend, auch zu ihrem Vergnügen noch! – Er wollte ihr ein recht nettes, lustiges Stück aussuchen, verlangte telephonisch eine Zeitung, Briefpapier und Zigaretten, und blieb dann erwartungsvoll sitzen, ein verlegenes Lächeln um den Mund, wie ein beschenktes Kind, das zögernd nach dem neuen Spielzeug greift.

War das nicht wie im Märchen? – – Man wollte etwas haben, ging es aber nicht holen, ließ alles zu sich kommen, sprach seinen Wunsch in den Trichter hinein und saß da, fremde Beine liefen und schafften herbei, was immer man gefordert hatte. Wem das Geld nicht ausging, lebte im Schlaraffenland, brauchte nicht an der Zauberlampe zu reiben, nahm nur das Telephon vor den Mund, und statt des Riesen stürzte ein Junge mit silbernen Knöpfen herein, brachte Zeitung, Schreibpapier, Zigaretten, lief gleich wieder davon, einen Theaterplatz zu besorgen, stellte sich an, drängelte, harrte aus, bis er das Gewünschte erobert hatte. Nur Geld gehörte dazu. Geld! Dann genügte ein Griff, und die Tauben flogen gebraten in den Mund – wahrhaftig!

Wer gewöhnt war, sich selbst zu rühren, jede kleinste Freude erst lange zu ersehnen und schwer zu erringen wie Abt, konnte nicht ohne Unlust alles gleich in eine nüchterne Preisfrage verwandelt sehen, wie Doktor Landau es so oft dargestellt hatte. Was sollte da noch reizen? Nur die halbe Stunde in Gesellschaft der schönen Frau, die war für Geld nicht noch einmal zu haben, und lockte darum erst recht als einziger Blick in die verschlossene Welt hinüber, die Pelzmantel und Brieftasche allein nicht zu erschließen vermochten.

Sonst gab es nichts zu versäumen – der Verzicht auf die zwei Tage war kein Opfer, noch eine Nacht im Hotel – noch eine Flasche Sekt – wozu? – – In zwei Zeilen kündigte er Mangien seine Befreiung an und ließ durch einen Dienstmann den Brief hinausschaffen. Eine einzige Sorge nur erschwerte die Rückkehr in die „eigene Haut“: Abt fürchtete einen Hinterhalt – wurde den Gedanken nicht los, der Baron könnte ihm die Geheimpolizei auf den Hals gehetzt haben – nichts war einfacher, als ihn abfangen zu lassen, wenn er im Finstern heimkam.

Kurz entschlossen setzte er denn einen Brief an Doktor Landau auf, warf aber einen Versuch nach dem andern vorsichtig zerschnitzelt in den Papierkorb, ehe es ihm endlich gelang, kurz zusammengefaßt sein Abenteuer anzudeuten, ohne jedoch zu verraten, was er versprochen hatte, geheimzuhalten. In diesen Brief legte er ein zusammengefaltetes Zettelchen, das Namen und Adresse der Frau Major enthielt und die dringende Bitte, bei der Polizei einzuschreiten und mit der Enthüllung der vollen Wahrheit zu drohen, wenn Karl Abt nicht innerhalb eines Tages freigelassen würde. Auf den Doktor durfte man bauen! Der ging wie ein scharfer Jagdhund los, wenn einem Wehrlosen Unrecht getan wurde, schonte seine Person und sein Geld nicht – zugleich viel zu ernst und zu beschäftigt, aus bloßer Neugierde den Zettel zu öffnen, ehe die gestellte Frist abgelaufen wäre.

Der Bericht an den Doktor Landau hatte keine Eile, kam reichlich zurecht, wurde er gegen abends in den Briefkasten geworfen. Bei Gott, Abt wußte nichts, wofür es gelohnt hätte, vorzeitig in die grausam engen Lackschuhe zu schlüpfen. Wozu ausgehen – und wohin? – Das Schönste war doch das große kühle Bett und die prächtige Badewanne! Schlafen – essen – baden, einmal richtig ausfaulenzen. – Nur die Erinnerung an den Abschied von der schönen Frau – das leise Heimweh nach ihrer Nähe wollte nicht verstummen – ein Lichtstrahl der fahlen Wintersonne fiel auf den Telephonapparat – –

Warum nicht probieren? – – –

Mehr als schief gehen konnte es nicht!

Niemand im Hause erinnerte sich, die Frau Major jemals so übler Laune gesehen zu haben. Stunde um Stunde verstrich – der Mittagstisch war längst gedeckt, und Friedl meldete sich nicht.

In diese verzweifelte Erwartung schrillte erlösend die Telephonglocke, und die Enttäuschung der armen Mimi war groß, als statt der ersehnten Stimme Abt sich meldete, aus dessen Gestammel sie anfangs gar nicht klug wurde. Bis ihr auf einmal der Gedanke durch den Kopf blitzte, seine Vermittlung in Anspruch zu nehmen. Er versprach, den Gefangenen sofort zu befreien, unmittelbar nach dem kurzen Abschiedsbesuch, den er als einzige Entschädigung begehrte. Übrigens war der arme Kerl ganz ungefährlich, hatte weiß Gott nichts von einem Satyr an sich, wagte die Augen kaum aufzuschlagen – er sollte kommen in Gottes Namen.

Abt hielt noch lange den Hörer am Ohr, so schwer wurde ihm die Trennung von Mimis Stimme. Bis halb neun war es noch lange: acht volle Stunden – das Klügste blieb, sie zu verschlafen! Er bestellte sich für sechs ein feines Essen, ohne jedes Getränk, weil er nicht nach Wein riechen wollte – dann kroch er befriedigt ins Bett zurück, ganz sicher, rechtzeitig geweckt zu werden. Das Tongewirr der Friedrichstraße wiegte ihn bald in Schlaf – als der Kellner an der Türe pochte, war es längst finster, die Lichter der vorbeiflitzenden Automobile liefen wie flinke Käfer über die Zimmerdecke – es blieb ihm gerade Zeit, nach der üppigen Mahlzeit, im Dunkel ausgestreckt, eine Zigarette zu rauchen, ehe er zum letztenmal in die prächtige Badewanne stieg und dann mit größter Sorgfalt Toilette machte.

Dem beiligen Vorsatz, die schöne Frau nicht wieder mit Anklagen und der Schilderung seines trostlosen Lebens zu langweilen, wurde Karl Abt bald untreu, weil Mimi Brenken das Gespräch gleich mit der Frage begonnen hatte, ob sie sich nicht doch nach einem Chauffeurposten für ihn umschauen sollte – wenn er schon bei seiner unvernünftigen Weigerung verharrte, vom Baron keine Hilfe anzunehmen.

Die Unterhaltung kam nicht recht in Gang, weil sich die sonst so weltgewandte Mimi von der Überraschung nicht erholen konnte.

War das der plumpe, verwahrloste Wüterich von gestern? – Er schien ihr über Nacht in die elegante Kleidung hineingewachsen. Der gepflegte, seidig glänzende Scheitel gab dem Gesicht einen anderen Ausdruck, die ganze Erscheinung hatte etwas verblüffend Kultiviertes: das war ein sympathisch-bescheidener, gewinnend linkischer Mann – nicht vierschrötiger als auch Sportsleute, Landwirte und Offiziere in städtischer Zivilkleidung oft wirkten.

Vergebens suchte sie das Bild vom Vorabend, das wutverzerrte Gesicht unter dem durchnäßten. strähnigen Haarschopf in die Erinnerung zurückzuzwingen: der Gedanke an das kragenlose, graue Wollhemd und die klobigen Schuhe erweckte nur das erschreckend veränderte Gesicht des armen, unglücklich entstellten Friedl Mangien. Der Mann ihr gegenüber verwirrte sie, eingeschüchtert von ihrem Schweigen brachte auch Abt kein Wort mehr über die Lippen.

In diese Verlegenheitspause surrte vom Kamin her die Spieluhr, schlug erst neun und bimmelte dann die alte Gavotte. Unwillkürlich blickten beide nach der Stelle hin, wo der Baron gestanden war, schlugen rasch die Augen nieder und wurden noch befangener – bis Abt endlich zögernd aufstand, ungeschickt etwas von „Dank“ stotterte und die Knie unter sich einknicken fühlte, als er ihre weiße, buntberingte Hand, zum Abschied vorgestreckt, ganz nahe an sich herankommen sah.

Er hatte die Handschuhe, so eng sie ihm waren, nicht ausgezogen – beugte sich langsam vor – sog von weitem gierig den Hyazinthenduft in sich ein – schon im Begriff, sich auf die lockende Beute zu stürzen – als Mimi ihn plötzlich zurückstieß und aus dem Zimmer lief.

Mit wild rollenden Augen, einen erstickten Wutschrei in der Kehle, starrte er ihr nach.

Spiel? ... Freches, durchtriebenes Spiel, um ihn sicher in die Falle zu locken?

Er reckte sich hoch, sammelte alle Kraft, wollte sich auf den Baron stürzen und ihm die Faust in das triumphierend feixende Gesicht schmettern, mochte nachher kommen, was da wollte!

Aber kein Mann trat ein – nur Mimi wankte durch die Türe, sah ihn groß an und jammerte:

„Hören Sie nicht? – Ein Auto. Mein Gatte!“ – – – Nein, das war keine Falle! Ihr aschfahles, schreckentstelltes Gesicht strömte Entschlußkraft in die erstarrten Glieder Abts, er wollte helfen – sie retten vor Gefahr – zog den schweren Pelzmantel hinter sich her wie eine Schleppe und drängte zur Tür. „Das Eckzimmer nach dem Garten?“ – „Rasch! Rasch! Wo ist es?“ – – flüsterte er mit fliegendem Atem. – „Dort habe ich gestern am Blitzableiter hoch wollen. Dorthin! – Zum vorletzten Fenster! Rasch!“ –

Sie lief voraus – mit fahrigen Händen zerrten sie an den Riegeln, hemmten sich gegenseitig, so daß schier eine Ewigkeit verging, ehe das Fenster endlich offenstand. – In der kopflosen Hast kam Abt nicht auf den Gedanken, den Pelz hinunterzuwerfen – rittlings auf dem Sims, einen Fuß schon im Freien, kämpfte er verzweifelt mit der schweren Masse.

„Er ist schon da! – Zu spät!“ stöhnte Mimi, zwischen Türe und Fenster hin- und herjagend. – „Ich bin verloren!“

Angefeuert von ihrem verzweifelten Ausruf schwang Abt sich hinaus, sein Kopf verschwand unter dem Fenstersims, gerade als Bodo Brenken zur Türe hereinstürzte. Das scharfe, rostige Drahtseil des Blitzableiters riß ihm die Hände blutig und der Mantel, an irgendeinem Riegel oder Nagel hängengeblieben, zog plötzlich scharf an, hemmte hartnäckig seine Flucht. Zurücklassen durfte er den bekannten Pelz des Barons auf keinen Fall! Der Gedanke, die schöne Frau zu verraten, verlieh ihm so übermenschliche Kraft, daß er, nur mit der Linken am Blitzableiter hängend, mit der Rechten an dem Mantel zerrte. Der dreieckige Zipfel, der abgerissen oben zurückblieb, war zu klein, um ihr gefährlich zu werden! Gelang es noch, den Boden zu erreichen und mit dem Mantel zu entkommen, so war sie gerettet.

Hier brach seine Besorgnis um Mimi jäh ab. Der Selbsterhaltungstrieb flammte auf – nahm Besitz von jedem Nerv und jedem Muskel. – Unbekümmert um das Blut, das heiß über seine Hände floß, glitt er abwärts, – maß gierig die Entfernung, die ihn noch vom Leben trennte. Es schien ihm sinnlos, beinahe spaßhaft, daß er vier Jahre überstanden, dem Krieg entkommen sein sollte, – um hier von einem eifersüchtigen Hahnreih wie ein Eichkätzchen abgeschossen zu werden! – – Aber es war ernst, in raschem Aufeinander pfiffen zwei Kugeln an seinem Ohr vorbei. Er blickte hinauf. Wieder blitzte Feuer, und er verspürte einen stechenden Schmerz im linken Fuß. – Getroffen! – Die nächste Kugel ging vielleicht durch den Kopf.

War der toll da oben? – Die Schüsse galten ja einem andern! – Der Richtige saß in Sicherheit, – – es durfte, durfte doch nicht geschehen, daß auch den Tod noch, auch das Sterben für den Herrn Baron – – –

Abt wollte rufen – protestieren – aber ein würgender Zorn schnürte ihm die Kehle ab. Todesangst rieselte kalt aus allen Poren.

Mitten durch den Kopf, mitten durch sein fieberhaft arbeitendes Gehirn schlug da die Kugel.

„Unrecht!“ – war der letzte Gedanke, den das durchschossene Hirn noch formte. „Unrecht!“ – wollte er brüllen. Die ganze unverbrauchte Lebenskraft, die ein Stück Blei um Jahrzehnte zu früh zerstörte, ballte sich zusammen, riß ihm den Mund auf und weitete die Lungen für die befreiende Anklage, die ihn sein Leben lang gedrosselt hatte.

Unrecht!“ – der Ruf stand in seinen brechenden Augen, seine Finger krallten haltsuchend in die Luft, als wollte er noch im Sturze der Welt die Maske abreißen, um es ihr in das entlarvte Antlitz zu speien, daß sie Unrecht getan hatte – an ihm, an Mutter, an Vater, im Leben wie im Sterben, überall und immer nur Unrecht! – –

„Unrecht!“ – – – – –

Wie einen Knebel stieß ihm der Tod den ungeschrienen Schrei in die Kehle zurück, die kleine Kugel drehte den mächtigen Körper um sich selbst, schleuderte die entseelte Masse mit baumelnden Gliedmaßen in den winterlichen Garten hinunter.

Kopfüber – das Gesicht nach unten, von der Wucht des Sturzes noch eine Strecke weit über den hartgefrorenen Kies geschleift, blieb der formlose Haufen am Rande des Springbrunnens liegen. Wäre der angekleidete Körper nicht gewesen, niemand hätte in dem blutigen Brei, der mit Kies vermischt über dem zerfetzten Hemdkragen klebte, die Reste eines menschlichen Gesichtes erkannt.

Zweites Buch:
Die Hand

I.

Kaum war am Vorabend das Tor hinter dem Baron zugefallen, so hatte er angestrengt in die nächtliche Stille nach einem Auto gehorcht, das er anhalten könne. Er wollte sich auf dem Polizeipräsidium erkundigen und nicht ruhen, ehe er Leitwitz gefunden hatte. Nur die Aussicht auf schnelle Rache hatte ihm die Kraft gegeben, in die ekligen Lumpen hineinzuschlüpfen.

Der kalte Schneewind, der messerscharf durch das grobe Wollhemd drang, kühlte auch seine Begeisterung für diesen Plan bald ab. Bei den Behörden gab es Akten und Protokolle, jeder Fetzen Papier mußte paraphiert und registriert werden. Wäre es da nicht töricht gewesen, ein halbes Dutzend Polizeibeamte ins Vertrauen zu ziehen, um den einzigen Mitwisser unschädlich zu machen? Nicht einmal die Persönlichkeit des kleinen Leitwitz bot bessere Gewähr für Verschwiegenheit als das Versprechen des halb und halb schon versöhnten Wüterichs. Für den Mann aus niederem Stande war es eine Aufgabe, an Brenken auch nur heranzukommen; – Leitwitz hingegen verkehrte im Hause, traf das Ehepaar in allen Gesellschaften, er brauchte nur einmal über den Durst zu trinken und das Unglück war geschehen.

Der Gedanke, Bodo Brenken könnte trotz des gebrachten Opfers von dem nächtlichen Besuch erfahren, schnürte Mangien den Atem ab. Er hielt sich bei Gott für keinen Feigling – aber der wortkarge, immer unheimlich verschlossene Bodo war ein besonderer Fall. Sein Gesicht verklärte sich, wurde nur der Name Mimis erwähnt – er betete sie an. Kein Mensch konnte voraussehen, wie weit er sich hinreißen lassen würde, hielte er einmal sein Altarbild für geschändet.

Den Kopf zwischen den Schultern, lief Mangien davon, und fuhr, wie aus dem Traum geschreckt, auf, als hinter ihm eine derbe Männerstimme laut wurde: „Was haben Sie hier zu suchen? Haben Sie eine Legitimation?“

Kein Gedanke lag dem Baron ferner als der Verdacht, der grobe Anruf könnte seiner geheiligten Person gelten. Verständnislos ließ er den Schupo ganz nahe an sich herankommen. „Sind Sie taub? Ich frage, ob Sie Papiere haben. Sonst kommen Sie nur gleich mit aufs Revier!“

Wenig hätte gefehlt, und der Baron wäre, als des schweren Vergehens der Beamtenmißhandlung schuldig, auf die Wachstube geführt worden. Er wollte den uniformierten Lümmel lehren, sich die Leute besser anzusehen, ehe er ihnen den Duft von Weißbier und Würsten unter die Nase blies, aber der überraschende Anblick des verschlissenen, schäbigen Ärmels, der als Fortsetzung seiner eigenen Faust in die Höhe schnellte, brachte ihn gerade noch rechtzeitig zur Besinnung. Wie auf der Leinwand vorbeigekurbelt, schossen ihm die kompromittierenden Folgen seiner Verhaftung durch den Kopf, und er beeilte sich, das Arbeitsbuch Karl Abts vorzuweisen.

Gnädig entlassen, weil der Glanz seiner polierten Nägel im Dunkel unbemerkt blieb, wollte er sich über das „Auge des Gesetzes“ lustig machen, das mit bewunderungswürdigem Scharfblick vorhin den herumspionierenden Abt übersehen hatte, und die lumpigen Kleider nur verdächtig fand, wenn sie der Generaldirektor Mangien am Leibe trug. Aber von solch billigen Scherzen auf Kosten der Behörde ließ sich das Gefühl inneren Besudeltseins nicht verdrängen. Es kränkte ihn nachträglich, daß er sich feige geduckt, auf eine Schwester, die angeblich in der Nähe diente, ausgeredet hatte. Ohrfeigen hätte er sich mögen für sein serviles Gelächter über die plumpe Anspielung des Polizisten. Ob Schwester oder Geliebte, was kümmert es den Kerl? Gab es etwa besondere Kleidungsvorschriften für die verschiedenen Stadtteile Berlins?

In den menschenleeren Straßen hallten die Schritte so laut, daß er sich wiederholt nach einem Verfolger umsah, und aus Angst vor einem zweiten Zusammenstoß in die nächste Querstraße einbog, so oft in der Ferne der Tschako eines Schupomannes aufblinkte.

Unter einer Laterne zählte er sein Geld, er brauchte nur nach dem Lehrter Bahnhof abzuschwenken, wäre um fünf Uhr morgens, am ersten Weihnachtsfeiertag, leicht unbemerkt ins Haus gelangt. Sein Puls ging rascher, wenn er an die Freude der Kinder, an das rasche Auf und Zu der langen Wimpern dachte, das in dem beherrschten, immer gleichmäßig sanften Gesicht Sonjas allein ihre Erregung verriet.

Durfte er aber die Flucht riskieren?

Um Mimi machte er sich keine Sorgen. Gefahr drohte nur, wenn Sonja das Geringste erfuhr. Und was sollte den Desperado davon abhalten, seine Drohung zu verwirklichen? Mit Recht hatte er geprahlt, ein armer Arbeiter habe nichts zu verlieren. Seine Wohnung in der Proletarierkaserne draußen war bestimmt nicht komfortabler und auch nicht sauberer als eine Gefängniszelle, seine Freiheit beschränkte sich auch in der Freiheit auf anderthalb Tage der Woche, und „gesellschaftlich“ konnte es ihn in seinen Kreisen nur als Märtyrer populär machen, wenn er für den Angriff auf einen „Arbeiterschinder“ ins Loch kam.

Allein mit seinem Schatten, den die Laternen bald vor ihm, bald hinter ihm herlaufen ließen, dachte der Baron so intensiv immer wieder an seine Frau, daß er sie leibhaftig vor sich sah, allein in der schwachbeleuchteten Halle, als einzige noch wach in dem schlafenden Haus. Er wußte genau: sie haßte ihn nicht, war ihm nicht einmal richtig böse. Tat er ihr weh, so vergrub sie sich in ihre Erinnerungen, dachte jetzt wahrscheinlich an die ersten Weihnachtsabende, ehrlich bemüht, alles Häßliche zu vergessen. Einmal hatte sie es ja schon offen ausgesprochen, daß sie nichts mehr mit ihm verbinde als die Vergangenheit. Nicht ihm, nur dem früheren, ganz anderen Friedl, dem Friedl, den sie geheiratet hatte, wahrte sie die Treue.

„Dem Friedl, dem du selbst untreu geworden bist!“ hatte sie gesagt.

Was im Munde einer anderen Frau überspannt und unaufrichtig geklungen hätte, ihr mußte man es glauben: daß sie ihrem Mann leichter seine Liebschaften verziehen hätte, als die Untreue gegen sich selbst. Seit zwölf Jahren in der Fremde, seit bald einem Jahrzehnt ohne jede Verbindung mit ihrer Heimat, war sie noch immer nicht eingewurzelt, noch immer so scheu und nach innen gewendet, als an dem Tag der ersten Begegnung, bei dem Diner des deutschen Botschafters in Petersburg.

Eben erst sechsundzwanzig war der junge Mangien damals gewesen, und sollte doch über ein Millionengeschäft mit der russischen Regierung verhandeln, absichtlich vor die schwere, verantwortungsvolle Aufgabe gestellt, weil der Vater schon kränkelte und sich über die Fähigkeiten des Nachfolgers und die Zukunft der Mangien-Werke ein verläßliches Urteil bilden wollte.

Das materielle Resultat der Mission war über alles Erwarten geglückt, seinen telegraphisch eingeholten väterlichen Segen zur Eheschließung hatte der alte Herr hingegen nur schweren Herzens erteilt, und das Schicksal ließ ihm nicht Zeit, die Wahl seines Sohnes zu überprüfen. Unmittelbar nach der in aller Heimlichkeit erfolgten Trauung bestieg das Paar den Sibirienexpreß, um unter den blühenden Kirschenbäumen Japans die Flitterwochen zu verleben, und als auf der Heimfahrt, irgendwo im Indischen Ozean, der Funker des Dampfers die verzweifelten Rufe des Sterbenden auffing, gab es bei dem damaligen Vorkriegsstand der Flugtechnik noch keine Möglichkeit, die Reise abzukürzen.

Noch viel ungünstiger als in Hamburg wurde die überhastete Ehe in Petersburg beurteilt, wo man die schöne, selbst für russische Begriffe ungewöhnlich reiche Waise nicht gerne ihr Vermögen ins Ausland tragen sah. Von ihrem Onkel, einem kinderlosen, verwitweten General erzogen, hatte Sonja hartnäckig alle Bewerber ausgeschlagen, als gäbe es in dem großen Rußland keinen Mann, der ihrem „Njemetz“ das Wasser reichte. Daß es gerade Mangien gelungen war, die Vielbegehrte zu gewinnen, verdankte er weniger seinen äußeren Vorzügen und dem Millionenerbe, das ihn erwartete, als dem geistigen Erbe eines bettelarmen Hauslehrers, der, viel mehr als Vater und Mutter zusammen, auf seine Entwicklung eingewirkt hatte.

In den Pubertätsjahren, von einem leichten Lungenspitzenkatarrh bedroht, war der Stammhalter der Mangienschen Dynastie sofort aus der Schule genommen und mit einem Hofmeister in das Schweizer Hochgebirge geschickt worden. Ohne die Protektion, die ihm diesen glänzenden Posten verschaffte, hätte sich der gute, drollige Doktor Wilheim vielleicht einen Namen als Schriftsteller gemacht. Was sollte ihn aber noch aneifern, seine grenzenlose Trägheit zu überwinden, da er sich auf Jahre hinaus vor materiellen Sorgen geschützt wußte? Nichts von alledem, was die Menschen im allgemeinen zur Arbeit aneifert, hatte für den Doktor philosophiae Franz Wilheim auch nur den geringsten Reiz. Nicht ganz gleichgültig waren ihm, außer guten Büchern und Bildern, nur noch seine Mitmenschen, die er allesamt als banausische, geldgierige Idioten verachtete, und da konnte ihn die Aussicht auf Anerkennung erst recht nicht dazu bewegen, seine Perlen, wie er gerne sagte, „aus Ambition vor die Säue zu werfen“.

Zu faul zur Arbeit, liebte er es um so mehr, seine witzigen Einfälle und immer interessanten Gedanken gesprächsweise zu verschwenden, und die helläugige, dankbare Jugend seines Zöglings ersetzte ihm gleichsam das Schreibpapier. Bald wußte sich der elegante, vierzehnjährige kleine Weltmann keine höhere Belohnung vom Vater zu erbitten, als mit dem amüsanten, drollig verwahrlosten Lehrer reisen zu dürfen. Vier Jahre lang leerte der gute Wilheim das unerschöpfliche Füllhorn seiner Beredsamkeit, seinen ganzen inneren Reichtum über den heranwachsenden Jüngling aus, und es war nur halb Scherz, halb verspätete, bittere Selbstverspottung, daß er den einstigen Schüler in späteren Jahren immer nur seine „sämtlichen Werke“ nannte.

Die intensiven, abendlangen Zwiegespräche mit Sonja, die kaum zwei Wochen nach der ersten Begegnung zu ihrer Verlobung geführt hatten, waren recht eigentlich Vorlesungen aus diesen „Werken“ des armen Wilheim gewesen. An das oberflächliche, schöngeistige Geschwätz der Petersburger Salons gewöhnt, hatte sie sofort aufgehorcht, und allmählich Vertrauen gefaßt zu dem jungen Deutschen, der so gut die eigenen Augen zu gebrauchen, die Menschen so scharf zu durchschauen und nicht zu nahe an sich heranzulassen verstand.

Mit jenem elastischen, begeisterungsfähigen jungen Mann hatte der Baron, das wußte er genau, wirklich nur mehr die äußere Erscheinung gemein. Aber wer konnte von sich sagen, er sei stark genug gewesen, unverändert den Weltuntergang zu übertauchen, der jahrhundertealte Dynastien fortgefegt und die Landkarte Europas neu zusammengefügt hatte? Allein schon die Gewinne der Kriegs- und Inflationszeit hätten genügt, um auch den Bescheidensten größenwahnsinnig zu machen; es war menschlich, lieber der eigenen Tüchtigkeit zuzuschreiben, was man zum Großteil der günstigen Konjunktur verdankte. Dazu hatte der Leiter der Mangien-Werke mit dem einzigen Wörtchen „unabkömmlich“ Müttern ihre Söhne, Frauen ihre Männer vor dem Heldentod bewahren können, und als später einer ganzen Gesellschaftsschichte der Abgrund unter den Füßen aufbrach, da trieben es die Männer noch ärger als vorher die Frauen: jeder wollte sein Geld in die Arche Noah hineinretten, die von der papierenen Sintflut immer höher gehoben wurde.

War es ein Wunder, wenn man, derart umworben und um schmeichelt, allmählich faul und eitel wurde? Natürlich traf Sonja keine Schuld. Sie war weder kalt noch anspruchsvoll, nicht hochmütig und nicht nörglerisch, es machte nur weniger Mühe, sich so, wie man eben geworden war, von Mimi bewundern zu lassen, als daheim, gerade der eigenen Frau zuliebe, an sich arbeiten zu müssen. Mangien wußte sich im Unrecht, wollte es nicht bekennen, und desertierte aus Scham über das eigene Benehmen. Das war es, was ihn und Sonja auseinandergebracht hatte.

Mitten im Ausschreiten blieb er plötzlich stehen, an der Kehle gepackt von der Erinnerung. Er sah das schöne, zartgezeichnete Oval des bleichen Mädchengesichtes vor dem dunklen Blattwerk des Wintergartens, die elfenbeinmatten Wangen leise gerötet, die schmalen Lippen zitternd vor verhaltener Erregung. So hatte sich am Abend ihrer Verlobung Sonja vor ihm aufgerichtet und mit Tränen in der Stimme drei russische Verszeilen hergesagt, die sie nachher in ihrem lieben, drolligen Deutsch wiederholte:

„Du darfst nie vergessen, daß ich nur ein einziges Leben habe,
Und es dir jetzt ganz anvertraue, wie einen Pokal,
Damit du es mit Glück füllest bis zum Rande.“

Wie mußte ihr zumute sein, wenn sie jetzt an die Warnung und an sein Gelübde von damals zurückdachte, allein am Heiligen Abend, mit Bitterkeit gefüllt, „bis zum Rande“?

Verstimmt setzte er seinen Weg fort, ging durch dunkle Nebengassen ostwärts, wollte erst nach der von ihm gesuchten Straße fragen, wenn schon die ärmeren Bezirke erreicht waren, wo er nicht mehr auffallen und sich verdächtig machen konnte. Aber die abgerissenen, gekrümmt vorbeihuschenden Gestalten schüchterten ihn noch mehr ein. Seine gepflegten Hände, seine gepflegte Sprache, tausend winzige Einzelheiten drohten, den Eindringling zu verraten, der Schupotschako, dem er bis vor kurzem ängstlich ausgewichen war, blinkte ihm nun wie ein Leuchtfeuer.

Auch seine Widerstandskraft versiegte allmählich, die rauhe Leibwäsche juckte höllisch, die ungeschlachten Schiffskähne scheuerten Fersen und Zehen wund, mit zusammengebissenen Zähnen, mühsam die Füße nachschleifend, schleppte er sich durch die endlosen Straßen, immer von den gleichen blatternarbigen Mauern und dunklen Fensterreihen umstellt, als marschierte er auf einem zurücklaufenden Band, das ihn nicht vom Flecke kommen ließ. In der drückenden Stille hämmerte beängstigend laut sein Blut, die grauen Häusermassen schluckten ihn ein, schlugen zusammen über seinem Kopf, er versank wie der Taucher, den nur ein dünner Luftschlauch mit der Welt verbindet.

Endlich lockerte sich das Gefüge, leere Bauplätze dunkelten wie Zahnlücken, zu Gruppen geballt lauerten gespenstige Weiber an den Straßenecken. Das Geruchgemisch von Patschuli, Branntwein und üblen Ausdünstungen hob ihm den Magen in den Hals. Schaudernd blickte er in Gesichter, die nichts Menschliches mehr hatten, Schminke blätterte von den hohlen Wangen wie ringsum der Verputz von den verwahrlosten Mauern, schon wollte er ausreißen, zurückfliehen gegen das Stadtinnere, da rief ihm von der anderen Straßenseite ein fremder Mann unverständliche Aufforderungen zu. Er kam herüber und grüßte wie ein alter Bekannter. Ein wenig angeheitert, nahm sich das wackelige, weißhaarige Männchen mit großer Bereitwilligkeit des „Hamburger Genossen“ an, sprach viel Gutes über den „KarIe“, wie er Abt nannte, und ließ es sich nicht nehmen, den Zugereisten bis vor das gesuchte Haustor zu führen. Mit besorgtem Kopfschütteln, bekümmert geradezu, erörterte er die Schwierigkeit, bei der Schneiderei Arbeit zu finden, gerade in der toten Zeit nach dem Weihnachtsfest. Aber das durfte einen tüchtigen Kerl nicht abschrecken. Nur die Gelbschnäbel meinten, es fielen ihnen gleich ein paar Diamanten aus der Krone, wenn sie mal nicht im eigenen Handwerk Anstellung suchten. Eine Arbeit war nicht besser als die andere, man mußte zugreifen, um durchhalten zu können, mit der Zeit fand sich schon das Richtige für jeden in der großen Stadt Berlin.

Daß die überraschend warme Teilnahme des Alten nicht etwa eine Ausnahme war, sollte Mangien bald erfahren. Vergebens durchsuchte er alle Taschen, er fand kein Streichholz. Im Finstern die unbekannte Türe aufstöbern, wäre ein aussichtsloses Unternehmen gewesen ohne den Hausbewohner, der, eben aus der Kneipe heimgekehrt, die weitere Führung willig übernahm. Als wäre das Wort „arbeitslos“ eine Art Generalschlüssel zu allen Herzen, erkundigte sich auch der neue Beschützer nach den Absichten und Aussichten des fremden Genossen, führte ihn an der Hand über einen weiten Hof und die steile Hintertreppe bis vor die Türe Abts im dritten Stock hinauf. Erst beim Abschied stellte sich heraus, daß er in einem entgegengesetzten Flügel des Hauses wohnte und die vielen Treppen hinunter über den Hof zurück mußte.

Nachdenklich horchte der Baron den schwer polternden Schritten nach. Dann betrat er entschlossen die gefürchtete Kammer. Sie schien so erschreckend übel nicht, wie ihr Bewohner sie geschildert hatte: das schwache Licht der kleinen, schon schwärzlichen Glühbirne verbreitete ein wohltätiges Halbdunkel, das Einzelheiten kaum unterscheiden ließ. Nur der Waschtisch, eigentlich eine umgestülpte Kiste, wirkte wenig einladend mit dem verdullten, schmutziggelben Blechgeschirr.

Bei genauerem Hinsehen allerdings schwächte sich der günstige Eindruck noch in manchen anderen Punkten ab. Die eingeschlossene, muffige Kälte lag schleimig auf der brüchigen, baumwollenen Bettwäsche, der säuerliche Geruch des ganzen Hauses sickerte durch die Türritzen, in der Ecke hinter dem Bett zeugten schwefelbestreute, von der Kerzenflamme berußte Sprünge in der Mauer von dem vergeblichen Kampf gegen die Übermacht des eindringenden Ungeziefers.

Sofort entschlossen, die SchlafsteIle unbenützt zu lassen, fühlte sich der Baron verstimmt, gereizt und angeekelt, und doch auch irgendwie traurig zugleich. So wenig die Erlebnisse der letzten Stunden geeignet waren, Sympathien für Herrn Abt und seinesgleichen in ihm zu wecken, ganz vermochte er den Gedanken nicht zu unterdrücken, ein Mensch könne wohl nicht anders als gehässig werden, wenn er Tag für Tag in diese kalte, kahle Kammer heimkehren mußte.

Nein, an ein Auskleiden war nicht zu denken, nur das harte, schwere Schuhwerk warf der Baron von den Füßen und setzte sich an den wackeligen Tisch, den er vorher abgeräumt hatte, um vornübergebeugt den Kopf in die aufgelegten Arme betten zu können.

Aber der Stuhl war zu hoch und der Tisch zu niedrig: nach fünf Minuten brach ihm schon das Kreuz entzwei, eine nette Aussicht, die ganze Nacht, die heilige Christnacht, in dieser Position verbringen zu müssen! Diese Weihnachten würde er sein Leben lang nicht vergessen. Wenn er sich schlecht gegen Sonja und seine Kinder benommen hatte, die Sühne war nicht zu knapp bemessen – – er büßte seine Sünden ab.

Knurrend rollte Mangien den Kopf von einem Arm auf den anderen. Sein Blick fiel auf die Weckeruhr neben dem Bett, hätte sie nicht so laut getickt, er hätte sich gerne weisgemacht, sie sei stehengeblieben. Es fehlten noch zwanzig Minuten auf Mitternacht! Wie sollte er die sieben Stunden bis zum Morgen durchhalten?

II.

Wie ein verwundetes Tier raste Bodo von Brenken ins Haus zurück, ohne zu bemerken, daß er den halben Inhalt der verräterischen Brieftasche auf der Treppe verstreute. Sein Browning lag noch oben auf dem Fenstersims: es war Mimis Rettung, daß sie ihm auf dem Flur schon entgegentrat, mit weißen Lippen und zitternden Knien, vergebens bemüht, Haltung zu bewahren.

Keuchend hielt er ihr die Brieftasche vor die Augen, und die freche Verlogenheit, mit der sie noch zu leugnen, etwas von „Irrtum“ zu stottern wagte, raubte ihm vollends die Besinnung. Wie ein lebloses Ding schleuderte er sie in ihr Zimmer, versperrte die Türe und zog den Schlüssel ab, einige Minuten ratlos, was er weiter beginnen sollte.

Unten im Garten sah er seinen Diener bei der Leiche. Unberührt von dem Anblick, als hätte er nur einen Rehbock erlegt, fiel Bodo in den Armstuhl vor dem Schreibtisch und nahm den Kopf zwischen die Hände. Nicht an seine Frau dachte er. Was mit Mimi geschehen sollte, würde er erst beschließen, wenn die Behörden alles aufgeklärt, ihn selbst jeder Schuld enthoben hatten. Sein eigenes Gewissen sprach ihn frei, er hatte „korrekt“ gehandelt, und dieser sakrosankte Begriff galt ihm mehr als ein gerichtlicher Freispruch. Was hieß denn „Notwehr“? Durfte man dem Angriff eines Wegelagerers zuvorkommen, so mußte es erst recht erlaubt sein, den Halunken niederzustrecken, der einem an die Ehre ging. Wie ein Dieb war der Feigling davongelaufen, hätte den Ahnungslosen gespielt, weiter gelogen und betrogen, wäre ihm die Flucht gelungen.

Im östlichen Zipfel des Reiches geboren, hing Bodo von Brenken zäh an den überlieferten Anschauungen seiner Vorfahren. Wer ihn die Republik verfluchen, alle sosialen Errungenschaften wie Teufelswerk begeifern hörte, mußte glauben, er sei der hartherzigste aller Sklavenhalter. In Wirklichkeit verwöhnte er nicht nur sein Hausgesinde, auch die Arbeiter in der Fabrik nannten ihn nie anders als „Papa Brenken“ – und er sorgte auch wirklich väterlich für alle, die in seinen Diensten standen. Ohne zu feilschen, bezahlte er Ärzte und Medikamente, ließ lungenkranke Kinder in Heilanstalten pflegen oder auf seine Kosten ins Gebirge bringen, vorausgesetzt, daß man es seinem freien Ermessen überließ, hilfreich zu sein oder nicht. Kam man ihm aber mit gesetzlichen Vorschriften, die sein Herrenrecht beschränkten, wurde er sofort zum Geizkragen, führte erbitterte Prozesse um lächerlich geringe Summen, ließ sich lieber exequieren, ehe er eine Verpflichtung anerkannte.

So im Kriege mit seiner Zeit und dem bequemen Gleichheitsprinzip, das alle Menschen gleich niedrig machen wollte, durfte Bodo von Brenken auf keine Gnade hoffen. – – Er sah schon seinen guten Namen fett gedruckt in den Zeitungen angeprangert, und brach in sich zusammen, vernichtet von dem Gedanken, daß er, gerade er, der Schandfleck der Familie sein würde.

Ein einziger Mann konnte vielleicht noch helfen, das war ihm sofort klar. Seine Freundschaft mit Kurt Leitwitz ging auf die Zeit in der Kadettenschule zurück; wenn der die Untersuchung zu führen bekam, geschah bestimmt alles, was irgend getan werden konnte, um den Skandal zu verhüten. Auf das Standesbewußtsein Leitwitz’ durfte man sich verlassen, er hatte es heraus, das rote Pressegesindel einzuschüchtern; gleich zwei gute Namen auf einmal gab er den Kerlen bestimmt nicht preis.

Verkrampft in diese einzige Hoffnung, überlegte Bodo von Brenken fiebernd, wie er es anfangen sollte, um Leitwitz gleich zu erreichen. In einer Nacht zwischen zwei Festtagen einen Lebemann wie Leitwitz aufzutreiben, war keine leichte Sache. Zu Hause war er nie, verkehrte als Junggeselle in den verschiedensten Kreisen Berlins, und Berlin war groß! Es konnte Morgen werden, ehe man ihn fand, die Leiche aber mußte fort, mußte unbedingt aus dem Hause geschafft sein, bevor es Tag wurde. Kamen Bäcker, Metzger, Milchmann und verbreiteten die Neuigkeit in der Nachbarschaft, dann konnte auch Leitwitz nicht mehr helfen. So rief Brenken zuerst sein zuständiges Polizeirevier an, wo er als Major a. D. auf das Entgegenkommen des Wachtmeisters rechnen durfte.

Aber trotz aller Proteste holte dieser Narr seinen Vorgesetzten, einen jungen Betriebsassistenten, an den Apparat, und diesem Grünschnabel wurden gleich die Zähne lang, bei der blutigen Sensationsaffäre mitzutun in dem sonst so stillen Viertel. Er wollte dem Herrn Major gern zu Diensten sein, versprach, gleich das Präsidium anzurufen und für die Benachrichtigung des Herrn Kriminalkommissars von Leitwitz zu sorgen – ausschalten aber ließ er sich nicht. Die hartnäckigen Versuche Bodos, ihn mit verkappten Drohungen einzuschüchtern, hatten nur den Erfolg, daß er zuletzt unverschämt wurde und vor „Verdunkelungsversuchen“ warnte, als wüßte er nicht, daß er es mit einem alten Stabsoffizier und nicht mit einem Verbrecher zu tun habe

Zornig umkrallten die langen, schmalen Finger Brenkens den Hörer, als wollten sie der ganzen verhaßten Zeit, die ringsum hämisch auf der Lauer lag, mit einem Griff die Kehle abschnüren. Glücklicherweise saßen in den höchsten Posten immer noch einige verläßliche Vertreter der alten Zeit, nur das subalterne Gesindel auf den untersten Sprossen machte sich gern patzig. Im Polizeipräsidium am Alexanderplatz wurde nach einigem Widerstand ein verständiger alter Herr mit wohlklingendem altpreußischen Namen an den Apparat geholt – und sofort ging alles glatt. Nichts sprach amtlicherseits dagegen, Herrn von Leitwitz mit der Leitung der Mordkommission zu betrauen, es lag im Gegenteil auch im Interesse der Untersuchung, lieber einen Herrn, der schon mit den Ortsverhältnissen vertraut war, hinauszuschicken.

Befriedigt lief Brenken in den Garten hinunter und erteilte seinem Diener die bündige Instruktion: „Maulhalten, bis der Baron Leitwitz kommt!“ Auf dem Rückweg las er die verstreuten Papiere Mangiens auf und schloß sie mitsamt der Brieftasche in den Schreibtisch ein. Wollte der eifrige Herr Schulze vom Revier um jeden Preis die Identität des Toten feststellen, so sollte er sich an seine Sherlok-Holmes-Talente halten.

Der arme Assistent hatte kein Glück. Herr von Leitwitz war wenige Straßen weit vom Tatort zu Gast gewesen und von der Mordkommission im Vorbeifahren abgeholt worden. Er hatte schon die summarische Meldung im Auto mit seinem gewohnten Pfiff durch die Vorderzähne quittiert. Der fromme, fischblütige Bodo? ... Nanul Da mußte die schöne Mimi was angestellt haben. Ein Ehebruchskandal im Hause des gewesenen Generalstabsoffiziers aus gutem, altem Adel kam so kurz vor den Wahlen verdammt unerwünscht. Die linksseitige Presse würde sich mit Indianergeheul auf den Braten stürzen. Dieses Vergnügen mußte den Kerls versalzen werden. Der kleine Revierbeamte, der da überflüssigerweise herumschnüffelte, konnte dabei nur im Wege sein. Mit betonter Achtlosigkeit wurde seine Meldung teils überhört, teils durch eingestreute Fragen und Verfügungen bagatellisiert, bis ihm die Puste ausging und er mit roten Ohren beleidigt verstummte. Leitwitz ließ ihn erst stehen und warten, um dann im Dienstton, hochmütig näselnd die Frage an ihn zu richten: „Können Sie Ihre Leute entbehren? Die Posten sollen bleiben, bis ich sie abkommandiere. Alles Weitere nehme ich auf meine Kappe. Danke!“

Seine eigenen Herren schickte Leitwitz gleich in den Garten hinunter, gab ihnen nur wie nebenher den Rat, keine Blitzlichtaufnahme machen zu lassen, wenn eine gezeichnete Skizze des Tatortes genügte. Die Beurteilung dieser Frage überließ er ganz dem freien Ermessen seiner Untergebenen, beeinflußte sie in keiner Weise. Gewöhnt, mit ihm zu arbeiten, kapierten sie ohnehin, daß nicht allein das Aufflammen des Magnesiums, sondern jedes Aufsehen vermieden werden sollte.

Der Schriftführer vertiefte sich in die Betrachtung der alten Kupferstiche des Treppenhauses, als der Herr Kommissar zu Brenken in das Bibliothekszimmer ging – sollte die Aussage zu Protokoll genommen werden, so brauchte der Chef nur vorwurfsvoll: „Wo bleiben Sie denn?“ zu rufen.

Unter vier Augen mit dem Freund sackte Bodo sofort kraftlos in den Lehnstuhl und holte die Brieftasche Mangiens hervor.

Leitwitz ließ seinen gewohnten Pfiff durch die Zähne hören: „Donnerwetter, ja! Nette Bescherung! Gleich zwei Fliegen auf einen Schlag für das Gelichter!“

Aus dem unglücklichen Bodo war eine zusammenhängende Darstellung nicht herauszubekommen, also beschloß Leitwitz, erst Mimi zu vernehmen. Er klopfte Brenken ermutigend auf die Schulter und nahm ihm den Schlüssel zum Schlafzimmer seiner Frau ab.

An seiner Zigarette saugend, schritt Leitwitz nachdenklich durch den Flur, gefaßt auf einen harten Kampf gegen die Kniffe und Schliche, die eine Frau nicht unversucht läßt, wenn sie ihre gesellschaftliche Position und ihre materielle Existenz bedroht weiß. Er freute sich im stillen, die schöne Mimi in die Krallen zu bekommen: seit zwei Jahren führte sie ihn an der Nase herum, markierte die Tugendhafte mit erstaunten Madonnenaugen, unnahbar gerade nur für ihn. – – Nun würde sie sich bequemen müssen, die Maske abzulegen – als Amtsperson hatte man die Gelegenheit, ganz andere Saiten aufzuziehen, konnte ihr verdammt unangenehm werden, oder ihr im Gegenteil eventuell aus der Patsche helfen – der arme Bodo wünschte ja wohl nichts heißer, als mit Anstand verzeihen zu dürfen.

Langsam, das blank polierte Einglas ins Auge geklemmt, schob Leitwitz den kugelrunden Kopf in das halb dunkle Zimmer, die fleischigen Lippen von einem spöttisch überlegenen Lächeln umspielt.

Mimi Brenken lag auf dem Sofa, das Gesicht in die Kissen vergraben, vergebens bemüht, für das Unerklärbare eine glaubwürdige Erklärung zu ersinnen. Der arme Abt mußte, vom Sturz entstellt, ganz und gar unkenntlich sein, sonst hätte sich Bodo von der Brieftasche nicht täuschen lassen – das Gesicht Friedl Mangiens war ihm hinlänglich bekannt. Wie begründen, daß ein Fremder, als Mangien verkleidet, mit den Wertsachen des Barons in der Tasche, bei ihr eingestiegen war? Es gab nur die eine Möglichkeit, zu leugnen, ohne jeden Versuch einer Erklärung dabeizubleiben, der Mann sei ein Fremder. Das Wichtigste war, die Aussage Eriedls abzuwarten, damit nicht der eine Teil den andern Lügen strafte. Sobald die Nachricht seines Todes ihn erreichte, mußte Mangien sich melden – sah er dann den Totgeglaubten leibhaftig vor sich, so blieb Bodo nichts übrig als zu bekennen, daß er, der Gründliche, diesmal voreilig seine Frau beschuldigt hatte. Schlimmeres konnte ihm gar nicht widerfahren. –

Wie ungeschickt die Lügen Friedls auch ausfallen mochten: einmal blamiert, war Bodo nicht der Mann, weitere Zweifel zu wagen. Was sollte ihm noch unglaubhaft scheinen, wenn der Beweis erbracht war, der Getötete sei ein falscher Mangien gewesen? – Frau Mimi kannte ihren Bodo gründlich genug, um ihn schon zerknirscht um ihre Vergebung betteln zu sehen, und wenn sie immer noch verweint auf dem Sofa lag, als Leitwitz eintrat, so galten ihre Tränen längst nicht mehr dem eigenen Schicksal, um das sie kaum noch in Sorge war. Viel mehr als die blutunterlaufenen Fingerabdrücke Bodos auf ihrem Unterarm brannte sie die Stelle auf ihrem Handrücken, die Abt so tief ehrfürchtig und beglückt mit seinen Lippen berührt hatte. Sie kannte kaum einen zweiten Mann, der ihr so zuwider war wie Leitwitz, sie mochte seine klebrig süßliche Art, seine schnoddrigen Anzüglichkeiten nicht leiden, diesmal aber wäre sie ihm fast um den Hals gefallen, sofort entschlossen, ihn als Boten zu benützen. Er war ja hoher Polizeibeamter es mußte ihm ein leichtes sein, die Adresse Karl Abts ausfindig zu machen. Er konnte auch Friedl Nachricht geben und Instruktionen von ihm bringen, ohne durch sein Kommen und Gehen den Verdacht Bodos zu wecken. Hatte er etwas auszurichten, so brauchte er bloß ein „Verhör“ vorzuschützen. Mit seiner Hilfe war die Rettung gewiß.

„Morjen, schöne Frau!“ spottete Leitwitz, „Gute Nacht kann ich Ihnen ja doch nicht wünschen: die Nacht ist Ihnen gründlich danebengelungen – mein Beileid! Kommt davon, wenn man nichts von ernsten Männern wissen will, die den Ruf ihrer Dame zu schützen verstehen! Haben wir denn nicht ganz lauschige Nestchen in Berlin ? Aber freilich, so ’n verwöhntes Herrchen, dem alles auf silbernen Platten serviert werden muß, kennt weder Vorsicht noch Rücksicht!“

Mimi Brenken gab nicht gleich Antwort; sie sah seine lauernden Polizistenaugen im Zimmer umherschweifen und erriet sofort, daß er eine Spur Mangiens zu entdecken hoffte, einen vergessenen Handschuh oder dergleichen. Aber sie fürchtete seine Blicke nicht, erkannte an den geröteten Wangen, daß er getrunken hatte, und ließ ihn ganz nahe an sich heran, ohne zurückzuweichen. „Sie sind auf dem Holzweg, lieber Leitwitz! Ich habe keine Ahnung, wo der Baron sich augenblicklich aufhält, weiß nicht einmal, ob er die Feiertage in Berlin verbringt oder zu Hause. Aber daß er heute abend nicht hier war, daß der arme Mensch, den Bodo erschossen hat, nicht das allergeringste mit Mangien zu tun hat ...“

„Ach, Sie wollen eine solche fadenscheinige Geschichte der Polizei weismachen? Erlauben Sie mir, mich vorzustellen: Kriminalkommissar von Leitwitz, vom Morddezernat des Polizeipräsidiums, nicht zu verwechseln mit Ihrem ergebensten Bewunderer, der als Freund Bodos und leider erfolgloser Courmacher der Hausfrau hierorts bekannt ist! Ich bin nicht zu Gast! Mein Auftrag lautet: die Vorfälle hier im Hause zu untersuchen und den wahrheitsgemäßen Hergang festzustellen. Nehmen Sie einen guten Rat an: versuchen Sie es erst gar nicht, mich anzulügen! Die Kräfte sind zu ungleich verteilt, Sie könnten nur den kürzeren ziehen. Ich meine es Ihnen gut!“

Ihre Gesichter berührten einander beinahe, heiß dampfte ihm der Wein aus dem verkniffenen Mund, die dicken Wülste seines kurzen Halses quollen violett über den weißen Kragen, das ohnehin vorspringende Kinn schob sich noch stärker vor und gab dem kugelrunden Gesicht einen erschreckend brutalen Ausdruck. Innerlich zurückschaudernd blieb Mimi doch reglos vor ihm stehen: „Ich lüge nicht! Es ist die reine Wahrheit: der Mann, den Bodo erschossen hat, war nicht –“

Ohne sie enden zu lassen, zog Leitwitz ein Fleckchen Leinwand aus der Tasche und schwang es triumphierend wie ein Fähnchen. „Da! – – Wollen Sie noch immer leugnen“ – –

„Was – – Was soll denn das?“

„Bitte zu lesen! Drei Buchstaben: F. v. M. Friedrich von Mangien, mit der Freiherrnkrone! Vom Revierbeamten aus der Wäsche des Toten geschnitten. Lassen Sie also die Komödie und –“

„Welche Komödie? Ich habe doch kein Wort von den Kleidern des armen Menschen gesprochen. Bodo hat mir schon die Brieftasche mit den Papieren Mangiens gezeigt – wie der Mann zu den Sachen des Barons gekommen ist, kann ich nicht wissen – das aufzuklären ist Aufgabe der Polizei. Seine Garderobe zu studieren habe ich keine Zeit gehabt, aber sein Gesicht habe ich aus nächster Nähe, im vollen Licht des Kronleuchters in der Bibliothek gesehen. Halten Sie mich denn wirklich für so dumm, eine ganz sinnlose Lüge hartnäckig zu wiederholen? Was könnte es mir nützen, den Tod des Barons zu leugnen, wenn seine Leiche im Garten läge?“

Leitwitz war unwillkürlich zurückgetreten, um sie besser beobachten zu können. Was sie sagte, war richtig: dumm war sie nicht; auch keine ungeübte Anfängerin, die, wenn sie sich schon im ersten Schrecken verplappert hat, zwecklos weiterleugnet. Sie wußte mehr, als sie verraten wollte, das las man ihr aus den Augen.

„Sie scheinen noch immer nicht ganz im Bilde zu sein, schöne Frau!“ – knurrte er sie an und steIlte sich breitspurig in Positur. – „Ich warne Sie zum letztenmal. Außeramtlich bin ich zu jeder Schandtat bereit – vielleicht könnte ich Ihnen nachher, wenn ich alles weiß, als Privatmann sogar nützlich sein. Schütten Sie also Ihr Herz aus, meine Schönste, aber ohne den winzigsten Vorbehalt – sonst müßte ich andere Saiten aufziehen, so leid es mir täte.“

„Ja, was wollen Sie denn, daß ich sagen soll?“ – unterbrach ihn Mimi mit zitternder Stimme. – „Die Wahrheit glauben Sie mir nicht – fragen Sie doch, was Sie wissen wollen! Ich werde wahrheitsgetreu antworten, das schwöre ich Ihnen.“

Den Kopf schief auf die Schulter gelegt, hielt er mit seinen stechenden, unruhig flackernden Augen wie ein Schlangenbeschwörer ihre Blicke fest – verlor aber gleich die Geduld, als sie die Frage nach dem Aufenthaltsort Mangiens mit der Lüge abwehren wollte, sie wisse selbst nicht, wo er augenblicklich sei. Es reizte ihn, ihr einmal den Meister zu zeigen. Frauen waren unberechenbar. Vielleicht imponierte ihr gerade Brutalität? Das Fürchten hatte sie ja bei Bodo nicht gelernt –

Es blieb ihm aber nicht Zeit, seine Künste spielen zu lassen: schon das unheimlich drohende Funkeln hinter dem Monokel nahm Mimi Brenken die Lust, noch länger um den heißen Brei zu schleichen; sie beeilte sich, ihm genau den ganzen Hergang zu erzählen.

Zwar sagte sie es nicht klipp und klar heraus, daß Mangien ihr Geliebter war, aber sie ließ durchblicken, daß er ihretwegen das Fest nicht in Hamburg verlebt hatte. über seinen späten Besuch glitt sie, so rasch es ging, hinweg, leugnete weder, den Schlüssel vor das Tor gelegt zu haben, noch gab sie es ausdrücklich zu – ohne ein Wort zu verschweigen, wiederholte sie alles, was Abt gesagt hatte, und wäre bis zum Schlusse streng bei der Wahrheit geblieben, hätte Leitwitz sie nicht mit einem seiner erprobten Kniffe in Verwirrung gebracht. Er putzte sein Monokel, als hörte er ihr nur mit halbem Ohr zu – fuhr aber mitten in dem Bericht ganz unerwartet aus der gespielten Zerstreutheit und überrumpelte sie mit der drohend scharf hervorgestoßenen Frage: „Das alles ist heute abend erst geschehen?“

Ohne zu überlegen, bejahte sie rasch, nur weil sie, erschreckt, den Angriff abwehren wollte und, einmal überführt, nicht mehr zurück konnte.

Aber alle ihre Versicherungen halfen nun nicht mehr, er hatte sie dort, wo er sie haben wollte, und schritt an ihr vorbei unerbittlich der Türe zu:

„Ich habe Sie gewarnt, schönste Frau – das nächste Mal müssen Sie vernünftiger sein und mehr Vertrauen zu dem guten Papa Leitwitz haben! Halten Sie Einkehr - ich lasse Ihnen Zeit bis morgen früh. – Bedaure unendlich, nicht länger bleiben zu können“ – – –

Draußen rieb er sich befriedigt die Hände. Es traf sich großartig, daß bis zum Montag keine Zeitung erschien, man brauchte sich nicht zu eilen, hatte Zeit, auch den „schönen Friedl“ ordentlich zappeln zu lassen.

Als hätten die Beamten die Erhebungen ihres Chefs erraten, schilderten sie ihm eingehend den Gegensatz zwischen der eleganten Kleidung und den verarbeiteten Händen, dem kostbaren Biberpelz und dem proletarischen Habitus des Toten. Ohne die gegenteilige Aussage des alten Dieners, der die Garderobe seines Herrn doch kennen mußte, hätte man annehmen müssen, der Mann habe irgendwo im Hause seine Lumpen versteckt, und mit dem Ergebnis seines Raubes das Weite gesucht.

Schmunzelnd über den lobenswerten Scharfblick seiner Mitarbeiter bekräftigte Leitwitz den Verdacht durch Vorweisung der Brieftasche, die er auf dem Teppich vor dem geöffneten Fenster gefunden haben wollte. Er gab auch zu verstehen, daß die Legitimationspapiere nicht auf rechtmäßigem Wege in den Besitz des Toten gelangt sein konnten: als persönlicher Freund des Herrn von Mangien war er seiner Sache ganz sicher, bestand aber dennoch darauf, daß die Leiche auf Grund der Dokumente im Schauhaus eingetragen werde. Solange die Mystifikation nicht aufgeklärt war, durften bloße Vermutungen nicht berücksichtigt werden. Die Polizei war nicht da, den Herren Untersuchungsrichtern in Moabit alles Kopfzerbrechen zu sparen. Die sollten auch ihr Weihnachtsgeschenk haben!

Vergebens versuchte Bodo Brenken, seinen Freund von diesem Entschluß abzubringen. Wozu den Namen Mangiens in die Angelegenheit mischen? War einmal ein Gerücht lanciert, so erhielt es sich gegen alle Tatsachen, das kannte man ja.

„Ich stehe dir dafür gut, daß man deine Frau nicht länger mit dem ,schönen Friedl' in Verdacht haben wird“, grinste Leitwitz, sich die Hände reibend. „Abwarten und Tee trinken, mein Alter! Bis Sonntag wissen wir alles, es wird dann von Amts wegen ein Bericht an alle Zeitungen verschickt – und will einer seine krumme Nase hinter die offizielle Darstellung stecken und besser informiert sein, dem soll bald die Lust zum Schnüffeln vergehen, da kannst du dich auf mich verlassen! Das Beste ist, du legst dich aufs Sofa und pennst. Zerbrich dir gar nicht weiter den Kopf, die kompliziertesten Fälle finden meist die einfachste Aufklärung. Vielleicht schläft Mangien ahnungslos daheim in Hamburg, und sein Kammerdiener oder sonst einer vom Gesinde ist ihm mit Brieftasche und Kleidern durchgebrannt. Für einen Dieb lag die Vermutung nahe, bei den Freunden des Autokönigs werde auch hübsch was zu holen sein. Möglich ist es freilich, daß der wilde Schürzenjäger ein paar gut gedrechselten Frauenbeinen auf den Leim gegangen ist. Vielleicht treibt er splitternackt in der Spree oder in der Alster. Wird sich alles zeigen. Ich will seiner Sonja nicht unnütz einen Schrecken einjagen, darum warte ich mit dem Anruf bis morgen.“

Bodo wich entsetzt zurück, peinlich berührt von dem gleichgültig sachlichen Ton. Er sorgte sich um den Baron, seit er ihn für unschuldig hielt, und hätte am liebsten sofort in Hamburg angefragt, wäre es nicht die erste Sorge des jungen Reviertrottels gewesen, das Telephon sperren zu lassen. Die Sperre aufzuheben, weigerte sich Leitwitz ebenso hartnäckig, wie er allen Bitten des armen Bodo um eine kurze Unterredung mit Mimi ein unerschütterliches „Nein!“ entgegensetzte.

„Trage dein Schuldbewußtsein bis morgen früh als Buße. Wie ich deine Frau kenne, wird sie dir dann leicht verzeihen. Es ist schon allerhand, mein Lieber, daß ich dich bei dir daheim bewachen lasse, statt in einer Zelle bei uns. Man knallt Menschen nicht wie Spatzen vom Dach, mein Junge – wir schreiben 1924, vergiß das nicht. Es kann mir eine mächtige Nase vom Untersuchungsrichter und Staatsanwalt eintragen, daß ich nicht besser gegen Verdunkelungsgefahr vorsorge. Totschlag ist Totschlag! Hättest als alter Jäger den Kerl ruhig in den Garten rutschen lassen und dann ins Bein schießen sollen! Wäre einfacher gewesen für dich und uns. Mußt jetzt die Folgen tragen und geduldig warten, bis die Herren aus Moabit ihren Senf beigetragen haben. Vorher darf ich dich um keinen Preis zu deiner Frau lassen. Schlage dir das aus dem Kopf!“

Um seiner Sache ganz sicher zu sein, schärfte es Leitwitz dem Posten im Flur besonders ein, weder schriftlichen noch mündlichen Verkehr zwischen dem Ehepaar zuzulassen.

„Sie haften mir dafür!“ schnarrte er mit erhobener Stimme, laut genug, um durch die verschlossenen Türen von Mimi und von Bodo gehört zu werden.

Als er das Haustor hinter sich zufallen ließ, fuhr auch das Leichenauto gerade aus dem Garten. Die wenigen Neugierigen verliefen sich. – Nur die vier Fenster in der zweiten Etage des schwarzen Würfels glühten gelb durch die kahlen Baumkronen.

Der Herr Kriminalkommissar pfiff befriedigt durch die Zähne und eilte in seine Abendgesellschaft zurück.

III.

Wie Karl Abt richtig vorausgesehen hatte, bemerkte Doktor Landau das Ausbleiben seines Gastes erst gegen zehn Uhr nachts, als ihn der Hunger zu plagen begann. Abt kam nun bestimmt nicht mehr. Daß er sein Ausbleiben nicht angekündigt, nicht einmal nachträglich entschuldigt hatte, war beunruhigend. Wahrscheinlich irrte er ziellos in der Stadt umher, gehetzt von dem krausen, ungesunden Haß, der ihn verzehrte. Nichts war schwerer, als solchen innerlich zerrissenen Menschen beizukommen. Auch Abt konnte nur von sich geheilt und zufrieden werden, wenn es gelang, neue Interessen in ihm zu wecken, seinen Hang zum Grübeln nach außen abzulenken; dieser Abend unter vier Augen wäre eine gute Gelegenheit gewesen.

Für sich allein die Christbaumkerzen anzustecken, hatte Landau keine Lust, er verschlang hastig das Essen und trat mit der Zigarre an das Fenster des vorspringenden Erkers, von wo er in die verödete Straße hinabsah: kein Fuhrwerk, keine Tram, selten ein Fußgänger, jeder Verkehr zwischen den Menschen eingestellt.

Das war nun ihre „Heilige Nacht“, das Fest der Liebe. In keiner anderen Nacht waren die Menschen so taub, so verriegelt und vereist nach außen – wer ohnehin schon wund, wie der arme Abt, durch das Leben dahintrieb, mußte vergiftet heimkehren, zerfleischt von dem Gefühl, ein Ausgestoßener zu sein. – Überraschte Landau ihn nicht früh am Morgen, vor allen Krankenbesuchen, dann lief er womöglich wieder davon, aus Scham über sein Benehmen und aus Angst, es könnte doch gelingen, ihm den Haß auszureden, den er sich so tief ins Herz gerammt hatte über Nacht.

Treu seinem Vorsatz begann der Doktor sein Tagewerk denn auch mit einem Besuch bei Abt, im ersten Augenblick überzeugt, die Etage verwechselt zu haben. Schon wollte er sich entschuldigen, als er die geflickte Joppe und die gestreiften Beinkleider Abts erkannte und sofort interessiert die Türe hinter sich schloß. Die kurz angebundenen, gereizten Antworten des Barons schreckten ihn nicht: er war es gewöhnt, mißtrauisch empfangen zu werden – Kneifer und steifer Kragen genügten da draußen, um einen Menschen verdächtig zu machen.

Für den Baron hätte der Besucher aus dem eigenen Bildungskreis eine Erlösung bedeuten müssen, aber es lagen auf einem verstaubten Brett, das wohl eigens für diesen Zweck in der Zimmerecke befestigt war, allerhand Drucksachen, Bücher, Notizen und Prospekte, Ankündigungen der Arbeiterbildungsschule mit Listen von Abendkursen – Indizien, die nachträglich das geschwollene Pathos des Herrn Abt verständlich machten. Wer erschöpft von schwerer körperlicher Arbeit abends aus der Fabrik kam, philosophierte nicht über sein Schicksal und die Menschheit. Der magere, schlampige Mann mit dem Kneifer sah ganz danach aus, einer der Maulaufreißer zu sein, die mit Schmeicheleien und Versprechungen die Arbeiter aufputschten, um sich von ihnen einen Parlamentsfauteuil erkämpfen zu lassen.

Doktor Landau hingegen gefiel es, daß ein Arbeitsloser, dem nicht einmal die Lumpen gehörten, die er auf dem Leibe trug, anerkennenswerten Stolz bewies. Er mochte die Schleicher nicht leiden, die in Ehrfurcht erstarben vor jedem besser gekleideten Bürger. „Länger als bis Montag kann Ihnen Abt seine Werktagskleider nicht lassen“, sagte er, „kommen Sie mit, ich habe nur einige Krankenbesuche zu machen, dann bringe ich Sie zu mir nach Hause. Vielleicht kann ich Ihnen mit dem Nötigsten aushelfen. Einen alten Überrock habe ich bestimmt.“

Am liebsten hätte der Baron mit einer Grobheit geantwortet. Zerbrochen von der schlaflosen Nacht, gereizt von dem ungewohnten Zwang, sich zu verstellen, war er nicht in der Laune, sein Abenteuer humoristisch zu nehmen. Die zudringliche Wohltätigkeit dieses Kassendoktors bestärkte ihn in dem Verdacht, den geistigen Urheber seines Unglücks vor sich zu haben. Wie hätte der einfache Fabrikarbeiter dem Einfluß eines studierten Herrn widerstanden?

Aber so wenig reizvoll die Aussicht auch war, in einen abgetragenen, fleckigen Anzug des unsympathischen, verluderten „Volksbeglückers“ zu schlüpfen: der Mann hatte doch eine Vergangenheit unter gebildeten Menschen hinter sich. Nur fort also aus der ungemütlichen, gefährlichen Umgebung! Gegen das Beisammensein mit einem, der sich ostentativ sein „Freund“ nannte, konnte Abt nichts einwenden, es war kein Verstoß gegen den Wortlaut der Abmachung: bis zum Sonntag nur „innerhalb seines Bekanntenkreises“ zu verkehren.

Es war eine angenehme Überraschung für den Baron, in dem Lohnauto Platz nehmen zu dürfen, das Landau sich für die Vormittage hielt. Der Doktor hingegen beobachtete erstaunt die Empfindlichkeit des Schneidergesellen, sein auffallendes Widerstreben, mit ihm zu den Kranken hinaufzugehen. Es mußte etwas nicht richtig sein mit dem Mann, der zimperlich abseits stand, statt sensationslüstern den Hals zu recken wie seinesgleichen. Der passende Verkehr für Abt – es schien Landau absonderlich, daß der Freund nichts von dem Aufenthaltsort seines Gastgebers und von der Verabredung des Weihnachtsabends wußte.

„Hat er Ihnen bestimmt nicht den Auftrag gegeben, ihn bei mir zu entschuldigen? Sind Sie ganz sicher, daß er keinen Brief für Doktor Landau zurückgelassen hat? – Ich mache mir ernstliche Sorgen!“

Der Baron blickte verlegen zu Boden. Landau? – Doktor Landau? – Aber ja doch! Vor kurzem erst hatte jemand nach einer Aufsichtsratssitzung ironisch den Vorschlag gemacht, man sollte die Rede des Präsidenten im Stenogramm dem Sohne zuschicken. Das also war der spaßige Geselle, von dem es hieß, er habe eine Schraube zuviel.

Vorsichtig von der Seite studierte Mangien neugierig das frühwelke Stubenhocker-Gesicht. Die Ähnlichkeit mit dem Vater war nicht zu verkennen. Welcher Spaß, von dem Sohn des Herrn Generaldirektors Landau einen Mantel geschenkt bekommen!

Als der Wagen wieder hielt, fiel Mangien zum erstenmal aus seiner Rolle. Er fühlte sich befreit von jedem Zwang, seit er wußte, daß er den Schwager Justizrat Rillas, den verlorenen Sohn des harten, alten Juden von der Bodenbank, einen Mann aus seinen Kreisen, neben sich hatte. Über Geschmack ließ sich nicht streiten, machte es Landau junior Spaß, die glitschigen, stinkigen Hinterhaustreppen hinaufzukriechen – bitte! – er sollte seiner Leidenschaft frönen – aber allein.

„Ich rauche eine Zigarette und erwarte Sie hier, Herr Doktor!“

Dieses Auskneifen mißfiel dem Doktor und er wehrte ab: „Nein. Kommen Sie nur mit! Ich werde Sie vielleicht brauchen. Dem Mann da oben ist der Fuß beinahe zermalmt worden von einer Eisenplatte und seine Frau kann sich seit drei Jahren nicht von ihrem Strohsack rühren. Es scheint mir, Sie machen es genau wie der Vogel Strauß. Schließen die Augen und glauben, das Elend sei nicht mehr da, wenn Sie es nur nicht sehen.“ „Warum sagt er mir das?“ – schoß es dem Baron durch den Kopf. Verdacht konnte er doch nicht geschöpft haben. Hätte der merkwürdige Kauz gewußt, wen er mit sich durch das finsterste Berlin schleifte, er hätte nicht aufdringlicher seine überspannten Ansichten entwickeln und mit ausgesucht abstoßenderen Beispielen demonstrieren können.

Von klein auf reich, hübsch, verwöhnt – war Mangien weder engherzig noch hart, nur oberflächlich. – Warum hätte er nicht auch den Leuten, die an seinen Maschinen standen, ihr Auskommen gönnen sollen? Sein Reichtum war zu groß, er hätte persönlich kein Opfer bringen, sich keinen Wunsch versagen und nichts entbehren müssen – aber es hieß allgemein, die Arbeiter stellen zu hohe Forderungen, sie hätten es zu gut und wären darum frech geworden – man müßte Exempel statuieren und nicht um Fingersbreit nachgeben! – Schon als Kind hatte er bei Tisch Vater und Großvater dasselbe Urteil fällen hören – und nun sagte er gelegentlich selbst, er würde lieber seine Fabrik in die Luft sprengen, ehe er eine Erhöhung des Stundenlohnes um etliche Pfennige zuließe.

Die deutlich ablehnende Haltung des Barons reizte Doktor Landau zu immer aggressiveren Bemerkungen, und der aufgezwungene Anschauungsunterricht mit seinen Gerüchen und widerlichen Gestalten ließ den nicht übergroßen Vorrat Mangiens an Selbstbeherrschung sich rasch verringern. Die Stimmung zwischen den beiden wurde immer gespannter.

Die Bombe platzte, als sie nach dem Besuch bei dem verunglückten Arbeiter und der gelähmten Frau wieder im Auto saßen. Der Baron hielt das Gesicht lufthungrig in das offene Wagenfenster, noch ganz benommen von dem widerlichen Anblick. Waren das Menschen? Wie eine Furie hatte das Weib auf dem halbverfaulten Lager ihren stöhnenden Mann beschimpft, weil sein zermalmtes Bein die Aufmerksamkeit des Doktors von ihren Klagen ablenkte. Nach dreißig durchkämpften Lebensjahren begeiferten sich die beiden wie Todfeinde, zur Belustigung der würdigen Nachkommenschaft, die in der anstoßenden Dachkammer, am frühen Vormittag schon angeheitert, Karten klopfte. Als spräche er nur eine Selbstverständlichkeit aus, erteilte der Doktor die Auskunft, die vermeintlichen Söhne wären Liebhaber, wenn man wollte „Zuhälter“ der Töchter, die als Straßenmädchen auch den Unterhalt der Eltern verdienen müßten. Es genügte Landau nicht, diesen Abschaum als Arzt zu behandeln, er ereiferte sich auch noch darüber, daß keine Wohlfahrtseinrichtung die ehrwürdige Dirnenmutter in Pflege nehme, der Frau, die sich von dem Schandlohn ihrer eigenen Töchter nährte, ein Bett geben wollte.

„Aber Herr Doktor! Man kann doch anständigen Frauen diese Bettnachbarschaft nicht zumuten!“

„Ach, kann man das wirklich nicht?“ barst der lange verhaltene Zorn aus Landau. „Wie merkwürdig! Aber der Frau selbst hat man dreißig Jahre lang zumuten dürfen, was kein Mann, kein Riese, kein Tragtier ausgehalten hätte! ... Die Frau da oben hat tagtäglich zehn Stunden an der Flachdruckmaschine gestanden, dreißig Jahre lang, von früh bis abends, auf einem schmalen Brett, hoch oben neben der Maschine! Können Sie sich das überhaupt vorstellen, Mensch, was für eine Frau, die zwischendurch sieben Kinder ausgetragen hat, das Stehen von früh bis abends bedeutet? Und diese Frau hätte nebenher noch ihre Kinder erziehen, abends Erbauungsstunden mit ihnen abhalten sollen, nicht wahr? Es genügt nicht, daß sie das Essen für sie kochen mußte, wenn jede Faser in ihrem Körper nach dem Bett brüllte, man läßt sie wie Unrat in ihrer Ecke verkommen als Strafe, weil sie ihre Töchter nicht dazu anhielt, moralisch zu bleiben, damit sie auch dreißig Jahre lang stehen durften, bis man sie als Krüppel auf den Kehrricht wirft! Ins Gesicht speien würde ich der Mutter, die das Herz hätte, ihren Kindern das bißchen schmutzige Freude zu verleiden, solange sie noch was herausschlagen können aus ihrer Jugend, um sie der ,Anständigkeit‘ zu opfern, die sie an ihrem eigenen armen Leibe ausgekostet hat. Daß Sie sich nicht schämen, so zu sprechen!“

Mangien biß ärgerlich auf seinen kleinen Schnurrbart. Was sollte er auf diesen Temperamentsausbruch erwidern? Wozu streiten? Der alte Landau, dem wirklich nur der lange, weiße Bart zum Shylock fehlte, hatte mit seinem Beispiel den Sohn in das entgegengesetzte Extrem gehetzt. Einer solchen schwer erkämpften Überzeugung zu widersprechen, war aussichtslose Mühe.

Vielleicht wäre es somit wirklich gelungen, in friedlichem Nebeneinander die Wohnung des Doktors zu erreichen, ohne den Unglücksfall, der unweit der Leipziger Straße die Heimfahrt hemmte. Ein Mann war überfahren worden, selbstverständlich von einem Herrenfahrer.

Statt aber den eigenen Wagen in eine Nebengasse einbiegen zu lassen, sprach Landau durch das offene Fenster mit den abströmenden Neugierigen und wählte seine Zeugen geschickt aus jener Schicht, für die schon der Besitz eines Automobils ein Schuldbeweis war. Ein Arbeisloser, vom Hunger geschwächt, sollte angeblich zu langsam ausgewichen sein, es kostete den Baron einige Überwindung, den Verdacht nicht auszusprechen, der Mann sei vielleicht angeheitert gewesen: am ersten Weihnachtsfeiertag eine naheliegende Erklärung für unsicheren Gang. Aber auch ohne Aufmunterung legte der Doktor mit seinen tendenziösen Randbemerkungen los:

„Jetzt bekommt der arme Teufel wenigstens ein sauberes Bett und kann sich satt essen, bis seine Knochen wieder zusammenheilen. Wer sich in Berlin nicht überfahren läßt oder aus dem Fenster springt, hat weniger Chance, Helfer zu finden, als der Schiffbrüchige mitten im Ozean!“

Es war nicht leicht, ernst zu bleiben bei dem Anblick des langen, mageren Mannes, der mit seinen endlosen Extremitäten sich ordentlich verknotete in dem niederen Kleinauto, auch darin grundverschieden von seinem Vater, dessen gefrorene Ruhe mit keiner Geste den Semiten verriet.

Konnte der Doktor unausgesprochene Gedanken hinter der Stirne lesen? Es war beinahe unheimlich, wie präzis er den nicht geäußerten Widerspruch, es gäbe auch mehr Bettler in Berlin als Schiffbrüchige auf dem Meer, mit Gegenargumenten beantwortete.

„Glauben Sie ja nicht, daß man nur so gleichgültig am Elend vorbeigeht, weil es in Berlin zu viele Bettler gibt! Genau das Umgekehrte ist wahr: die Armut ist so groß, weil niemand sich in seinem Wohlleben stören läßt. Die Gewohnheit, den größten Luxus neben dem größten Jammer zu sehen, hat die Menschen abgestumpft. Sie verwechseln Ursache und Wirkung. Ich weiß nicht, ob Sie diesen Unterschied begreifen.“

„Ich denke wohl!“ lächelte der Baron ironisch und fürchtete nachträglich, sich verraten zu haben. Aber so leicht ließ der Doktor nicht locker, wenn er einmal sein Steckenpferd gesattelt hatte. Die Aufgabe, das Solidaritätsgefühl des arbeitslosen Schneidergesellen zu wecken, erfüllte ihn zu sehr, als daß er auf den Tonfall der Antwort geachtet hätte. Während der Weiterfahrt strengte er sich nach Kräften an, den Höllenlärm des Straßenverkehrs in dem ratternden Auto zu überschreien.

„Unsere Gehirne funktionieren verkehrt, es ist gelungen, die angeborene Vernunft so gründlich zu verwirren, daß wir den tollsten Widersinn für selbstverständlich hinnehmen. Denken Sie zum Beispiel, Sie hätten einen feinen, englischen Herrenstoff zu verarbeiten und bekämen auf die Frage nach dem Beruf des Bestellers die Antwort: er sei nichts, Erbe oder Sohn eines reichen Vaters, oder sonstwie ein begüterter Nichtstuer. Das würde Sie doch nicht überraschen, im Gegenteil! Wer nichts leisten muß, hat die meiste Zeit, für sein Äußeres zu sorgen. Hieße es aber, ein Arbeiter habe den guten Anzug bestellt, müßten Sie glauben, Sie hätten sich verhört, so ‚natürlich‘ scheint es heute schon, daß, wer ,nur‘ arbeitet, nicht gut gekleidet sein kann. Arbeiter und Armut gehören zusammen wie Schnee und Winter oder Frühling und Blumen.“

Nein! Auch diese bösartige Verdrehung gläubig hinzunehmen, war nicht einmal ein Schneidergeselle verpflichtet! Der Trugschluß war zu durchsichtig.

„Aber Herr Doktor! Es gibt doch Arbeit und Arbeit. Ein guter Zuschneider braucht bei Gott nicht zu hungern! Wer nichts kann als –“

Trotzdem der Wagen schon vor seiner Wohnung hielt, mäßigte Landau die Stimme nicht, schrie vielmehr so laut auf den Baron ein, daß Vorbeigehende erstaunt stehenblieben.

„Ich spreche nicht vom Zuschneider, ich spreche vom richtigen Arbeiter, der seine Körperkräfte verkauft, genau wie ein Zugtier, ohne wie ein Zugtier ausreichend mit Futter und Stroh versorgt zu werden. Ob einer hämmert, gräbt oder bohrt, ob er Häuser bauen, Wasser, Holz oder Kohle herbeischaffen hilft, er selbst nimmt es schon für selbstverständlich hin, daß er sein Leben lang sich verbrauchen muß, ohne so viel von dem gemeinsamen Vorrat für sich beanspruchen zu dürfen, als notwendig wäre, um sein Leben lebenswert zu gestalten. Und das ist der Urgrund von allem Unglück! Verstehen Sie?“

„Herr Doktor sind also Kommunist?“ – –

Ermutigt von dem Halbdunkel im stillen Treppenhaus, hatte Mangien die Frage rasch gewagt und bemühte sich, möglichst unschuldig-einfältig dreinzuschauen, gefaßt auf eine Sturzflut temperamentvoller Belehrungen über die wahren Ziele des Kommunismus. Aber es war nicht klug zu werden aus dem Doktor. Statt loszudonnern, wurde er auf einmal still, wich der gestellten Frage aus und vertiefte sich bald darauf in die Auswahl der geeigneten Kleidungsstücke, als hätte er seinen Ärger vergessen.

„Ich habe nichts mit Kommunismus, mit Sozialismus oder Kapitalismus, überhaupt mit keinem ,Ismus‘ etwas zu tun!“ bemerkte er nur so nebenher, den Kopf im Wäscheschrank vergraben. „Mich kümmern nur die Menschen. Wer mit einem ,Ismus‘ beschäftigt ist, hat für die Menschen keine Zeit. Da! – Probieren Sie diese Sachen mal an, es wird Ihnen alles zu groß sein, aber dem ist ja leicht abzuhelfen. Machen Sie nur rasch mit dem Umkleiden, damit wir noch was Rechtes zu essen bekommen. Gleich um die Ecke ist ein kleines Bierhaus. Ich erwarte Sie drüben im Ordinationszimmer. Der Baron verzog wenig erfreut den Mund, er sah voraus, daß ihm auch die Mahlzeit eine Sintflut von Vorwürfen, Belehrungen und utopischen Theorien eintragen werde, wie der verknüllte Anzug, den er voll Mißtrauen hin und her wandte. Aber die weiße Wäsche stimmte ihn nachsichtig. Welche Seligkeit, statt der juckenden Wolle wieder ein gewaschenes, kühles Hemd auf der Haut zu fühlen, mit zwar ausgefransten, aber immerhin angenähten Manschetten! Hätte er auch noch baden und sich rasieren dürfen, er wäre bereit gewesen, einen Drei-Monat-Kursus über die soziale Frage in der Arbeiterbildungsschule anzuhören.

IV.

Hier und dort zuckten schon die ersten Lichtreklamen in das frühe Dunkel, als der Baron, ganz wirr im Kopf, die Wohnung Doktor Landaus verließ. Teufel auch, dieser verdrehte Geheimratssohn konnte reden! Da hieß es stille halten und den Wortschwall über sich ergehen lassen wie einen Gewitterregen.

Und doch fühlte sich Mangien eher hingezogen zu dem merkwürdigen Menschen, vielleicht, weil ihn die intensive Beredsamkeit an seinen armen Doktor Wilheim gemahnte. Von dem langen Zuhören ermüdet, war er froh, dem Dauervortrag entronnen zu sein.

Die Schläge einer nahen Turmuhr verjagten alle Gedanken an den Doktor: es waren genau vierundzwanzig Stunden vergangen seit der Abreise aus Hamburg. Wie sollte die arme Sonja sich erklären, daß ihr Mann nicht einmal nach dem Verlauf des Weihnachtsabends sich erkundigt hatte? Ganz damit beschäftigt, sich auf das Gespräch mit seiner Frau vorzubereiten, strebte er nachdenklich dem Telegraphenamt zu, von den viel zu langen Rockschößen des geschenkten Ulsters im Ausschreiten behindert.

Kaum bis zum Schalter vorgedrungen, wurde er blaß und rot, weil er für die unschuldige Frage, ob er auf einen telephonischen Anschluß lange werde warten müssen, wie ein Schulbub von dem Beamten abgerüffelt wurde. Vergebens sah er sich unter den Wartenden nach einem Protektor um. Wäre ein Auto vorgefahren und der Baron Mangien in seinem Biberpelz eingetreten, kein Mensch hätte an dem Benehmen Anstoß genommen, das einem Habenichts in Kleidern, die beim Trödler zusammengekauft schienen, allseits verübelt wurde. Diese geringschätzigen Blicke erinnerten an den nächtlichen Auftritt mit dem Schutzmann, und es war wieder unmöglich, Doktor Landau nicht recht zu geben: wer anständig seine Arbeit tat und überall darunter zu leiden hatte, daß er nicht reich von ihr wurde, konnte unmöglich zufrieden sein mit seinem Schicksal.

„Hamburg, Kabine drei!“ krähte der Beamte schon zum zweitenmal und versäumte den Anlaß nicht, die Zerstreutheit Mangiens mit einem bissigen Witzwort zu rügen. Von dem Gekicher des Publikums in die Zelle gejagt, wurde er gleich darauf von seinem alten Diener mit dem gewohnten Respekt begrüßt. Welche Wohltat, sich wieder als sich selbst fühlen zu dürfen! Über seiner Freude vergaß er ganz, daß er in Unfrieden von seiner Frau Abschied genommen hatte, geriet über ihre kühl gemessenen Antworten in Verwirrung und verplapperte sich schließlich. Als könnte seine Frau auf den unwahrscheinlichen Einfall kommen, er stehe, wie ein stellenloser Kommis gekleidet, in einer öffentlichen Fernsprechzelle, betonte er zweimal ganz besonders, daß er aus seinem Hotelzimmer angerufen habe. Karl Abt, der Feind, hätte es nicht geschickter anfangen können, den Verdacht Sonjas zu wecken!

Wütend über seine Ungeschicklichkeit schoß er wie gejagt aus dem Postamt und blieb erst stehen, als er sich an der nächsten Ecke für eine Wegrichtung entscheiden mußte.

Wohin? Die Angst vor der angedrohten Kontrolle Abts trieb Mangien in die Vorstadt zurück, er wollte sich ein Alibi ersitzen in der kalten Kammer, und war vor Übermüdung eingenickt, als der Bote pochte. Was war das? – – Eine Falle?

Statt die zwei Tage auszunützen, wollte der Mann heute schon in die verhaßte Armut zurück? Konnte er es nicht erwarten, die dicke Brieftasche und das gute Leben los zu sein, – – oder – – wollte er den verhaßten Geldsack mit ein paar handfesten Freunden aufsuchen? – –

Es litt den Baron nicht länger in der Kammer – unter Menschen verging die Wartezeit schneller und man wurde die dummen Gedanken los.

Die Straßen waren von einer geräuschvollen, unheimlich dichten Menge erfüllt. Trotz Kälte und Nebel herrschte ein so reger Betrieb, daß Mangien das ungemütliche Gefühl nicht los wurde, es bereite sich irgendein ungewöhnliches Ereignis vor. Das fortwährende Gestoßen- und Gestreiftwerden zerrte an seinen ohnehin gereizten Nerven.

Das Häufchen Kleingeld, das ihm von dem Wochenlohn Abts noch geblieben war, nachdenklich in der hohlen Hand wiegend, dachte er unwillkürlich an die Zornesausbrüche seines Betriebsleiters, der immer versicherte, die „Kerls“ hätten es „zu gut“. Natürlich war es töricht, die eigenen Bedürfnisse den Arbeitern zuzuschreiben, wie es der Doktor tat. Aber der vielverschriene „Übermut“ der Leute war schwer festzustellen, wenn selbst einer, der weder Weib noch Kind hatte, mit einer verwanzten Kammer sich begnügen mußte. Nicht nur der Doktor Landau übertrieb, es war auch Übertreibung zu behaupten, daß alles in die Kintöppe lief, um das viele Geld loszuwerden.

Halt! Kintopp? – – –

Eine herrliche Idee! Gleich um die zweitnächste Ecke flackerte die Fassade eines volkstümlichen Lichtspielhauses; das war der ideale Ort, die peinliche Wartezeit abzukürzen!

Auf der Schwelle kostete es aber doch wieder einen Entschluß, nicht umzukehren. Aus der dunklen Höhle schlug ein Geruchsgemisch hervor, wie der giftige Atem eines hundertköpfigen Drachens.

Doch man gewöhnte sich, saß wundervoll geborgen in der Finsternis, konnte während der Lichtpausen lustige Studien machen, selbst kaum beachtet, die Meinungsäußerungen der Nachbarn auffangen.

Versöhnlich gestimmt, lächelte der Baron nachsichtig, als sein Nebenmann ein Käsebrot aus der Tasche zog, das in kultivierteren Gegenden genügt hätte, einen ganzen Theatersaal zu „vergasen“.

Was in den zwei Stunden nach dem Betreten des Kinos mit ihm geschehen war, sollte dem Baron ein nie ganz aufzuklärendes Geheimnis bleiben. Selbst Doktor Landau, der vom Kriege her mit Angstpsychosen und Nervenzusammenbrüchen vertraut war, wußte sich nur schwer zurechtzufinden in dem krausen Zeug, das ihm in sprunghaft durcheinandergestreuten Sätzen als „Erklärung“ aufgetischt wurde.

Statt sich an die Reihenfolge der Ereignisse zu halten, nannte der Baron nur so ganz nebenher seinen richtigen Namen, ohne mit einigen Worten wenigstens anzudeuten, warum der Besitzer der berühmten Mangien-Werke als stellenloser Schneidergehilfe herumlief. Wie aus einem Dampfkessel zischte die Geschichte seines Kinobesuches.

Bloß den Inhalt eines albernen Filmdramas zu erzählen, konnte nicht gut der Zweck seines nächtlichen Besuches sein, und doch ließ er sich nicht von diesem Thema abbringen, bemüht, die beschämende Beichte hinauszuschieben. Wie sollte er auch dem Doktor erklären, was er sich selbst nicht zu erklären wußte? – Anfangs hatte er sich glänzend unterhalten, innerlich schief gelacht über die Konferenz der großen Pariser Bankdirektoren, die so steif um den Tisch saßen, als hätte jeder seine Panzerkasse in der Brusttasche bei sich. Auch die Bewilligung des MiIlionenkredits erfolgte unter den drolligsten Zeremonien, und die ganze Figur des Platinminenbesitzers aus dem Ural war eine plumpe, gehässige Karikatur. Mit den geliehenen Millionen nahm der feiste Kapitalist auch einige französische Ingenieure nach Sibirien, die sollten sein Bergwerk für ihn ausbauen, während er selbst sich an den Reizen einer Pariser Tänzerin ergötzte. Natürlich verliebte sich ein Ingenieur in die schöne Landsmännin und der asiatische Sadist vergaß über seiner Eifersucht sogar seinen Geiz, ließ eigens einen ganzen Stollen des Platinbergwerkes unter Wasser setzen, und das Liebespaar wäre im fernen Ural elendiglich ersäuft worden, hätten nicht die revolutionstüchtigen französischen Ingenieure die geknechteten russischen Proleten aus ihrer Stumpfheit gerüttelt. Der schurkische Kapitalist ersoff schließlich selbst in seiner Grube, und der tapfere Ingenieur freite die geläuterte Tänzerin.

Daß einen gebildeten Menschen diese Häufung tendenziöser Übertreibungen erregen könnte, schien unbegreiflich, und es war schwer, nachträglich das plötzliche Versagen aller Selbstzucht und Willenskraft zu erklären. Als die ganze Belegschaft des Bergwerkes wie ein einziges Raubtier mit hundert mächtigen Tatzen gegen den alleinstehenden Bösewicht vorzurücken begann, da war mit einemmal dem Baron die unsinnige Vorstellung, die nicht zu bändigende Furcht in die Adern geschossen, nun würden auch die vielen klobigen Fäuste ringsum in dem dunklen Zuschauerraum dem wehrlosen Erbfeind an den Leib rücken, der, abgeschnitten von jeder Verbindung mit seiner eigenen Welt, verkleidet mitten in der wütenden Masse saß.

Es war keine angenehme Aufgabe für Mangien, seine eigene Feigheit ausführlich erklären zu müssen.

„Werden Sie’s mir glauben, Herr Doktor, daß ich wie toll durch die Straßen gejagt bin, und noch hier im Hause, vor Ihrer Wohnungstüre, über das Treppengeländer gebeugt, hinabgehorcht habe, ob die Horde meiner gar nicht existierenden Verfolger am Tor vorbeibrausen oder mir auf den Fersen die Treppe heraufstürmen würde. Ich muß einfach nicht ganz richtig gewesen sein. Sie als Arzt werden es besser wissen als ich selbst, was eigentlich mit mir los ist.“

Der Wink mit dem Zaunpfahl war deutlich genug. Was hätte es den Doktor gekostet, mit ein paar Worten über „Wachträume“ und „Angstpsychosen“, die nichts mit Mut oder Feigheit zu schaffen hätten, dem Geständnis alles Peinliche zu nehmen? Aber Landau scherte sich gar nicht um den anwesenden Gast, sah über den Baron Mangien wie über eine unwichtige Persönlichkeit hinweg, ausschließlich um seinen Mechaniker, um Karl Abt, in Sorge. Es war ein neues Gefühl für den Besitzer der Mangien-Werke, derart vernachlässigt zu werden, um eines andern, und welches andern willen. Er wurde rot bis unter die Haarwurzeln, gab gereizt Antwort auf die vielen Fragen Landaus nach allen Einzelheiten des Heiligen Abends, und hätte beinahe die Geduld verloren, als der Doktor die Geschmacklosigkeit beging, zur Entschuldigung Abts die alberne Geschichte von der verweigerten Unterstützung aufzuwärmen. Dem Sohn des Generaldirektors der Bodenbank mußte es doch bekannt sein, daß ein als „Millionär“ verschriener Mann in leitender Stellung unmöglich alle Bittgesuche selbst lesen und jeden Wunsch erfüllen konnte.

Mit raschen Schritten auf und nieder pendelnd, achtete Landau viel zu wenig auf den Tonfall der Antworten, als daß er die Gereiztheit des Barons hätte bemerken können. Hatte sich Abt die Folgen des Dummenjungenstreiches, die Sinnlosigkeit einer so gefährlichen Herausforderung nicht überlegt? Daß man ihn wegen des gewaltsamen Eindringens in das fremde Haus und der begangenen Erpressung am Baron nicht behelligen werde, lag auf der Hand. Aber das Duell war zu ungleich zwischen dem Besitzer der Mangien-Werke und einem alleinstehenden armen Fabrikarbeiter. Was sollte die Polizei davon abhalten, den Narren, der einem einflußreichen Manne unbequem ge worden war, in irgendein laufendes Verfahren einzubeziehen? Sie war ja weder Rechenschaft noch Entschädigung schuldig, wenn sie nach wochen- oder auch monatelanger Untersuchungshaft ihren „Irrtum“ bekennen mußte. Da hatte Abt sich schön in die Nesseln gesetzt. Wollte man ihn aus der Patsche ziehen, so mußte der Herr Baron gehörig eingeschüchtert werden, damit ihm die Lust verging, seinen Einfluß und seine Verbindungen gegen den wehrlosen Feind mobil zu machen.

„Wir wollen offen miteinander sprechen, Baron. Sie wünschen meine Vermittlung bei Abt ...“

„Ich wäre Ihnen für diese Vermittlung dankbar. Es liegt ja auch nicht im Interesse ihres Schützlings, sein Spiel fortzusetzen, statt den glücklichen Zufall beim Schopf zu packen und sich einen ausgiebigen Geldbetrag zu sichern.“

Mit jähem Ruck blieb der Doktor vor Mangien stehen und sah ihm streng in die Augen: „Ein solches Angebot würde nur den Bettelstolz Abts herausfordern. Sie haben ja ohnehin sein Versprechen, brauchen ihm also sein Schweigen nicht erst abzukaufen. Gerade weil er so tief unter Ihnen steht, können Sie ganz sicher sein, daß er sein Wort halten wird, ich bürge für ihn.“

Der Baron markierte mit einer leichten Verbeugung, daß er auf den ritterlichen Ton einging:

„Ich zweifle keinen Augenblick, würde es jedoch vorziehen, nicht als Schuldner von Herrn Abt zu scheiden. Irgendeinen unerfüllbaren Wunsch trägt jeder Mensch im Herzen, vielleicht ...“

„Wenn Abt wie jeder Mensch wäre, hätte ich meine Zeit nicht auf ihn verschwendet. Sicher hat es ihm Ihre verstorbene Frau Mutter gut gemeint, daß Resultat ist aber leider, daß er“ – –

Nun wurde es dem Baron doch zu bunt! Auch noch seine arme Mutter beschuldigen zu lassen wegen eines verrückten Neidhammels, fühlte er sich bei Gott nicht mehr verpflichtet. Mit vibrierenden Lippen schnitt er dem Doktor das Wort ab, bedankte sich und wollte gehen.

Aber auch die schmalen Lippen Landaus waren weiß geworden. Er wußte zu viel von Menschen, die man wie Schlachtvieh in der Mitte eines Kasernenhofes zusammengetrieben und aus den Fenstern niedergeknallt hatte – der Besitzer der Mangien-Werke mußte wie jeder andere Großindustrielle mitgesorgt haben für die Erhaltung der Ehrenmänner, für die das „Umlegen“ eines unliebsam gewordenen Menschen nur eine kleine Zerstreuung bedeutete. Mit einem Sprung warf er sich dem Baron in den Weg: „Bitte! Wenn Sie es vorziehen, allein hinauszufahren, ich möchte mich gewiß nicht aufdrängen. Es droht Ihnen auch bestimmt keinerlei Gefahr von seiten Abts – – umgekehrt bin ich nicht so sicher! Um nicht für hinterlistig zu gelten, möchte ich Ihnen voraussagen, daß ich mir in einem geschlossenen Umschlag Name und Adresse der betreffenden Dame werde geben“ – –

„Herr! Halten Sie mich für einen Meuchelmörder?“

Einige Sekunden lang blieb es still. Aus nächster Nähe starrten sich die beiden in die Augen, bis langsam in jedem das Gefühl erwachte für die Lächerlichkeit des dramatischen Auftrittes. Im Grunde hielt keiner den andern für einen Bösewicht – – im Gegenteil! Verlegen senkten beide den Blick, und der Doktor nahm seinen Spaziergang wieder auf.

Die Lampe auf dem Schreibtisch warf seinen Schatten auf die Seitenwände, und diese schmale, baumlange Figur erinnerte den Baron an die illustrierte Luxusausgabe des Don Quichote, die in seinem Elternhause im Empfangszimmer aufgelegen war. Das frühalte Gesicht, die nüchterne Studierstube, die ganze Umgebung riß das vergessene Bild des Ritters von der traurigen Gestalt aus der Versenkung hoch.

Auch der Doktor schielte im Vorbeigehen besänftigt zu Mangien hinüber. Selbst verflucht, alles zentnerschwer zu nehmen, hatte er eine heimliche, vielleicht nicht ganz neidlose Schwäche für die Glücklichen, die unbelastet, wie verwöhnte Kinder, durchs Leben gehen. Dieser gut gewachsene, gar nicht hochmütige Automobilkönig gefiel ihm. Er hatte keinen harten Zug im Gesicht, war einer Gemeinheit sicher nicht fähig.

„Nein. Für einen Meuchelmörder halte ich Sie nicht, aber ich kenne den gefährlichen Übereifer, der Ihnen, wie meinem Vater, jeden Wunsch vom Gesicht“ – –

Mitten in diesen Satz schrillte im Vorzimmer die Klingel. Mangien blieb allein, horchte ängstlich hinaus und atmete auf, als er den vertraulichen Ton der ersten Begrüßungsworte hörte.

Blond, rosig, hübsch, eine wilde Dichtersträhne in der Stirne, die Krawatte raffiniert „individuell“ geknüpft, gab sich der Eintretende sofort als Literat zu erkennen, noch nicht über das Alter hinaus, in welchem man gerne den „Bohemien“ betont. Er sprach das weiche, näselnd gedehnte Deutsch des Österreichers, hatte etwas absichtlich Schlampiges in Kleidung und Benehmen, aber man merkte ihm doch gleich die gute Kinderstube an. „Guten Abend!“ nickte er überrascht dem Baron zu, erkannte auf den ersten Blick den alten Überrock und den Schlips des Doktors und hielt es nicht für nötig, sich regelrecht vorzustellen. Die langen Beine weit von sich gestreckt, ließ er sich in den großen Armstuhl vor dem Schreibtisch fallen und rief übermütig: „Darfst jetzt sofort die schwierigste Operation an mir ausführen, wenn du errätst, was mich so spät zu dir führt! – – Ich muß mich ein bisseI ausschnaufen. Ein Pechvogel bleibt ewig ein Pechvogel! Da habe ich einmal eine richtige Sensation, die mir kein Blatt wegschnappen könnte, aber jetzt kommt vor Montag keine Zeitung heraus, und bis dahin pfeifen es alle Spatzen von den Dächern, daß Seine Majestät, der Autokönig von Deutschland – Du, sag mal, war das nicht auch der Mangien aus Hamburg, der sich so schäbig gegen die Mutter Abts benommen hat? Gelt ja? Na, jetzt hat er seine Strafe weg: beim Fensterln erschossen! Mausetot.“

„Wer? Abt? Abt ist erschossen?“ gellte der Schreckensruf des Doktors.

„Warum denn Abt? Wie kommst du auf die Verrücktheit? Der Baron Mangien ist erschossen. Zufällig gehe ich – Hallo! Gib acht! Dem wird schlecht!“

Aschgrau im Gesicht, kleine Schweißperlen auf der fahlen Stirn, wäre Mangien der Länge nach hingefallen, hätte der Doktor ihn nicht rechtzeitig aufgefangen und zum Sofa geschleppt. Das Fenster wurde aufgerissen, der Hemdkragen aufgeknöpft. Mit dem ersten frischen Luftzug gewann Mangien gleich das Bewußtsein wieder und wollte sich erheben.

„Sie bleiben jetzt ruhig liegen und trinken ein Glas Kognak. Sei so gut, Gustl, geh zum Diesinger hinunter und bestell’ uns ein warmes Essen, wir kommen nach. Es war zu heiß hier und der Herr ist auch zu lange nüchtern. Auf Wiedersehen!“

Trotz seines Widerstrebens zur Türe hinausgeschoben, stieg Gustl Ewald nachdenklich die Treppe hinab. Was war das für ein Mann, der, mit abgelegten Kleidern beschenkt, „Herr“ tituliert wurde? Selbst das Hemd, das er am Leibe hatte, stammte aus dem Wäscheschrank des Doktors. Ein merkwürdiger „Herr“ jedenfalls. Welchem Schwindler war Landau da wieder aufgesessen?

V.

Eine Minute kaum hatte die Sinnesverwirrung gewährt, dann wurde es dem Baron sofort wieder klar, daß man nicht ganz bei Trost sein mußte, um auf den blödsinnigen Gedanken zu kommen, der Baron Mangien werde nun lebenslänglich ein schmutziger Fabrikarbeiter bleiben müssen, weil der Mechaniker Abt in seinen Kleidern gestorben war. Wie war es aber möglich, daß Bodo von Kleidern und Dokumenten hatte irregeführt werden können?

„Darf ich einen Augenblick Ihr Telephon benützen, Herr Doktor?“

Ohne auf die erteilte Erlaubnis zu warten, rief Mangien sofort bei Brenkens an, schon beschwichtigt von der Hoffnung, es werde Mimi an den Apparat kommen und die verrückte Geschichte mit Gelächter aufklären. Der Hörer fiel ihm fast aus der Hand, als donnernd die Antwort an sein Ohr schlug, die Nummer sei bis auf weiteres polizeilich gesperrt.

„Verzeihung, könnte ich nicht Ihren jungen Freund noch einmal sprechen? Ist er in demselben Lokal, wo wir zu Mittag aßen? Er weiß vielleicht nähere Einzelheiten. Es – es ist doch unmöglich, daß man mich – finden Sie die geringste Ähnlichkeit zwischen –“

Weiter kam er nicht; er wagte es nicht, den Namen Abt auszusprechen, gewarnt von einem unheimlichen Zucken um den Mundwinkel Landaus.

Mangien vertrug den stummen, wehmütigen Vorwurf in den Augen des Doktors nicht. Entschlossen trat er näher an ihn heran und brach gekränkt los: „Sie tun mir unrecht! Ich will Ihnen nicht weismachen, es wäre mir lieber, die Kugel hätte mich getötet! Aber es tut mir aufrichtig leid, sehr leid. „Wäre eine Familie zurückgeblieben, ich würde Sie bitten, Herr Doktor, aber Sie kennen ja Bedürftige genug. Ich hoffe, Sie werden mir erlauben und – und mir nicht nachtragen, wofür ich – Auf Wiedersehen!“

Doktor Landau behielt die Hand in der seinen und betrachtete nachdenklich das hübsche, von Verlegenheit leicht gerötete Gesicht. Tatsächlich war es nicht die Schuld des Barons, daß Abt ihn zum Kleidertausch gezwungen und aus dem Schlafzimmer seiner Freundin verjagt hatte. Es gab eben nur Glück oder Unglück, nicht Schuld oder Unschuld. Wäre er freigebiger gewesen, hätte der Ehemann ihn selbst erwischt.

„Warten Sie noch einen Augenblick! Ich will meinen Freund Ewald an den Apparat rufen lassen, vielleicht weiß er wirklich nähere Einzelheiten.“

Er klingelte an.

Dank einer Zigarre und seiner Journalistenlegitimation hatte Ewald nur aus dem Posten herausbekommen, daß der Baron durchs Fenster geflohen, vom Ehemann in den Kopf getroffen, aus ziemlicher Höhe in den Garten hinabgestürzt sei und sich dabei den Kopf völlig zerschmettert habe. Weiter hätte der Mann nichts gewußt, außer daß Herr Kriminalkommissär von Leitwitz die Untersuchung leiten werde.

Das Rätsel war gelöst: das zerschmetterte Gesicht des Toten erklärte die Verwechslung.

„Ja, was soll ich denn da anfangen? rief Mangien außer sich und stampfte mit dem Fuß.

Es war dem Doktor wirklich nicht zum Lachen, und doch konnte er ein Lächeln nicht unterdrücken, so wunderbar echt war diese kindliche Entrüstung über die Niedertracht des Schicksals, dem Herrn von Mangien Ungelegenheiten zu machen! Der war doch nicht geschaffen, sich mit Schwierigkeiten herumzubalgen.

„Wir müssen trachten, möglichst nahe bei der Wahrheit zu bleiben, das ist die ganze Hexerei. Abt hat sich um Hilfe an Sie gewandt, das ist wahr. Sie sind einmal Spielkameraden gewesen, das ist auch wahr. Und daß er zeitlebens eine unbesiegbare Schwäche für reiche, elegante Damen hatte, hinter reichen Frauen herlief, zu ihren Fenstern emporgaffte, dafür gibt es soviel Zeugen, als er Freunde und Bekannte hatte. Aus diesen gegebenen Tatsachen läßt sich schon etwas machen. Ein Toter kann nicht widersprechen, und es kann ihm auch nichts mehr schaden. Wir dürfen ihm ruhig alles aufpelzen.“

Ein merkwürdiges, wehes Lächeln erschien um den Mund des Doktors, als er das maßlose Erstaunen in den Augen Mangiens gewahrte. „Denken Sie ja nicht, daß ich den armen Abt verkaufe! Ich bin nur der Ansicht, daß die Menschen viel zu arm sind an Gefühlen, als daß sie sich den Luxus leisten dürften, von ihren knappen Vorräten einen Teil an Tote zu verschwenden. Was man so ,Pietät‘ nennt, ist ja doch verscharrte Liebe. Für mich hört an der Schwelle der Leichenkammer jedes Mitgefühl auf. Das ist mir von meiner Spitalpraxis geblieben. Tote sind keine Patienten mehr. Ich kenne zwar Ihre Frau Gemahlin und Ihre Kinder nicht. Wäre es aber nicht unsinnig, diese Menschen ins Unglück zu stürzen, statt den Toten preiszugeben, dem niemand mehr etwas anhaben kann? Hören Sie also! Jedermann wird bereit sein, dem armen Fabrikarbeiter eine Gemeinheit zuzutrauen. Hätte nicht eine der vielen Damen, die Abt bei Wertheim oder sonstwo in der Stadt getroffen und bewundernd bis nach Hause verfolgt hat, Ihre Freundin sein können? Wir bleiben in nächster Nähe der Wahrheit, wenn wir annehmen, er habe oft unter den Fenstern der Dame gestanden, und habe Sie, als häufigen Gast des Hauses, bei der Angebeteten ein- und ausgehen sehen. Von hier bis zu dem Plan, Sie zu sich zu locken, um als Herr von Mangien verkleidet bei der schönen Frau eingelassen zu werden, ist nur mehr ein kleiner Schritt. Eigentlich hätte Abt den Weihnachtsabend bei mir verbringen sollen. Da er ausblieb, fuhr ich heute früh zu ihm hinaus – alles wahr, auch daß ich statt seiner den Herrn von Mangien in der Kammer vorfand. Begleite ich Sie nun zur Polizei, um zu bezeugen, daß sie geknebelt und entkleidet auf dem Bett lagen, so wird kaum jemand meine Aussage bezweifeln! Ich bin nicht arm genug, um für bestochen zu gelten, und daß der berüchtigte ,Bolschewik‘, als der ich verschrien bin, freiwillig einem reichen Industriellen beistehen könnte, auf diesen verruchten Gedanken wird erst recht niemand kommen! In dem politischen Gegner den Menschen sehen, ihm helfen, statt ihn schadenfroh noch tiefer hinabzustoßen, so sehr ich auch als Narr bekannt bin: eine solche, außerhalb aller Vorstellung liegende Tat wird man selbst mir nicht zumuten.“

Die Aussicht, vielleicht doch noch mit heiler Haut davonzukommen, war zu verlockend, als daß der Baron gleich alle Hindernisse und Unwahrscheinlichkeiten entdeckt, dieses Spinngewebe auf seine Tragfähigkeit geprüft hätte. Was er gar nicht begriff, war nur die Hilfsbereitschaft des Doktors. „Ich – ich weiß wirklich nicht, wie ich dazukomme – – Ich habe Ihre Zeit ohnehin schon – –“ stammelte er.

Bitte, halten Sie mich nicht für grob“, unterbrach ihn Landau mit seinem sonderbaren Lächeln. „Ihre Person spielt da überhaupt nicht mit! Nach allem, was Sie als Schneidergeselle von mir zu hören bekamen, dürfte es Sie kaum überraschen, daß mein Herz nicht gerade jenen Damen und Herren gehört, die, gesegnet mit allem, was das Leben an Freuden und Annehmlichkeiten bieten kann, auch noch auf den angenehmen Kitzel einer heimlichen Liebschaft Anspruch erheben. Aber alles kann zur Leidenschaft ausarten, und so habe ich mir im Laufe der Jahre das Helfen angewöhnt – ich kann nicht anders, als jedem beispringen, der in Bedrängnis ist, wie eine Spielratte nicht am grünen Tisch vorbeikann. Es ist im Grunde gemeiner Egoismus, wie so ziemlich jede sogenannte Tugend. Aber ich denke, wir lassen das Philosophieren besser für später! Erst wollen wir genau überlegen.“

„Wenn wir die ganze Welt drankriegen könnten mit der romantischen Geschichte“, entgegnete Mangien. „meiner Frau mache ich doch nichts weis!“

„Nun, daß Sie nicht erschossen sind, wird Sie Ihnen wohl oder übel glauben müssen! Ich sehe nur eine einzige Gefahr: wir wissen nicht, ob und wie die Dame ihrem Gatten die Verwechslung zu erklären versucht hat, das ist die große Schwierigkeit. Hat sie die Wahrheit schon gestanden, so kommen wir selbstverständlich zu spät. Aber in diesem Falle hätte auch der Schupomann etwas von der Verkleidung wissen müssen.

Vielleicht kann mein Freund Ewald Näheres auskundschaften. Er ist geschickt und schlüpft überall durch. Es wird allerdings keine leichte Arbeit sein, ihn zur Mithilfe zu bewegen, wenn er Ihren richtigen Namen erfährt! Aber ich werde ihn schon herumkriegen. Halten wir nur vorläufig fest, Baron: ich habe Sie heute vormittag aus Ihren Fesseln befreit und zu mir gebracht, um Ihnen richtig auf die Füße zu helfen, wie sehr Sie hergenommen waren, beweist, daß Sie eben noch einen Schwächeanfall bekamen. Hat uns Ihre Dame nicht schon das Konzept verdorben, so bin ich überzeugt, daß wir mit dieser Geschichte glänzend durchkommen werden. Unterschätzen Sie das Gewicht Ihres Namens nicht! Der Baron Mangien erschossen! Da geht es den Behörden um den Beweis ihrer Tüchtigkeit. – Weiß die Polizei noch nichts von der Verwechslung, so wird sie uns mit offenen Armen empfangen, und die Zeitungen werden sich auf den rührenden Liebesroman stürzen. Ihre Episodenrolle wird ganz in den Hintergrund geraten. Was bedeutet denn ein geknebelter, unversehrt davongekommener Mann neben dem tragischen Helden, der sterben mußte für seine unglückliche Leidenschaft? Der arme Abt wird wenigstens eine „gute Presse“ haben, und damit fange ich wohl auch Ewald ein! Ehe daß er den verunglückten Romeo als gemeinen Dieb und Erpresser von den Zeitungen abtun läßt, wird er sich mit allen Kräften einsetzen. Ich will ihn gleich auf die Spur hetzen.“

„Ich weiß wirklich nicht – – jetzt, mitten in der Nacht – – das kann ich doch“ – – –

Der Doktor wehrte ab, mit dem halb spöttischen, halb verlegenen Lächeln, das so sympathisch wirkte: „Ich sagte Ihnen schon, es ist eine üble Angewohnheit, wie der Trinker nicht an sich halten kann – froh um den Anlaß, ein Glas auf Ihr Wohl zu leeren. Genau so geht es mir! Vierzehn Jahre Armenpraxis – ich weiß zu viel! Wie eine Antenne ragt mein Bett in die Nacht, aus allen Spitalsbetten, wo ein Obdachloser unter einem Brückenbogen friert, von überall fließt das Elend durch meinen Leib – – es ist ein Glück, wenn ich irgendwo helfen darf und so lange nur den kleinen Ausschnitt sehe, der mich beschäftigt. – – Lassen Sie mich vorerst zu meinem Freund. Sie müssen aber so lange hier oben warten, Baron. Ohne jede Vorbereitung möchte ich es doch lieber nicht riskieren, Ihr Inkognito vor Ewald zu lüften. Er ist noch unglaublich jung.“

Daß es auch eine Art Schande sein konnte, der Friedl Mangien zu sein, war auch wieder eine überraschende Neuigkeit. Ohne die Furcht vor der Unversöhnlichkeit seiner Frau und der Pistole Bodos hätte diese Eitelkeitskränkung allein genügt, dem Baron die Mithilfe des Doktors zu verleiden.

„Ich fürchte, Herr Doktor, Sie übersehen die tausend Machtmittel der Polizei. Ohne eine Durchsuchung von Abts Kammer wird es nicht abgehen, dabei wird Herr von Leitwitz natürlich auch die Nachbarschaft verhören – und dann ist Ihr schöner Roman gleich beim Teufel! Man hat mich ein- und ausgehen gesehen, ehe Sie kamen. Weiß Gott, ich ließe mir gerne aus der Patsche helfen, aber –“

Das Gesicht Landaus wurde auf einmal besonders ernst. „Das lassen Sie nur meine Sorge sein!“ fiel er ein. „Was diese Leute gesehen und nicht gesehen haben, werde ich bestimmen. Es gibt keine Familie im ganzen Viertel, der ich nicht geholfen hätte, als Arzt oder sonstwie, und Sie machen sich keine Vorstellung, wie dankbar man dort draußen ist! Da kann Herr von Leitwitz die alten Folterinstrumente aus dem Polizeimuseum mitnehmen: er wird aus keinem mehr herausbekommen, als ich zu sagen erlaubt habe! Es genügt, wenn ich die Parole ausgebe, ein Vertrauensmann geht von Tür zu Tür, und in einer halben Stunde weiß die ganze Straße Bescheid. Das erledige ich nachher, lassen Sie mich nur erst Ewald expedieren. In zehn Minuten bin ich zurück.“

„Wer ist denn dieser junge Mann?“ entfuhr es dem Baron unwillig.

„Wer Ewald ist? Eigentlich sollte ich wohl sagen: mein Opfer. Einziger Sohn eines hohen österreichischen Beamten, ausersehen, die große Weberei seines kinderlosen Onkels zu übernehmen. Hätte ihn nicht sein böser Stern in Ostsibirien mit mir zusammengeführt.“

„Ach, Sie waren in Kriegsgefangenschaft?“

„Nur einige Monate lang. Das ist dem armen Ewald zum Verhängnis geworden. Von der Schulbank an die Front, zu ungeduldig, die Ausbildung abzuwarten, hat er im Mannschaftslager wie ein Vieh arbeiten müssen – und dabei zuschauen, wie die gefangenen Offiziere nebenan nur Zigaretten rauchen und spazierenrennen. Zwei Jahre so schuften, sich die Hände zerreißen, während andere Schach spielen – das hat ihm die Augen aufgemacht. Dann hat er die russische Revolution erlebt, sah ein Hundertmillionenvolk in Begeisterung aufschäumen, fuhr Tausende von Kilometern durch das taumelnde Land, an siegenden, jubelnden Massen vorbei, wie er endlich ankam, verstanden ihn seine Leute nicht, und er fand nicht auf die Offiziersseite zurück. Heute bin auch ich ein Spießer und Leisetreter in seinen Augen.“

Ohne sich zu unterbrechen, war der Doktor inzwischen ins Vorzimmer getreten und stand schon in Hut und Mantel im Türrahmen.

„Nehmen Sie sich ein Buch oder rauchen Sie eine Zigarette, ich schicke Ewald zur Polizei, dann teilen wir, was noch zu tun bleibt, unter uns beiden auf. Er geht mir am Ende noch durch, wenn ich ihn länger in der Kneipe warten lasse.“

Die Tür fiel krachend ins Schloß und der Baron blieb allein in dem halbdunklen, muffigen Zimmer. Von der Straße drang kein Laut herauf – nur das Perpendikel in dem wurmstichigen Uhrkasten zerhackte dröhnend die Stille, wie der Preisrichter den niedergeschlagenen Boxer auszählt.

VI.

Erstaunt sah der alte Schreiber den Herrn Kommissar so vergnügt durch das Zimmer pendeln, als wäre es ihm eine besondere Freude, am Feiertag um neun Uhr früh amtieren zu müssen. Gnädig nickend nahm Leitwitz es zur Kenntnis, daß die Herren aus Moabit schon unterwegs waren, und ging ans Fenster, ein Liedchen summend, wie sonst nur nach einem über Erwarten erfolgreichen Verhör.

Alles ging nach Wunsch. In Moabit fischten sie aus der bedauerlich „gemischten“ Namensliste der Untersuchungsrichter „ausgerechnet“ den Oberlandesgerichtsrat von Winter, einen Mann aus der guten alten Schule, heraus, und die Staatsanwaltschaft delegierte infolge der vielen Weihnachtsurlaube einen blutjungen Substituten, der vorzüglich aufgehoben war zwischen dem „Papa Winter“ und dem Kriminalkommissar Leitwitz vom Morddezernat des Polizeipräsidiums. Der junge Dachs würde sich hüten, eine eigene Ansicht zu riskieren gegenüber den zwei gefürchteten alten Füchsen – die Untersuchung gegen Bodo war schon so gut wie erledigt, ehe sie begonnen hatte. Merkwürdig war nur, wie lange die Herren zur Fahrt von Moabit herüber brauchten, sie hätten längst da sein müssen, wären sie wirklich vor zwanzig Minuten schon „unterwegs“ gewesen.

„Rufen Sie noch einmal die Bodega an, man soll Herrn Major Kraake ausrichten, ich würde vielleicht etwas später kommen, er möchte unbedingt auf mich warten, in einer sehr wichtigen Sache!“ schnarrte Leitwitz.

Allein geblieben, verschloß er die Beilage zu dem Briefe Abts an Doktor Landau in seinen Schreibtisch. Was in dem Wisch stand, war nur die kurzgefaßte Wiederholung der Beichte Mimi Brenkens. So genau brauchte der alte Herr von Winter nicht informiert zu sein. Es war um so besser, je weniger Menschen von der Liebschaft wußten, und vor allem durfte der Aufenthaltsort Mangiens nicht gleich bekannt werden, sollte nicht der Vorwand für ein scharfes Vorgehen gegen Doktor Landau hinfällig werden. Seit Jahren dürstete Vetter Kraake nach der Gelegenheit, sich an dem verhaßten Judenbengel zu rächen. Erzählte man Papa Winter, wie man den besten Helfer Kraakes im Bandenkrieg gegen die Polacken bei Nacht und Nebel über die Grenze hatte poussieren müssen, wegen der Stänkereien des reichen Koofmichsprößlings, so war der alte Herr gewiß bereit, dem Lumpen einen tüchtigen Denkzettel zu geben. Oberlandesgerichtsrat von Winter war ein aufrechter, vaterländisch gesinnter Mann, sein Herz gehörte den braven Jungen, die ihre Haut dran wagten, mit dem Misthaufen der „glorreichen“ Revolution aufzuräumen. Bekam er den Giftköter zwischen die Finger, der sie aus der Heimat fortgebissen hatte, war er nicht der Leisetreter, dem vor der Macht eines alten Bankjuden bange wurde.

Befriedigt steckte Leitwitz den Brief wieder in die Tasche und rieb sich die Hände. War es nicht, als hätte die Vorsehung dem erschossenen Proleten die Klaue geführt? Hätte er seinen Namen voll ausgeschrieben, man wäre nicht um eine Haussuchung herumgekommen, der Baron wäre sofort entdeckt worden, und es hätte sich nur schwer eine Handhabe konstruieren lassen, den Doktor Landau in das Verfahren einzubeziehen. Die Buchstaben K. A. hingegen lieferten keinen Anhaltspunkt, niemand konnte es dem alten Winter verargen, wenn er sich den Adressaten vorführen ließ. Die einzige Spur führte zu Herrn Doktor Landau, und welche Spur! Da stand zu lesen: „Der Geizkragen aus Hamburg, der Mangien“ – – „wenigstens eine kleine Lektion gegeben“ – – „schützen Sie mich gegen die Polizei, wenn der Herr Baron mich eintunken sollte.“

Damit ließ sich schon was anfangen! Man mußte bloß verhindern, daß Mangien zu früh auf der Bildfläche erscheine. Solange er kein Lebenszeichen von sich gab, war der Untersuchungsrichter verpflichtet, mit aller Energie nach ihm zu forschen. Aus den vier Zeilen ging nicht klar hervor, was ihm angetan worden war! Ein Mordverdacht – nur ein einziger mutmaßlicher Mitwisser – das Opfer: einer der reichsten Männer Deutschlands, dreifacher Grund, gleich energisch durchzugreifen. Nachher sollten sie Krach schlagen, soviel sie wollten. Ein, zwei Tage taten es auch, der alte Winter hatte eine harte Hand!

Als das Auto endlich vorfuhr, fiel es Leitwitz sofort auf, daß die Herren nicht aus der Richtung Moabit kamen. Sie hatten vorher die Leiche besichtigt und waren schon darüber einig, daß der Tote keinesfalls mit dem rechtmäßigen Inhaber der vorgefundenen Papiere identisch sein könne. Sogar der Wächter im Schauhaus hatte gleich auf die verarbeiteten, schrundigen Hände aufmerksam gemacht. Schon schickte Leitwitz sich an, triumphierend den Brief aus der Rocktasche hervorzuziehen, da überraschte ihn der alte Winter mit der Frage, ob der Baron Mangien ein hübscher, schlanker Mann mit ganz kurz gestutztem blonden Schnurrbart, blondem Haar und braunen Augen wäre. Bei der Ankunft vor dem Schauhaus waren den Herren zwei Besucher aufgefallen, die, laut Aussage des Wächters, gleichfalls die Leiche des angeblichen Barons Mangien gesucht hatten. Der eine mußte Mangien gewesen sein. In dem zweiten Mann wollte der staatsanwaltschaftliche Funktionär mit absoluter Sicherheit einen gewissen Doctor medicinae Heinrich Landau erkannt haben, dessen Gesicht zu studieren er drei Tage lang die Gelegenheit gehabt hatte.

Glücklich über das Interesse seiner einflußreichen Zuhörer erzählte der junge Mann den ganzen Prozeß, bei dem gekaufte Weiber den reichen Juden freigeschworen hatten; anschließend wurde während der ganzen Fahrt bis zur Villa Brenken nur von den Schandtaten des Doktors Landau gesprochen. Beim Aussteigen konstatierte Leitwitz mit Vergnügen, daß der alte Winter schon einen roten Kopf hatte und ordentlich die Zähne fletschte gegen den „üblen Burschen“.

Das „Verhör“ mit Bodo währte keine Viertelstunde und hatte ganz den Charakter einer gesellschaftlichen Unterhaltung. – Was sollte man auch „untersuchen“, da es offenkundig war, daß ein Strolch bei Nacht sich eingeschlichen hatte? Besucher, die zu den Fenstern ein- und ausstiegen, mußten darauf gefaßt sein, mit Revolverkugeln bewirtet zu werden! Ein Treffer ins Bein wäre allerdings vorteilhafter gewesen, schon weil man dann gleich erfahren hätte, wo und auf welche Weise der Kerl in den Besitz der fremden Kleider und Papiere gekommen war. Leitwitz versprach beim Abschied, augenblicklich anzurufen, sobald er Sicheres über den Verbleib Mangiens erfahren würde.

Als er von dem unteren Treppenabsatz noch einmal hinaufwinkte, sah er das Ehepaar zärtlich umschlungen am Geländer stehen und rief feixend zurück: „Ich sei, gewährt mir die Bitte, in eurem Bunde der Dritte!“ Um die gekränkte Schnute der schönen Mimi scherte er sich herzlich wenig. Die wußte ja noch nichts von Abts Bericht, der, wohlverwahrt im Schreibtisch, jeden Augenblick ihrem Gedächtnis nachhelfen konnte, falls sie nachträglich versuchen sollte, ihre Beichte zu widerrufen. Mit diesem kleinen Wechsel behielt man sie fest in der Hand, auch wenn nach außenhin alles schon geregelt war.

Es bedeutete einen großen Triumph für Leitwitz, daß Vetter Kraake durch seine Hilfe in die Lage kam, sich an Landau zu rächen. Damit war der Beweis erbracht, daß man der guten Sache besser dienen konnte in Amt und Würden, als zurückgezogen in der Schmollecke. Die Uniform sich vom Leibe zu reißen, war einfach! Hätte jeder mit Entrüstung den Eid auf die Republik verweigert wie der Vetter, die anderen wären unter sich geblieben, und es hätte sich kein Kommissar und kein Untersuchungsrichter bestimmen lassen, Hand an den Sohn des mächtigen Bankdirektors zu legen.

In den Augen Major Kraakes war die neue Uniform nur „Livree“, er nahm sich auch Leitwitz gegenüber nie ein Blatt vor den Mund, berief sich mit Vorliebe auf den Onkel, den verstorbenen Landrat von Leitwitz, wie der wohl gegen die Zumutung aufbegehrt hätte, den Bedienten von gewesenen Bierwirten zu machen.

Jung verwaist, hatte der Neffe alle Schulferien bei dem Bruder seiner Mutter verlebt. – Wo elf Kinder hungrig blieben, so hieß es nur halb im Scherz, gab es auch für ein zwölftes nichts zu essen. Der väterlichen Zucht entwachsen, waren die Kinder des Landrates alle ihren eigenen Weg gegangen, bereit, die überkommenen Prinzipien gegen die Annehmlichkeiten der neuen Zeit einzutauschen. Nur der Schwestersohn erbte die Unbedingtheit des alten Leitwitz, der als aufrechter preußischer Junker nichts von Kompromissen wissen wollte. Mit diesem Neffen hatte sich das Schicksal ein seltsames Spiel geleistet. Es ließ ihn im zwanzigsten Jahrhundert das Leben eines Vorfahren aus dem siebzehnten führen. Der rote Regenwurm, den der Onkel noch mit dem Absatz hatte zertreten wollen, war längst ein gefährlicher feuerspeiender Lindwurm geworden, stark genug, den jungen Offizier bei dem ersten Zusammenprall aus dem Wege zu räumen, wäre nicht eine unsichtbare Hand darum besorgt gewesen, das aussichtslose Duell zu verhüten. Eben erst Oberleutnant geworden, kam Kraake mit zwei selbstgewählten Unteroffizieren eigener Fechsung auf eine Insel im Bismarck-Archipel, mehr als ein Jahrzehnt lang nur den Herrgott über sich, dessen irdische Verkörperung er für die Eingeborenen war. Als die nackte schwarzen Kinder zu preußischen Soldaten heran gedrillt waren, bildete er sich eine Leibwache, und es gab in seiner Ahnenreihe sicher keinen Vorfahren, den seine Leibeigenen mehr fürchteten, als der allmächtige Hauptmann, tausende Seemeilen weit von Heimat und Gegenwart; von den Einwohnern „seiner“ Insel gefürchtet wurde.

Dieser idyllische Zustand fand ein jähes Ende, als der Gummikäufer, der jährlich einmal das Königreich Kraakes besuchte, zufällig Augenzeuge einer feierlichen Auspeitschung wurde. Die Berliner Zeitungen ergingen sich in weitschweifigen Schilderungen der „empörenden Grausamkeit“, und die erschrockenen Tantenseelen im Kolonialamt beorderten den „deutschen Nero“ zur Rechtfertigung nach Europa zurück. Wutschnaubend gegen die Hornochsen, die keine Ahnung hatten von den Notwendigkeiten der Disziplin, bestieg Kraake den letzten Dampfer, der, unmittelbar vor Ausbruch des Krieges mit England, Neapel gerade noch erreichte. Statt vor seine Richter zu treten, rückte er zwei Tage später an der Spitze einer Kompagnie als Sieger in Belgien ein.

War es ein Wunder, daß nach der vierjährigen Fortsetzung seiner unbedingten Herrschaft im besetzten Lande der Herr Major nicht auf einmal den beschränkten, bürgerlichen Rechtsbegriffen sich unterordnen konnte? Wie ein Magnet zog er aus der Sintflut der heimströmenden Krieger die Landsknechtsnaturen an sich, die ebenfalls nicht in den früheren ereignislosen Werktag zurückfanden. Als er mit seinen Jungens den Bandenkrieg an der polnischen Grenze nicht länger fortführen konnte, gelang es ihm, eine Weile noch in der eigenen Heimat, gegen die Arbeiter in den deutschen Industriegebieten, seine Herrschernatur auszuleben. – Schließlich aber mußte der solange Allgewaltige sich damit begnügen, mit einigen Unentwegten theoretische Wirtshausverschwörungen zu schmieden, nur von dem guten alten Portwein einer Bodega in der Nähe der Gedächtniskirche getröstet. Dort fand man ihn zu jeder Tages- und Nachtzeit, glücklich über jeden Zuhörer, der geduldig seinem heiser krächzenden Geflüster lauschte.

Mit entflammten Wangen und geballten Fäusten klagte er nun dem Oberlandesgerichtsrat von Winter den Undank des Vaterlandes.

Die tausendmal gehörte Litanei interessierte Leitwitz nicht, er putzte kühl lächelnd sein Monokel und registrierte befriedigt die zornigen Grunzlaute des alten Winter, dessen Glatze und Stirne immer röter wurden. Ließ man die beiden allein, so putschten sie sich gegenseitig auf. Der Portwein tat das seine dazu. Vetter Kraake war nicht der Mann, den alten Herrn entschlüpfen zu lassen, ehe er seine Rache sicher hatte. Wieweit der Untersuchungsrichter dann ging, war seine Sache. Als Beamter wußte man besser nicht zuviel. – Sache der Kriminalpolizei war es, den Baron Mangien aufzufinden, das entschuldigte genügend Leitwitz’ vorzeitigen Aufbruch.

Auch den Baron und den Doktor machte der Wächter sofort auf die „Klauen“ des Toten aufmerksam. „Det soll ’n Baron gewesen sint? ’n schwerer Junge, det, ja.“

Ohne die Redseligkeit des alten Mannes zu beachten, standen Landau und Mangien eine Zeitlang stumm vor der großen Glasscheibe, beide an der Gurgel gepackt von der reglosen Eckigkeit des ausgestreckten Körpers, der mit dem blutdurchtränkten Tuch an Stelle des Gesichtes an die geköpften Leichen der französischen Revolution erinnerte. Es war ein schauerlicher Anblick, die eigenen, wohlbekannten Kleidungsstücke an den toten starren Gliedern zu sehen – der Baron fühlte eine Übelkeit in sich aufsteigen, er begann leicht zu wanken und wurde von dem Doktor untergefaßt und aus dem Hause gezogen.

Auch auf der Straße sprachen sie lange kein Wort. Im stillen war Mangien erbittert über die Rücksichtslosigkeit, mit der man ihn gezwungen hatte, ganz unnütz mitzugehen, als genügte es nicht, wenn der Doktor, als Arzt und vom Krieg her abgehärtet, allein die Leiche besichtigte. Es war richtig, daß man so genau wie irgend möglich über jede kleinste Einzelheit informiert sein mußte, um gegen alle doppelbodigen Fragen und raffinerten Fußangeln Leitwitz’ gewappnet zu sein. Aber die ganze Geschichte hatte ja der Doktor ausgedacht und einstudiert. Hätte er sich nicht damit begnügen können, selbst das Resultat aus dem Besuch in der Morgue zu ziehen?

Der Doktor bemerkte den Unwillen des Barons nicht, ging in sich gekehrt neben ihm her, immer das Bild der verstümmelten Leiche vor sich.

Ganz plötzlich blieb er stehen, haschte nach dem Arm des Barons und sah ihm mit verstörten, feuchtschwimmenden Augen forschend ins Gesicht.

„Haben Sie es nicht bemerkt“ – begann er ganz leise, aber dann von Satz zu Satz mehr mitgerissen, bis er zuletzt, beide Arme mit geballten Fäusten vor sich gestreckt, mit heiserer Stimme beinahe schrie: „Welcher Bildhauer hätte genialer die Aufgabe lösen können, ein symbolisches Monument der Arbeit zu schaffen? – Aus dem grauen Stein herausgehauen die großen, grauen Hände, gekrallt – als langten sie aus alter Gewohnheit immer noch nach einem Werkzeug. – Der ‚Unbekannte Arbeiter‘. Ohne Gesicht! – – Wer fragt denn nach dem Gesicht, wer kümmert sich um den Menschen, wenn er starke Hände braucht für die Arbeit? Wie die Ware im Schaufenster, so liegen die zwei großen, groben Hände hinter der Glasscheibe.“

Landau hatte eine unheimliche Art, seine Vergleiche mit Gebärden zu begleiten, als formten seine Hände das Bild und stellten es leibhaftig vor den Hörer hin. Dieses Neuaufleben der Erinnerung machte Mangien wieder schwindelig. Leicht schwankend, mit bleichen Lippen, zog er den Doktor in das nächste Kaffeehaus und bestellte Kognak.

Er stürzte zwei Gläser hinunter, zündete dann eine Zigarette an und versuchte schüchtern, ein weniger deprimierendes Gespräch in Gang zu bringen. Der Doktor mußte die Zeche für ihn begleichen, denn ihr gemeinsames Gesamtvermögen waren zehn Mark, die beim Weggehen die Hausbesorgerin dem reichen Mieter geliehen hatte, mit einer Selbstverständlichkeit, die tiefen Einblick in die Gewohnheiten Landaus gewährte.

„Sie sind noch immer der Kassier, Herr Doktor! Wenn wir bei Leitwitz fertig sind, müssen Sie mit mir ins Hotel, damit ich wenigstens meine Geldschulden begleichen kann. Sie müssen noch bis übermorgen auskommen!“

Geistesabwesend holte der Doktor das Geld aus der Tasche und schob es auf der Tischplatte dem Baron hinüber, ohne sich auch nur für eine Sekunde von seinen Gedanken ablenken zu lassen. „Sie sind viel jünger als ich?“ – fragte er ganz unvermittelt.

„Nein – ich glaube, gewiß nicht! Warum fragen Sie?“ Es währte lange, ehe der Doktor, wieder ganz leise, mit der Antwort herausrückte. Sein Zeigefinger folgte der Maserung des Marmors auf der Tischplatte.

„Mitte der Dreißig fängt man schon an zurückzublicken und sieht die entscheidenden Biegungen und Wegkreuzungen, wie der Bergsteiger vom Gipfel nachträglich erkennt, wo er hätte abkürzen, einen anderen Pfad nehmen, eine schwer erkletterte Wand besser umgehen sollen. – Wären Sie zum Beispiel nicht nach Rußland gegangen, so hätten Sie Ihre Frau nicht kennengelernt. Statt Ihrer Kinder wären beiderseits andere Menschen mit ganz anderen Eigenschaften und Schicksalen geboren worden. Derlei läßt sich nicht zu Ende denken. Mein Lebenssteuer ist so herumgeworfen worden, als ich erst siebzehn Jahre alt war, auf einer Reise nach Schweden, von zwei Händen, deren Träger ich nie gekannt habe. Bis auf den heutigen Tag weiß ich nicht, wie der Mann ausgesehen hat. Hätte mein Vater die Folgen ahnen können, er hätte sich gehütet, mich mitzunehmen! Wir fuhren nach Schweden, weil eine Zweigunternehmung der Bodenbank die erste ganz große Kraftanlage Europas dort bauen ließ, und ich den Sommer über bei dem leitenden Ingenieur bleiben sollte, der zwei Söhne in meinem Alter hatte. Die Sensation, im Schlafwagen eine Seereise zu machen, beschäftigte sehr meine siebzehnjährige Phantasie. Ich wollte sehen, wie man uns in Saßnitz auf die Fähre schob. Leider ging gerade ein Wolkenbruch nieder. Alles, was ich erspähen konnte, waren die Hände des Eisenbahners, der, einen leeren Sack über den Kopf gezogen, im blutroten Lichtkreis seines Lämpchens mit den triefenden Eisenteilen hantierte, um unseren Waggon loszukoppeln. Als ich in unser warmes Abteil zurückkehrte, schlief mein Vater fest, und ich mußte die ganze Nacht an die zahllosen Hände denken, die Weichen stellen, Semaphore bedienen, Schranken herablassen, „Waggons an- und abkoppeln mußten, damit wir, ohne aus dem Bett zu steigen, im Schlaf von Berlin nach Kopenhagen gelangen konnten.

Die Phantasie von Schuljungen arbeitet rasch und gründlich. Am Morgen schielte ich schon beschämt auf die ergrauten Schläfen und den Ehering des Schlafwagenschaffners, dessen fliegende Existenz mir beim Einsteigen noch äußerst beneidenswert erschienen war. Die Klagen meiner gewesenen Amme, die einen Eisenbahner geheiratet hatte, wollten mir nicht aus dem Kopf. Die Arme wagte von Zeit zu Zeit immer wieder einen Bettelbesuch, mit mageren, bleichsüchtigen, kläglich herausgeputzten, schüchternen Kindern hinter sich und jedesmal klagte sie über die unerschwinglichen Preise und den geringen Verdienst ihres Mannes. Ich hätte den Schlafwagenschaffner, den ich mit baumelndem Kopf auf dem Klappsitz im Korridor hatte schaukeln gesehen, gerne gefragt, ob auch er zu wenig verdiene. – Zum erstenmal wurde es mir klar, in welchem marzipanummauerten Schlaraffenland ich lebte, während ringsum Millionen Menschen Tag und Nacht, wie Bühnenarbeiter die Kulissen, diese wunderbare Welt für mich aufbauen mußten!“

Er sagte im Grunde immer wieder dasselbe, der gute Doktor, er sagte es geschickt, auf eine sehr eindringliche, beinahe überzeugende Weise – ohne aber daran zu denken, daß die „Übelstände“, die er als solche brandmarkte, weder mit den schönsten Vergleichen noch mit Taten behoben werden konnten, weil man beim lieben Gott selbst hätte Beschwerde einlegen müssen gegen das Unrecht, daß die Schafe dem Wolf, die Fliegen den Vögeln, in der ganzen Natur der Schwächere dem Stärkeren zur Nahrung dienen muß – –

Wer wußte es nicht, daß es kein Vergnügen war, arm zu sein? Darum rauften die Menschen so wild. Wer nichts Besseres konnte, mußte als Kanalreiniger unten im Gestank kriechen. War ihm damit geholfen, daß der Doktor immerfort die Platte aufhob und alle zwingen wollte, die üblen Gase miteinzuatmen? Wozu auch den anderen die Luft verpesten? Nutzlos sich das Leben vergällen?

Den Blick am Doktor vorbei, auf die Backsteinmauer des Polizeipräsidiums geheftet, schien Mangien ernstlich besorgt, zu spät zu kommen: „Glauben Sie nicht, daß wir hinüber sollten? Vielleicht gelingt es noch, zu verhindern, daß meine Frau von der Polizei benachrichtigt wird. Um diese Zeit müßte Herr von Leitwitz doch schon im Amt sein, wenn er überhaupt hereinkommt.“

Der Doktor folgte geduldig. Er nahm den Baron am Arm und erklärte ernst: „Sie dürfen mich nicht mißverstehen, Baron! Ich will nicht, daß jeder selbst seinen Waggon abkoppeln soll, ich fordere auch keine Paläste oder sonst welche Reichtümer für Leute, deren Arbeit im Notfall auch ein gut dressierter Pudel verrichten könnte! Glauben Sie nicht, daß Sie es mit einem Schwärmer zu tun haben oder mit einem verblendeten Gewaltmenschen wie mein Freund Ewald. Ich war damals in Schweden Zeuge von zwei tödlichen Unglücksfällen, mehreren Arm- und Beinbrüchen, Quetschungen und so weiter, habe die Menschen steile Wände hinaufklettern, in tiefe Schluchten steigen, ungeheure Steinquadern und hundertjährige Stämme schleppen, wälzen, verarbeiten gesehen, und war jeden Samstag dabei, wenn die Löhne ausbezahlt wurden. Wenn wir zu Pferd nach Hause kamen, mußten wir Jungen unsere Gäule in den Stall führen, abklopfen, dafür sorgen, daß sie gut abgerieben und gefüttert wurden, – die mehreren hundert Arbeiter jedoch hausten in fensterlosen, durchaus nicht wetterfesten Bretterbaracken, schliefen auf schmutzigen, zerfetzten Decken, aßen meist nur Speck und Brot, weil sie ja den größten Teil ihres Wochenlohnes, der nicht einmal das doppelte Taschengeld betrug, das ich mit siebzehn Jahren für mein Nichtstun ausbezahlt bekam, ihren Familien nach Hause schicken mußten. –

Heute treibt das Werk, das diese Leute damals bauten, Fabriken und Eisenbahnen, beleuchtet mehrere Städte. Ich habe mich später eigens unauffällig bei meinem Vater nach dem Kraftwerk erkundigt, er war aber nicht mehr an dem Unternehmen beteiligt, weil er die Aktien zu mehr als dem Zweifachen des Nennwertes verkauft hatte, so reich flossen die Einnahmen. – Finden Sie es da eine Utopie, daß man die Dividende um eins oder zwei vom Hundert niederer hätte halten können, um auch den Arbeitern einen guten Stall, reine Streu und reichliche Nahrung zu sichern? Mehr wünschte ich in meinen kühnsten Träumen nie!“

Das klang nicht unvernünftig und nicht unsympathisch, und der Baron hätte gerne seine Zustimmung geäußert, wäre es überhaupt noch möglich gewesen, in dem Höllenlärm des Verkehrs am Alexanderplatz sich verständlich zu machen. Aber der Doktor fühlte genau die Wirkung seiner Worte. Als sie vom alten Schreiber erfuhren, daß Leitwitz augenblicklich abwesend sei, aber bald zurückkehren werde, führte er Mangien absichtlich in eine stillere Nebengasse und nahm das Gespräch rasch wieder auf, angefeuert von der Vorstellung, mit welch ungeheurer, viertausendfacher Übersetzung sein Einfluß auf den Leiter der Mangien-Werke sich auswirken könnte, gelänge es ihm nur, den guten Willen des Barons zu wecken.

Er blieb stehen und verstellte den Weg, so daß auch Mangien stehenbleiben mußte, umkrallte sich mit beiden Händen die Schläfen und rief verzweifelt: „Es gibt da Geheimnisse, die einfach unerklärlich sind! – Ich bin damals als siebzehnjähriger Junge auf der Heimreise mit einem alten Schweden zusammen im Schlafwagenabteil gelegen. Er fuhr nach Berlin – viele hunderte Kilometer, um einen Spezialarzt zu konsultieren: sein Leben war ihm zu kostbar, als daß er es einem weniger berühmten schwedischen Professor oder gar einem gewöhnlichen billigen Landarzt anvertraut hätte. Und er schlief ruhig die Nacht durch, während ich, die Stirn an die Scheibe gepreßt, die Stationen, Wächterhäuser und Bahnschranken zählte, die mit rasender Geschwindigkeit vorbeiflitzten. – So oft der Wagen schaukelnd über Weichen klapperte, dachte ich an die Männer, die sie bewachen und stellen mußten, für eine Bezahlung, die nicht einmal für gute Schuhe und ausreichende Ernährung der Familie langte. –

Wie ist es möglich, erklären Sie mir das, bitte, daß derselbe Mann, dem nur der beste Arzt gut genug ist, sein Leben sorglos den vielen hundert unterernährten, durchnäßten, schläfrigen und vor allem unzufriedenen Menschen in die Hand legt? – Ist er selbst etwa so neidlos gütig, daß ihm gar nicht der Gedanke kommt, ein Mensch könnte gehässig werden, wenn er, ewig nur von kleinen Tagessorgen gezwackt, in eine schmierige Bude mit winzigem Gemüsegarten verbannt, zwischen zwei fernen Dörfern ins graue Nichts hineingehängt, täglich die blanken Züge mit gedeckten Tischen und weißen Betten an sich vorbeirollen lassen muß? –

Gerade das Gegenteil ist doch der Fall! Es sind die Reichsten, die Unersättlichen, die außer Rand und Band geraten, entrüstet nach Strafe schreien und am liebsten gleich schießen ließen, so oft der unbescheidene Anspruch laut wird, auch die Menschen, die ewig an allem zu knapp sind, möchten gerne – nicht etwa im Überfluß leben, bewahre, nur um etliche Pfennige stündlich mehr verdienen, ganze Schuhe, ein menschenwürdiges Obdach, gesunde, ausreichende Nahrung für ihre Kinder erringen!“

Diesmal hätte der Baron aufrichtig zustimmen können. Diese Frage hatte ihn am Vorabend wiederholt beschäftigt. Es interessierte ihn, ob der Doktor genauere, praktisch realisierbare Vorschläge machen könnte. – Warum sollten es nicht auch die Arbeiter besser haben?

Aber gerade in diesem Augenblick waren sie wieder an der Ecke des Alexanderplatzes angelangt, und Mangien sah eben die unsympathisch stämmige Gestalt des kleinen Leitwitz von dem schon abfahrenden Taxi quer über den Gehsteig zum Hauptportal des Polizeipräsidiums eilen.

„Jetzt ist er da!“ – rief er und zerrte den Doktor gleich mit sich – „vergessen Sie nur nicht, das besprochene Zeichen, wenn Gefahr droht! Leitwitz ist verdammt schlau!“

Dem Doktor blieb keine Zeit zur Antwort, als sie am Posten vorbei in die Toreinfahrt einschwenkten, sprang ihnen ganz unerwartet Gustl Ewald entgegen und zerrte seinen Freund gleich beiseite, ohne den Baron auch nur eines Kopfnickens zu würdigen.

„Nett!“ – dachte Mangien. fühlte aber doch, daß ihm das Blut in die Wangen stieg. Mit abgewandtem Gesicht eilte er weiter und sah sich erst um, als er, schon halbwegs zum ersten Stock, immer noch die laute Stimme des verrückten Burschen hinter sich hörte. Was wollte der eigentlich vom Doktor? – Er hielt ihn fest, zog ihm beinahe den Mantel vom Leibe, sprach auf ihn ein, wahrscheinlich um ihn von der verräterischen Absicht abzubringen, für den reichen Mangien zu zeugen. Aber der Doktor schüttelte ihn ab. Der Baron sah von oben, wie er sich zweimal mit Gewalt befreite und endlich nachsichtig abwinkend die Treppe herauflief. Ein letztesmal sprachen sie noch rasch die wichtigsten Stichworte durch – dann klopfte der Doktor energisch an der Tür.

Anfangs ging alles ganz ausgezeichnet. Sonja war weder von der Polizei noch von Brenkens angerufen worden. Leitwitz zeigte sich von seiner besten Seite, spaßte mit dem „von den Toten wiedererstandenen“ Mangien und behandelte Landau mit der ausgesuchtesten Höflichkeit. Den Schreibtisch zwischen sich und seinen Gästen, saß er zurückgelehnt im großen Armstuhl und putzte fleißig sein Monokel. Es war ihm sehr recht, daß zuerst der Doktor über das Auffinden des Barons referierte, fand es nur natürlich und lobenswert, daß der Arzt den Erschöpften zu sich heimgefahren und zuerst gelabt hatte. Doch als der Bericht schon beinahe beendet war, warf er plötzlich den Kopf hoch, blickte die bei den scharf an und seine Frage schoß wie ein Raubvogel nieder: „Um wie viel Uhr bist du also vorgestern abend zu dem Mann hinausgekommen? Er hat dir ja nachher deine Uhr abgenommen, aber vielleicht erinnerst du dich, um welche Zeit der Überfall und deine Fesselung beiläufig stattgefunden haben.“

„Es dürfte ein Viertel nach acht oder halb neun gewesen sein“, erwiderte Mangien ohne Überlegung – im Sinne des Übereinkommens, das er mit dem Doktor getroffen hatte. Alle Aussagen waren genau vereinbart worden, um ja nicht durch widersprechende Angaben Verdacht zu wecken, falls sie beide einzeln verhört werden sollten.

Leitwitz klemmte sich das Einglas ins Auge, ließ den Blick von dem einen zum anderen wandern und feixte bedeutungsvoll, ohne gleich zu widersprechen. Mit bedächtiger Langsamkeit kramte er aus dem vor ihm liegenden Aktenstoß ein Schriftstück hervor, durchflog es, als müßte er sich den Inhalt erst vergegenwärtigen, nickte mit dem Kopf und weidete sich noch eine Weile an der unruhigen Erwartung der beiden, ehe er endlich die Bombe platzen ließ: „Hja! – Bisher war alles ausgezeichnet, wirklich ganz ausgezeichnet. Wenn wir uns miteinander besprochen hätten, wäre es auch nicht möglich gewesen, die Aussage besser den Voraussetzungen der amtlichen Version anzupassen! Aber – den Zeitpunkt der Fesselung muß ich bitten, auf viel später zu verlegen. Wir haben da nämlich ein Protokoll mit dem Chauffeur, der am Heiligen Abend, ein Viertel nach neun, einen verdächtig abgerissenen Mann an die Ecke der Bendlerstraße fuhr. Die Personenbeschreibung paßt durchaus nicht auf dich, mein lieber Friedl, du konntest auch, da du ja geknebelt lagst, nicht wahr, unmöglich mehrere Kilometer weit von deinem Aufenthaltsort in der Bendlerstraße sein. Der Chauffeur aber kann sich in der Zeit nicht geirrt haben, er hat sich ohne jede Aufforderung freiwillig zur Aussage gemeldet, als ihn das Gerücht erreichte, es sei da draußen, vierundzwanzig Stunden später, etwas vorgefallen.“

Leitwitz wartete wieder, betrachtete grinsend die verdutzten Gesichter und erhob sich langsam von seinem Sitz: „Ich meine also, wir verlegen Besuch und Überfall besser auf den nächsten Morgen, meinen die Herren nicht auch? Der Tote hätte tags vorher um die Villa herumschleichen können, in der Hoffnung, dir zu begegnen. Ich glaube, diese Version wäre geeigneter. Ich nehme auch an, daß der Brief, dem du auf den Leim gegangen bist, sich nicht mehr in deinem Besitze befindet. Wahrscheinlich hast du ihn der Adresse wegen bei dir gehabt, und er ist dir mit allen deinen anderen Sachen abgenommen und von dem Schreiber zur Sicherheit vernichtet worden. – Bleiben wir also bei diesen Hypothesen?“

Der Baron warf flehentlich fragende Blicke zu dem Doktor hinüber, der aber selbst, verwirrt und mißtrauisch, Leitwitz auf sich zuschreiten sah. „Einen anderen Brief, an den Herrn Doktor adressiert, aber nur mit den Buchstaben K. A. gezeichnet, trug der Tote noch bei sich. Da Sie uns, Herr Doktor, den vollen Namen bekanntgegeben haben, können wir feststellen, daß die Initialen stimmen: K. A. – Karl Abt. Der Text ist leider so konfus, daß ich ihn vorläufig noch nicht recht zu deuten vermag.“

Doktor Landau trat langsam einige Schritte vor: „Könnte ich vielleicht den Brief lesen?“

„Aber selbstverständlich! – Das heißt, vorausgesetzt, daß die Akten noch bei meinem Sekretär liegen und nicht schon nach Moabit geschafft wurden. In diesem Fall müßten sich Herr Doktor zum Untersuchungsrichter bemühen, für das Morddezernat des Polizeipräsidiums ist die Sache schon erledigt. Der Schuß fiel in berechtigter Abwehr eines Angriffes, – punktum. Vielleicht bemühen sich Herr Doktor hier zu meinem Sekretär hinein, Sie könnten ihm dann auch gleich Ihre Zeugenaussage zu Protokoll diktieren. Wenn die Akten noch da sind, bleibt Ihnen wenigstens der Weg nach Moabit vorläufig erspart. Ich sage vorläufig – denn auf den weiteren Gang der Untersuchung haben wir leider keinen Einfluß mehr.“

Schien es Mangien nur so, oder war wirklich ein beunruhigter, hilfesuchender Blick des Doktors von der Türschwelle zu ihm herübergeflogen? – – Er hatte jedenfalls ohne Zaudern mitgehen wollen, wurde aber von Leitwitz untergefaßt und zurückgehalten.

„Meinen Glückwunsch! Das nenne ich einen Dusel haben! Ohne die unfreiwillige Rettungsaktion dieses erschossenen Tölpels hätte euch Bodo in zärtlichem tête-à-tête erwischt! Und nun gelingt es dir, auch noch diesen verschrobenen Judenbengel, der sonst gar nicht darauf aus ist, Ausbeutern deines Schlages Unannehmlichkeiten fernzuhalten, zum Entlastungszeugen zu gewinnen! – Bist ein Mordskerl! Der gute Bodo sorgt sich schwer um dein Wohlbefinden. Am besten rufst du ihn gleich da von meinem Schreibtisch aus an und wälzt ihm den Stein vom Herzen. Ich hoffe, du läßt ihm für die Zukunft seine Mimi – der arme Kerl hat ja wirklich nur das einzige Lämmchen und du – man weiß genau Bescheid, mein Lieber, über deine Schandtaten! Würde dir allerdings raten, dich künftig besser in acht zu nehmen. Jedesmal wird sich auch für dich kein Stellvertreter finden. Es hat auch nicht jede Frau die Geistesgegenwart der schönen Mimi, von meinen bescheidenen Diensten ganz zu schweigen. Darfst nicht glauben, daß ich allmächtig bin und immer den Arm über dich halten kann!“

Es gefiel dem Baron nicht, daß Leitwitz so andauernd auf ihn einsprach. Ohne einen bestimmten Verdacht zu hegen, fand er die lärmende Vertraulichkeit irgendwie ungemütlich. Es war, als sollte er abgelenkt, eine Zeitlang beschäftigt werden. – Wenn die Aussage des Doktors zu Protokoll genommen wurde, mußte auch er zu dem Sekretär hinüber, um gleichfalls –

Er hätte sich mit Gewalt befreit und es Leitwitz ungeniert merken lassen, daß die plumpe Anbiederung nicht am Ort und eine taktlose Belästigung war. – Aber da wurde draußen am Korridor ein fernes Stimmengewirr vernehmbar, das allmählich näher kam, man hörte das Wutgebrüll eines Menschen, tierische Töne, die das Blut erstarren machten. – Eine Keilerei mußte im Gange sein, unmittelbar vor der Türe, die auf einmal krachend aufflog und einen wirren Knäuel von Armen, Beinen und keuchenden Gesichtern ins Zimmer warf.

Der Baron wußte noch gar nicht, was da vorging, als überraschend aus der Mitte des Ballens jemand auf ihn losfuhr und mit zwei Händen seine Kehle umkrallte, so daß er infolge des unerwarteten Anpralls zu Boden fiel.

Erst als ihn die Schutzleute befreit hatten und er wieder auf den Füßen stand, erkannte er in dem Tollwütigen den jungen Freund des Doktors. Die Kleider in Fetzen, den Kragen abgerissen, das Gesicht halb von den Haaren verdeckt, stand er überwältigt gegen die Wand gepreßt, ein Schluchzen in der Kehle, das ihm kein Wort über die Lippen ließ.

Aber der Baron hatte schon verstanden. Blitzschnell schoß ihm die Erinnerung an den Auftritt unter der Toreinfahrt durch den Kopf. Das war es also? – Zitternd am ganzen Körper, mit weißen, bebenden Lippen trat er ganz nahe an Leitwitz heran.

„Wo ist Doktor Landau? Ich will ihn sprechen! Sofort!“

Leitwitz tat, als hätte er die Aufforderung überhört. „Du mußt dich ein wenig abputzen lassen, bist ganz staubig rückwärts“ – bemerkte er kühl und steckte sich eine Zigarette an.

„Den Doktor! Hörst du? Augenblicklich rufe den Doktor her!“ – krähte der Baron heiser vor Wut.

Da verwandelte sich mit einem Schlage das eben noch verbindliche Gesicht, und der nicht ohne Grund gefürchtete Kriminalkommissar des Morddezernats richtete sich kalt und drohend vor Mangien auf: „Du scheinst zu vergessen, wo du bist. Kommandiere deinen Arbeitern und Beamten in Hamburg! Hier kommandiere ich. Doktor Landau ist auf Veranlassung des Untersuchungsrichters nach Moabit gebracht worden. – Es steht dir frei, dort nach ihm zu fragen. Ich kann dir allerdings nicht viel Hoffnung machen, heute ist der zweite Feiertag und morgen ist Sonntag. Bis Montag wird sich der Herr Doktor und wirst auch du dich schon gedulden müssen.“

Mangien wurde es rot vor den Augen. – Bis Montag, zwei Tage und zwei Nächte? Nein, das durfte – durfte nicht – „Ich fordere dich zum letztenmal auf“ – begann er mit geballten Fäusten, sofort überschrien von der grellen, schnarrenden Stimme Leitwitz’:

„Der Sturz vorhin scheint dir schlecht bekommen zu sein. – Ich nehme Rücksicht auf die aufregenden Erlebnisse, die hinter dir liegen, sonst würde ich andere Saiten aufziehen. Die Untersuchung führt Herr Oberlandesgerichtsrat von Winter. – Wenn du bei ihm dein Glück versuchen willst – bitte! Ich warne dich aber eindringlich, sei es hier, sei es in Moabit, noch einmal den Ton von vorhin anzuschlagen! Es könnte dir schlecht bekommen.“

Den Mund halb geöffnet, beinahe bewußtlos vor Zorn, starrte der Baron in das frech herausfordernde Gesicht, das ihm Leitwitz höhnisch entgegenhielt. Der Friedl Mangien, dessen Name alle Türen öffnete, der ein reifer Mann geworden war, ohne jemals Widerständen zu begegnen, sah sich auf einmal mit Herablassung behandelt, von der Maschinerie, die er mit bezahlte, von einem Manne, den er nur mit rundem Rücken gekannt hatte, brutal zurückgestoßen!

„Du sollst von mir hören!“ – drohte er zischend zurück und wandte sich dann an Ewald, der noch immer an die Wand gepreßt stand. „Kommen Sie mit, wir werden den Doktor sofort frei kriegen, dafür bürge ich Ihnen.“

„Dann also viel Glück zu deinem Unternehmen!“ – höhnte ihm Leitwitz nach und gab den Schutzleuten, die ihn fragend ansahen, den Wink, Ewald loszulassen. Der Kerl hätte wohl eine tüchtige Lektion verdient, aber es war doch verlockender, die Demütigung des toll gewordenen Geldsackes durch die Gegenwart eines Zeugen zu verschärfen. Der Herr Baron sollte den Mann nur mitschleppen! Der alte Winter war der rechte, sich ins Bockshorn jagen zu lassen von den Drohungen eines reichen Fabrikanten. Da konnte der verwöhnte, eingebildete Lümmel was erleben!

„Laß mich telephonisch wissen, ob du was ausgerichtet hastl“ – hörte Mangien noch hinter sich her rufen, als er mit dem taumelnden Ewald an der Hand zur Türe hinauseilte.

Drittes Buch:
Der Kopf

I.

Gewöhnt, auch mit den höchsten Vertretern der Staatsgewalt wie von Macht zu Macht zu verhandeln, schien es dem Baron wie ein böser Traum, daß man ihn, den Freiherrn von Mangien von Kanzlisten, Türstehern und ähnlichem Gewürm wie einen lästigen Bittsteller hatte abfertigen lassen.

Nicht mehr als Schneidergeselle verkleidet, nein, im vollen Ornat seines Reichtums sozusagen, war der Besitzer der Mangien-Werke im Vorzimmer schon vor grinsenden Untergebenen belehrt und zurechtgewiesen worden. – Der Untersuchungsrichter in Moabit hatte sich sogar erfrecht, ihn zwei Stunden lang vor der Türe warten zu lassen, während er drinnen den Doktor verhörte! Wäre Ewald nicht an seiner Seite gewesen, der Baron hätte sich mit den Fäusten auf den Schreiber gestürzt, der nachträglich unverfroren mit der Meldung herausrückte, der Herr Oberlandesgerichtsrat sei „mittlerweile“ aus dem Hause und werde erst morgen vormittag wiederkehren.

Daß der zehn Jahre jüngere Begleiter Zeuge aller seiner Niederlagen war, machte Mangien das Kapitulieren unmöglich. Er hatte geschworen, Doktor Landau dürfe die Nacht nicht im Gefängnis verbringen – wie sollte er sich damit abfinden, seine Ohnmacht vor Ewald zu bekennen? Fast hätte er sich wie ein trotziges Kind der Länge nach hingeworfen und seine Wut ausgetobt, als er endlich auf die Fortsetzung der aussichtslosen Autofahrten kreuz und quer durch Berlin verzichten mußte. Vor jedem Tor hatte sich derselbe Auftritt abgespielt, immer wieder verabschiedete sich Ewald mit skeptischem Kopfschütteln von dem zuversichtlich treppaufstürmenden Baron, um ihn, nach kürzerem oder längerem Warten, abgebrüht, mit Schweißperlen auf der Stirne, wiederkehren zu sehen. Es hatte keinen Sinn, trotz der späten Stunde die Versuche zu wiederholen; man hetzte sich nur ab und bekam doch überall die stereotype Ausrede zu hören: niemand sei berechtigt, in ein schwebendes Gerichtsverfahren einzugreifen!

Als hätten sie die Rollen getauscht, mußte der wilde Umstürzler Ewald sich nun bemühen, den reichen Fabrikanten zu beschwichtigen. Zu groß war das Unrecht, zu demütigend der Verzicht – es litt den Baron nicht in seinem Bett, die halbe Nacht raste er wie ein gefangener Löwe durch das Zimmer, beschmutzt, erniedrigt von dem Bewußtsein, nichts tun zu können für den Doktor, der ihm geholfen hatte, nur seinetwegen zu Leitwitz mitgegangen war und nun in der Zelle saß.

Dabei durfte es nicht bleiben! Es mußte – mußte den Kerlen bewiesen werden, daß der Baron Mangien nicht ihr Hampelmann war, nur berechtigt, nach unten den Herrn zu spielen, solange er schön artig an der Strippe hing! – Sie sollten ihre Beamten schurigeln! Wer jährlich Hunderttausende zur Steuerkasse trug, war eher ihr Brotherr als ihr Untergebener!

Zu allem entschlossen, saß Sonntag früh ein Desperado in der noch unbelebten Hotelhalle und wartete auf Ewald. Jede Waffe war gut, jeder Ratschlag willkommen, wichtig allein das Ziel, den Friedl Mangien zu rehabilitieren, damit er als „Herr“, wie er gekommen war, heimfahren konnte und nicht einen anderen, den Doktor, dem er zu Dank verpflichtet war, für sich büßen lassen mußte.

Für Ewald war es eine fast unheimliche Überraschung, wie geduldig der eigenwillige, ans Kommandieren gewöhnte Mann sich führen ließ. Ohne Widerstreben fuhr er überallhin mit, drückte jede entgegengestreckte Hand und machte die Bekanntschaft von Menschen, deren Namen er vor vierundzwanzig Stunden nicht ohne Entrüstung nennen gehört hätte. Er schwieg, wie arg auch gegen Staat, Polizei und kapitalistische Klassenjustiz gewettert wurde, protestierte nicht einmal, wenn man ihm zu verstehen gab, auch seine Geldspenden hätten reichlich dazu beigetragen, das Wüten der Kraakeschen Bande zu ermöglichen.

Sein Geheimnis behielt er für sich. Niemand durfte ihn begleiten, auch Ewald sollte glauben, er gehe nur mit den Drohungen zu Leitwitz, die man ihm in langwierigen Beratungen eingetrichtert hatte.

Der Herr Kriminalkommissar hatte ein zu feines Gehör, um nicht gleich zu bemerken, daß es dem Besucher nicht nur ums Bangemachen ging. So unerklärlich es schien, der bequeme, verwöhnte Grandseigneur, dem jedes „Neinsagen“, jede unerfreuliche Unterredung ein Sekretär oder Unterdirektor abnehmen mußte, hatte sich behexen lassen von dem Judenbengel, war allen Ernstes bereit, sich selbst den Skandal aufzuhalsen.

„Unser Freund Bodo ist ein peinlich sicherer Schütze, das dürfte dir bekannt sein, er war ja oft genug bei dir zur Jagd. Hast du es gar so eilig, deinem Stellvertreter draußen im Schauhaus Gesellschaft zu leisten? Anwandlungen von Lebensüberdruß habe ich sonst nicht an dir beobachtet. Oder hoffst du, den armen Bodo auch noch über den Haufen zu schießen? – Es wäre vielleicht kein übler Freundschaftsdienst. Was sollte er mit seinem Leben anfangen, wenn du ihm seine Ehe zerstörst?“

Er machte sich unter seinen Papieren zu schaffen und blickte wie zufällig auf, als wäre ihm der Gedanke eben erst durch den Kopf geblitzt: „Wie wird das übrigens mit dir? Soweit es mir vergönnt war, deine Frau näher kennenzulernen, habe ich sie nie für ein gottergebenes, deutsches Hausmütterchen gehalten, das sich dankbaren Herzens an Männe schmiegt, wenn er nach einem Mordsskandal an den häuslichen Herd zurückzukehren geruht. Ich fürchte, du wirst das dickere Ende erwischen! Was droht uns? Oberlandesgerichtsrat Winter steht ohnehin schon an der Altersgrenze und meine Wenigkeit ist nicht so leicht umzubringen. Schlimmstenfalls eröffne ich ein Detektivbüro. Solange es schöne Frauen gibt, läßt sich in der Branche immer verdienen, mehr wie beim Staat. Wenn ich dir raten darf, setz’ dich in die Bahn und fahr’ schön heim! Sei froh, daß du mit heiler Haut davonkommst, und überlasse es uns, mit deinem Herrn Doktor fertig zu werden.“

Es war kein leichter Entschluß für Leitwitz, die so prächtig eingefädelte Sache wieder abzublasen, nachdem er dem Vetter lange Zähne gemacht hatte, aber er war nicht der Mann, aus Rücksicht auf andere sich selbst Ungelegenheiten zu machen. Er gab den Widerstand auf, als der Baron mit der überraschenden Drohung herausrückte: es sitze jemand auf der Bahn, um eine Abschrift der „Enthüllungen“ nötigenfalls in einer Wiener Redaktion abzugeben. Dieser Einfall war nicht auf dem Mist des „schönen Friedl“ gewachsen! Auf diesen Gedanken mußte ihn die verdammte Sippschaft des Verhafteten gebracht haben. Flog die Sache wirklich auf, so zog der alte Winter natürlich die Hände aus dem Feuer, redete sich auf den Brief aus, der seinen Verdacht rechtfertigte. Ein Sündenbock mußte aber vorhanden sein, das kannte man, mißlungene Vertuschungsversuche forderten ein Opfer – sie sollten sich nur einen Dummen suchen, der bereit war, sich der „öffentlichen Meinung“ zum Fraß vorwerfen zu lassen! –

Nur die kleine Genugtuung konnte Leitwitz sich nicht versagen, den Baron bis zum Abend noch hinzuhalten.

Der Sonntag lieferte die erwünschte Ausrede und der angeblich unauffindbare alte Winter wußte die Galgenfrist gut zu nützen. Jede Stunde mehr zwischen den undurchdringlichen Wänden der Untersuchungszelle fraß Meterzentner von Widerstandskraft, steigerte das Verlassenheitsgefühl, und die Vorführungen zum „Verhör“ durch das feiertäglich ausgestorbene Haus ermöglichten zärtliche Griffe, die nicht ohne Spuren blieben. Als es dann gar nicht mehr gelingen wollte, die Freilassung noch länger hinauszuschieben, entschlüpfte Leitwitz ein Satz, der Mangien zu denken gab, und nach gründlicher Beratung mit Ewald den Ausbau eines komplizierten Abwehrapparates veranlaßte.

„In einer halben Stunde kannst du deinen Liebling vor dem Haupttor von Moabit in die Arme schließen. Ob ihm sehr gedient sein wird mit der gewaltsamen Befreiung, will ich jetzt nicht näher untersuchen. Sollte er wieder einmal in unsere Gasse kommen, dürfte es ihm kaum sehr förderlich sein, daß er uns zweimal schon durch die Latten ging.“

Die erste Folge dieser verkappten Drohung war, daß der Doktor, von Ewald und Mangien in die Mitte genommen, gleich ins Hotel fahren mußte. Nicht einmal seine Sachen durfte er vorher abholen. Ewald erhielt den Auftrag, das Notwendigste einzupacken und an die Bahn zu bringen, zum Morgenschnellzug nach Hamburg. Vergebens berief sich Landau auf seine Patienten, die er nicht einfach im Stiche lassen konnte – Mangien telephonierte gleich einen jungen Arzt an, den er persönlich kannte.

Ich berufe mich auf Ihre eigenen Worte“ – neckte er den Doktor. – „Haben Sie mir es nicht selbst vorgehalten, daß ich den Übereifer meiner Untergebenen vergesse? Bei mir kann man Fabrikarzt werden oder um Protektion bitten, wenn irgendwo eine gute Stellung frei ist. Der junge Mann wird Ihre Kanalräumersfrauen wie Herzoginnen behandeln, um mich zufriedenzustellen. Passen Sie nur auf, er bringt Sie noch um Ihre ganze Praxis!“

Übermütig wie ein Schuljunge nach bestandener Schlußprüfung schoß der Baron im Zimmer umher und bewirtete seine Gäste mit einer Liebenswürdigkeit, der nicht einmal Ewald zu widerstehen vermochte. Dem Doktor gegenüber hatte sich der Geldsack tadellos benommen, das mußte man ihm lassen!

Nach dem Essen wurde trotz allen Protesten Landaus ein Bett in den Salon gebracht – ein Zimmer in der Nachbarschaft schien dem Baron nicht sicher genug, er wollte sich unbesorgt ausschlafen können – endlich! „Wenn es nach mir ginge, müßten Sie im Hotelsafe übernachten. Ein zweites Mal traue ich mir die Energie nicht zu, mit den Herren fertig zu werden. Fragen Sie nur Ihren Freund! Der ist ein tatenlustiger junger Mann, und ich glaube, auch er hat genug. Mir müssen die Tauben gebraten in den Mund fliegen, wenn ich sie essen soll – diese Jagd vergesse ich mein Leben lang nicht!“

Was er dem Doktor nicht verriet, war der heimliche Beschluß, ihn überwachen zu lassen. Ewald hatte es auf sich genommen, die Verhandlungen mit dem Detektivbüro zu führen, und der Baron war entschlossen, seinen Gast nicht fortzulassen, ehe zwei kräftige Männer bereitgestellt waren. Er traute dem Frieden nicht, wollte Ruhe haben, bis sich die Gelegenheit fand, den Nachstellungen der Bande durch ein Machtwort von oben ein Ende zu machen.

Peinlich war es nur, daß man dem Doktor den Entschluß zur Abreise erleichtern mußte. Er durfte nicht wissen, daß man ihn aus Sorge um seine Sicherheit nach Hamburg verschleppte, sonst würde er sich gewiß geweigert haben, auszukneifen vor der Gefahr. Als Vorwand diente Sonjas Mißtrauen, und es war auch richtig: dem Fremden konnte sie nicht jede Lüge aus den Augen lesen. Für den Arzt, der seinen Patienten oft nicht die Wahrheit sagen durfte, bedeutete solche Lüge nicht mehr als eine falsche Diagnose. War es nicht auch besser für Sonja, daß sie die Wahrheit nicht erfuhr?

Aber so sehr er es nicht wahrhaben wollte: zu innerst fühlte Mangien doch, daß es ihm auch selbst darum zu tun war, den Doktor vorschieben zu können, und das machte ihn verlegen. – Nicht viel anders erging es Landau. Die Erinnerung an das Gefängnis lastete auf ihm. Vergebens hielt er sich vor, daß dreißig Stunden Untersuchungshaft keine Prüfung bedeuten durften für einen Mann, der sich selbst die Aufgabe gestellt hatte, wider die Übermacht zu streiten. Die endlosen Gänge mit den vielen gleichen Türen, die Grabesstille in dem großen Haus, mitten in Berlin, – er kam nicht davon los.

„Ich möchte nicht die frohe Stimmung hier zerstören“, entschuldigte er sich, ohne aufzublicken, „aber Sie müssen mir ein wenig Zeit lassen, mich zu erholen von meiner neuen Entdeckung. Da habe ich mich im Krieg wie ein Tobsüchtiger aufgeregt über den schuftigen Widersinn des Wortes „Menschenmaterial“. Daß aber ein Mensch ins Gefängnis „eingeliefert“ wurde, darüber habe ich immer gedankenlos hinweggelesen – erst als man draußen den Schlüssel abzog und die Schritte sich entfernten, ist es mir ins BIut geschossen, was es bedeutet, wie tote Ware im Büro verbucht und dann in den Schuppen geworfen zu werden. Was war ich mehr als eine Kiste, die erst wieder herbeigeholt wird bei Bedarf? Bis dahin blieb ich ausgeschaltet, hätte verderben, verschimmeln, verrückt werden können! Wie viele sind es geworden? Wenn man an alI die großen Lagerhäuser denkt, ob Spielberg, ob Engelsburg, ob Peter-Pauls-Festung – was wissen wir von den Opfern, die zu Tausenden ungesehen, unbekannt, bei lebendigem Leibe verfaulen mußten, ohne den Trost, die Nachwelt werde ihren Namen segnen.“

Der Baron dachte nicht daran, sich von düsteren, historischen Betrachtungen die gute Laune verderben zu lassen, war heilfroh, daß im richtigen Augenblick gerade die Verbindung mit Hamburg gemeldet wurde. Er ließ in sein Schlafzimmer schalten, entschuldigte sich und lief hinaus, diesmal frei von Befangenheit, wie ein Knabe beglückt, Sonja von dem bestandenen Kampf erzählen zu können.

Kaum hatte sich die Türe hinter ihm geschlossen, da fuhr Ewald wütend auf den Doktor los: „Willst du deine nazarenischen Weisheiten nicht für eine andere Gelegenheit aufsparen? – Sie haben deinen Autokönig mit allen Hunden gehetzt, wie einen zudringlichen Versicherungsagenten behandelt; wenn man ihm jetzt ordentlich zusetzt –“

Über das müde Gesicht Landaus huschte wieder das schmerzliche Lächeln:

„Dann wird der Besitzer der Mangien-Werke ein wütender Revolutionär werden und künftig sein Geld dir geben, damit du seine Arbeiter mit Gummiknütteln und Gewehren bewaffnest – wie?“

„Gib acht, er kann dich hören!“ – knirschte Ewald. – „Geschieht mir ganz recht, ich hätte dir eine längere Kostprobe gönnen sollen! Hätten sie Zeit gehabt, dich richtig in die Arbeit zu nehmen –“

„So wäre ich doch nicht zu der Ansicht bekehrt worden: es sei mehr damit bewiesen, wenn ich dem Major Kraake eins über den Kopf gebe, als wenn umgekehrt er mir –“

„Danke, die Melodie ist mir bekannt! Halte ihnen also auch noch die linke Backe hin, wenn dir das Freude macht.“

„Gerade dieses Zitat solltest du lieber meiden, scheint mir. Oder glaubst du, wer zurückgeschlagen hätte als Antwort, hätte auch eine Religion gegründet? Der mächtigste Backenstreich wäre nicht zweitausend Jahre lang wirksam geblieben, wie die Frage: ,So ich recht rede, warum schlägst du mich‘“

Die zum Überdruß bekannten Argumente des Doktors anzuhören, war Ewald zu müde. Er zuckte nur giftig die Achsel und langte nach Hut und Mantel.

Landau trat ganz nahe an ihn heran. „Du hast ja jetzt meine Schlüssel, Gustl, ich lasse sie dir – nimm dir doch einmal die Zeit, schließe die Kiste VII auf, die kleine dunkle, rechts vom Ofen, und blättere das statistische Material durch, das ich für meine populären Vorträge gesammelt habe. Jeder einfache Arbeiter hat es verstanden, daß zehn, zwanzig, hundert Menschen, und wenn sie es noch so gut meinen, nichts gegen die Mehrheit vermögen, – lies nach, wieviel tausend Richter, Gendarmen, Volksschullehrer, Dorfgeistliche nötig sind, um den Apparat in Gang zu halten. Solange die alle mit dem Kopf des Herrn von Kraake denken, kannst du die herrlichsten Reformen dekretieren, du sprichst einfach in ein Telephon hinein, dessen Drahtleitung durchschnitten ist. Wie oft ist der traurige Schwank schon aufgeführt worden? – Ich verstehe dich sehr gut! Du bist jung und ungeduldig – es wäre freilich schöner, als Jung-Siegfried den Drachen zu fällen, statt ihn mit dem eigenen Fleisch und Blut satt und faul zu füttern für den Glücklichen, der, zur rechten Zeit geboren, die Menschheit von ihm befreien darf. Aber ehe es so weit ist, kannst du nichts tun! Auch darüber findest du in meinen Notizen interessante Aufstellungen. Zähle mal zusammen, wie viele es versucht haben, der Entwicklung vorzugreifen! Es hilft nichts, selbst voraus zu sein –“

Landau hatte das Knarren der Türe hinter seinem Rücken überhört, vergebens machte ihm Ewald Zeichen, seine lauwarmen Weisheiten nicht in Gegenwart des Barons auszupacken. Der ganze günstige Einfluß der Rauferei mit Leitwitz ging flöten!

„Ich gehe jetzt“, wandte er sich zu Mangien. – „Wir haben unrecht getan, den Doktor seiner Bestimmung zu entziehen. Er fühlt sich nur berufen, den Herren Kraake und Konsorten zum Fraß zu dienen. Er hat so seine originellen Ansichten. Sie werden ja noch Gelegenheit haben.“

Der Doktor legte ihm die Hand auf die Schulter und hielt ihn sanft zurück: „Einen Moment! Ich weiß, du wirst wieder sagen, diese Walze sei dir zum Überdruß bekannt, und trotzdem widersprichst du immer und kannst doch nicht behaupten, der Vergleich sei nicht richtig. Lassen wir den Baron entscheiden: halten Sie es für sehr aussichtsreich, für den neugeborenen Sohn gleich einen Frackanzug zu bestellen, in der Hoffnung, er werde das Doktorat machen, wenn nur der Frackanzug da ist? Was sind Gesetze mehr als Frackanzüge. wenn sie vor der Zeit für ein Volk geschneidert werden, das noch in den Kinderschuhen steckt? Nicht einmal die Erfahrungen der Eltern läßt man sich aufzwingen. Erst müssen die Menschen reif sein, dann zimmern sie sich die richtigen Gesetze, wie die Schnecke sich ihr Haus aus den Poren schwitzt.“

Ewald ging, – melancholisch blickte ihm der Doktor nach, als die Türe sich längst schon geschlossen hatte. „Mea culpa!“ – seufzte er und zuckte die Achseln. „Vielleicht hat er recht. Ob nützlich oder schädlich, es kommt ihm aufs Handeln an! Ist nicht der erste, der die Menschen mit Gewalt glücklich machen möchte!“

War der Baron schon freudig ans Telephon geeilt, so fühlte er sich seit dem Gespräch mit seiner Frau von allen Sorgen befreit. Seit Jahren hatte die Stimme Sonjas nicht so herzlich geklungen! Natürlich wußte sie schon genau Bescheid, auf welchem drahtlosen Weg der Klatsch nach Hamburg gelangt war – blieb Geheimnis. Jedenfalls hatten es alle „Freunde“ eilig gehabt, sich bei ihr nach dem Befinden ihres Mannes zu erkundigen. Daß sie sich ihr Teil dachte und nicht gläubig den romantischen Zufall hinnahm, der Sohn der einstigen Köchin sei gerade in die Frau verliebt gewesen, die auch ihren Mann nach Berlin gelockt hatte – bei aller Freude vergaß Mangien keinen Augenblick, daß er über diesen dunklen Punkt werde hinwegkommen müssen. Aber sie hatte ihn durchaus nicht bedrängt, ihrem feinen Gehör entging es nicht, wie befreit und eifrig er von seinem Gast und dem Kampf gegen Leitwitz und Genossen erzählte! Sie kannte ihren Friedl – wäre die Geschichte mit Mimi Brenken nicht aus und erledigt gewesen, er hätte nicht so unbefangen ihren und Bodos Namen nennen, so ehrlich sich entrüsten und über seinen Sieg triumphieren können. Der Mann am anderen Ende des Drahtes war nicht derselbe, der kurz vor dem Heiligen Abend bockig von daheim weggefahren war! Als wäre die Trägheitskruste der letzten Jahre im Feuer des Kampfes von ihm abgefallen, so hörte sie wieder den leicht entflammten, begeisterungsfähigen, warmherzigen Friedl von einst. Was kümmerte es sie, warum er fortgefahren und was ihm in Wirklichkeit zugestoßen war, sie bekam ihn verjüngt zurück und ließ es ihn merken, daß er freudig erwartet wurde.

„Sie werden leichte Arbeit haben, Doktor!“ – rief Mangien vergnügt, nicht geneigt, sich auf ein Gespräch über Ewald einzulassen ... „Kommen Sie, ich lasse Ihnen ein Bad machen und dann gehen wir schlafen – haben es redlich verdient, auf unseren Lorbeeren ausruhen zu dürfen!“

In der offenen Tür wandte er sich noch einmal um und konnte nur schlecht seine Ungeduld verbergen. „Machen Sie sich doch nicht soviel Sorgen um Ihren jungen Freund. Der ist gut, so wie er ist. Sie hätten sehen sollen, wie er verzweifelt war Ihretwegen –“

„Und Ihnen an die Kehle gesprungen ist – wie Sie selbst erzählt haben.“

„Allerdings. Um Temperament geht er nicht in die Nachbarschaft. Ich spüre noch immer seine Finger am Hals. Aber das tat er doch nur aus Liebe zu Ihnen.“

Ohne auf den scherzenden Ton des Barons zu achten, nickte Landau nachdenklich. „Das ist es ja! Er hätte Sie erdrosselt aus Liebe zu mir, wie Ihr Freund den armen Abt niedergeknallt hat, aus Liebe zu seiner Frau, wie mir Herr Kraake gerne die Knochen bräche aus Anhänglichkeit zum Gewesenen.“

Der Baron legte den Arm um die Schultern Landaus und schob ihn lachend der Türe zu: „Ich muß sagen, Doktor, mir scheint fast, Ihr Freund hat nicht unrecht gehabt. Sie nehmen es uns wirklich ein wenig übel, daß wir Sie, wie der Erzengel den Isaak, vom Opferaltar entführt haben. Glauben Sie übrigens nicht auch, daß gerade genug geschlachtet worden ist in den letzten Jahren? Zwölf Millionen Tote, heißt es! Das sollte eigentlich langen, für sämtliche existierende und noch nicht existierende Ideen.“

„Fragen Sie die Herren Leitwitz und Kraake, die sind anderer Meinung – wie Sie gesehen haben, auch der gute Ewald. Aber ich langweile Sie!“

Und mit dem schmerzlichen Lächeln, das Mangien so sympathisch war, fügte er scherzhaft drohend hinzu:

„Überlegen Sie sich’s, Baron! Mir wird in Berlin nichts geschehen, viel eher werden Sie mich in die Zelle zurückwünschen, noch bevor wir in Hamburg angekommen sind! Vielleicht hätte ich in Moabit sogar das Schweigen gelernt.“

II.

Als Ewald Montag früh das Gepäck Landaus ins Hotel brachte, hatte er auch schon die Frage der Überwachung geregelt, steckte Mangien den Schein des Detektivbüros zu und knurrte recht unfreundliche Worte nach – entrüstet über die vergnügte Selbstverständlichkeit, mit der Seine Gnaden noch im Pyjama umherlief und die Abreise lachend auf den Nachmittag verschob.

„Das hätte er sich gestern überlegen können! Ich wäre auch lieber in den Federn gelegen, statt um acht Uhr schon in die Stadt zu rennen. Aber wozu sind wir gewöhnlichen Menschen denn auf der Welt? In Hamburg stehen seine Arbeiter seit drei Stunden an den Maschinen. Für den Herrn Baron ist es immer Sonntag!“

Während er so, aus Pflichtgefühl eher als aus Überzeugung, das Parasitendasein des Barons bemäkelte, war ja auch kein leichter Entschluß, den Lumpen den Doktor und fand es ratsam, sich rasch aus dem Staube zu machen. Er kannte Landau gut genug, um zu erraten, warum er so finster vor sich hinbrütete – es war ja auch kein leichter Entschluß, den Lumpen den Triumph zu lassen, man sei aus Angst vor ihnen davongelaufen!

Wäre nicht der berüchtigte Major Kraake in Gesellschaft des Untersuchungsrichters gesehen worden, Ewald hätte selbst alles darangesetzt, die „Entführung“ zu verhindern, die leicht Anlaß zu Geschwätz geben konnte.

So sehr er sich beeilte, der Doktor las es ihm doch aus den Augen, daß auch er nicht restlos einverstanden war mit der verkappten Flucht. Je näher die Stunde der Abreise heranrückte, um so peinigender wurde das Schuldgefühl: auszukneifen vor der Gefahr! Was kümmerten den Doktor Heinrich Landau die Familienangelegenheiten des verunglückten Don Juans? Die Ausrede war zu durchsichtig.

Aber es half nichts – der Griff um die Brust lockerte sich erst, als die Lokomotive endlich anzog – und der schaukelnde Rhythmus der entfesselten Geschwindigkeit befreiend in den Körper strömte. Der Doktor konnte sich nicht mehr verbergen, daß er froh war, der Gefahr entronnen zu sein, er schämte sich der Feigheit und versuchte alles, um sein Gewissen zu beschwichtigen –

Er hielt sich vor, daß er auch als erst jähriger Mediziner aus dem Seziersaal gelaufen war und nur schwer an das Stöhnen und Schreien bei Operationen sich gewöhnt hatte – doch nicht aus Besorgnis um den eigenen Körper. So war auch jetzt nicht die Angst um sich selbst, nicht das lächerliche Martyrium der dreißigstündigen Haft die eigentliche Ursache seiner Unruhe – er konnte die Glotzaugen des Untersuchungsrichters, die zerschnullte Zigarre zwischen den bösartig gefletschten Zähnen nicht vergessen.

Dachte man an all die anonymen Märtyrer, die, aus dem Leben gejätet, von der giftigen Borniertheit ihrer Richter, nicht dreißig Stunden, nein, dreißig Jahre lang oft, langsam im Dunkel erstickt waren – die Finger krallten sich da vor Wut.

Dem Baron hätte die Unruhe Landaus auffallen müssen, wäre er nicht so intensiv mit den eigenen Sorgen beschäftigt gewesen. Er saß verschanzt hinter den Zeitungen, als lernte er die albernen Berichte auswendig, die in den verschiedensten Aufmachungen die romantische Geschichte von der Liebe des armen Fabrikarbeiters zu der vornehmen Dame breittraten. Im ganzen wirkte das Märchen überraschend glaubwürdig! Die Aussage des Chauffeurs über den verdächtigen Passanten und der aufgefundene Brief an den Doktor ergänzten ganz vorzüglich die zusammenkombinierte Erklärung. Wer nichts von der Liebschaft zwischen Mimi Brenken und dem ausgeplünderten Baron Mangien wußte, konnte nichts an der Geschichte verdächtig finden. Für Eingeweihte – und für Sonja vor allem, blieb freilich die Wahl des Arbeiters ein äußerst merkwürdiger Zufall.

Eigentlich hätte Mangien alle Ursache gehabt, zufrieden zu sein mit dem unverhofft guten Ausgang seines Abenteuers. Die Episode mit Mimi war er los, das lüsterne Glitzern in den Schweinsäuglein Leitwitz’ ließ keinen Zweifel über die Fortsetzung ihres vielgestaltigen Romans, der gute Bodo bekam den Jugendfreund von seiner Frau zurück geschenkt – und machte einen besseren Tausch als Mimi. Der Herr Kriminalkommissar war ihr gewachsen.

Die Erinnerung an die Leiche auf der Steinplatte ließ sich schon weniger leicht abschütteln. Das Bild der Hände, gekrümmt, als suchten sie das Leben festzuhalten, blieb ins Gedächtnis gebrannt – aber doch nur ein böser Traum: die Schuld trug der Tote allein, er hatte sich die Kleider nicht angeeignet, um seinen Feind zu retten!

Die einzige ernste Sorge war und blieb Sonja. Was half alle Unbefangenheit des Doktors, wenn sie mit einem Seitenblick auf ihren Mann jederzeit feststellen konnte, wann er bei der Wahrheit blieb und wann er log? Der Zug sollte kurz nach Feierabend in Hamburg ankommen. Direktor Hahn hatte telephonisch Auftrag erhalten, seinen Chef in der Fabrik zu erwarten: über die aufgelaufene Post von drei Feiertagen ließ sich nicht gut in der Villa Bericht erstatten – das war nicht nur Ausrede. Wäre es nur nicht so peinlich gewesen, sich selbst einzugestehen, daß man sich drücken und erst heimkommen wollte, wenn der Doktor schon alles eingerenkt haben würde! In Berlin, solange der junge Ewald noch mithalf, war es leicht, die nötigen Kriegslisten durchzusprechen: die Hilfe galt ja als Vorwand. Nun aber, da mit jeder Raddrehung der Augenblick näher kam und es unleugbar nur darum ging, den mitgebrachten Zeugen vorzuschieben, sich von ihm freilügen zu lassen, war das anders. Wäre der Doktor wirklich ein Schulkamerad gewesen, oder wenigstens ein Lebemann mit einigem Verständnis für das Vertuschen von Seitensprüngen, der Entschluß hätte nicht solche Überwindung gekostet.

„Wir haben schon elf Minuten Verspätung, es wird finster sein, bis wir ankommen. Ich muß Sie daher bitten, vorauszufahren, mein Auto bringt Sie heim, ich nehme mir ein Taxi für einen Sprung in die Fabrik; in einer halben Stunde höchstens bin ich dann zu Hause.“

Nun war es heraus. Mit erleichtertem Aufatmen stellte der Baron fest, daß der Doktor in seiner Zerstreutheit nicht weiter über den Vorschlag nachdachte – es gehörte schon ein Leitwitz dazu, um in diesem merkwürdigen Menschen Mißtrauen oder Bosheit zu wecken! Wie er eben sein Köfferchen aus dem Netz hob, erinnerte er an einen zerstreuten, weltfremden Provinzprofessor, der irgendwie in den sogenannten Sumpf der Großstadt geraten war.

„Und schönen Dank im voraus“ – entfuhr es unwillkürlich dem Baron. Nachträglich erst, als er die Hand des Doktors schon in der seinen fühlte, machte ihn die eigene Herzlichkeit so verwirrt, daß er aus Verlegenheit auch sein Gepäck herunternahm, als hätte er vergessen, daß sie von Diener und Chauffeur erwartet wurden.

Mit der natürlichen Vergnügtheit, die ihm alle Herzen gewann, vertraute Mangien den Gast seinen Leuten an und fragte lachend den Chauffeur, ob man im Hause schon froh gewesen wäre, ihn los zu sein. „Für diesmal ist es Essig – müßt euch schon gedulden!“

Ein letztesmal noch tuschelte er dem Doktor Instruktionen ins Auto. Voll Vertrauen auf die Geschicklichkeit seines diplomatischen Abgesandten, betrachtete er nun den ganzen Fall für erledigt und die Erinnerung an den innigen Ton Sonjas am Telephon steigerte seine freudige Ungeduld, sie wiederzusehen. Er verzieh es sich nicht, daß ihn gemeine, schäbige Männcheneitelkeit monatelang seinem Heim hatte entfremden können! In der Vorstadt, die das Taxi durchqueren mußte, brannten schon die Laternen. Die Gruppen heimkehrender Arbeiter zwangen den Chauffeur zur Vorsicht, bis er in der Nähe der Mangien-Werke, wo das Industriegeleise der Fabrik ohnehin die Chaussee verengte, kaum weiter konnte. Es waren die eigenen Regimenter Mangiens, die seine Fabrik aus dem Rachen spie – in dem schäbigen Taxameter vermutete niemand den Brotherrn, und die Hupensignale und Zurufe des Chauffeurs wurden mit derben Bosheiten beantwortet, bis sich der Baron aus dem Fenster beugte und den Nächststehenden zu erkennen gab.

Wie vor Gottes Wort das Meer, so spaltete sich die Men ge und floß nun rechts und links vorbei. Die Rechte Mangiens langte unwillkürlich nach dem vernickelten Hebel, um die Scheibe hochzukurbeln. Immer, wenn er auf der Heimfahrt die Kolonnen seiner Arbeiter überholen mußte, schloß er rasch die Fenster, sonst bekam er den sauren Geruch der verschwitzten, ungepflegten Körper stundenlang nicht aus der Nase.

Der Baron wurde sich der instinktiven Bewegung bewußt und seine Hand zuckte zurück, als fürchtete er einen vorwurfsvollen Blick Doktor Landaus. Es ärgerte ihn, daß die übertriebenen Sentimentalitäten sich so fest in seine Gedanken eingefressen hatten, er steckte eine Zigarette an und nahm sich vor, eine Besichtigung der Fabrik anzuregen, damit der Herr Doktor ad aculos demonstriert bekomme, wie die Leute täglich Faustkämpfe ausfochten um das heißersehnte Glück, bei den Mangienwerken eingestellt zu werden. Bei Gott, der Besitzer hatte es am allerwenigsten nötig, die Fabrik in Gang zu halten! – Auch seine Kinder und Kindeskinder blieben versorgt, wenn er die viertausend Familien morgen auf das Pflaster setzte.

Daß er sich in Gedanken so gegen den Doktor zur Wehr setzen mußte, verriet ihm erst recht, wie stark er noch unter dem Einfluß seiner jüngsten Erlebnisse stand. Unerschöpflich huschten im schwachen Licht der Laternen die Gesichter vorbei, selten nur griff eine Hand an den Hut, ließ der dunkle Querstrich eines aufgerissenen Mundes eine Begrüßung erraten, die das Motorgeräusch verschlang.

Tausende Male war der Baron an der heimwärts strömenden Masse vorbeigefahren, ohne jemals auch nur eine Sekunde lang von dem Gedanken behelligt zu werden, in welche Löcher diese Menschenflut versickerte. Lag es nun am Doktor, der ihn wie ein unsichtbarer Fremdenführer mit seinen spitzfindigen Randbemerkungen belästigte, oder waren es die eigenen Erinnerungen an die muffige Kammer Abts und die großen, verwahrlosten Häuser: mit einmal sah Mangien das Ziel vor sich, das enge, übelriechende, von Sorgen, Gezänk und Kindergeschrei verleidete Heim, das diese müden, heimwärtsstolpernden Männer erwartete. Nein, es war in der Tat kein lohnendes Geschäft, seine Hände zu verkaufen, wie der Doktor es nannte. Sofort tauchte auch das unangenehme Bild der großen, steingrauen Tatzen wieder auf, hinter der Glasscheibe der Morgue – wie Ware ins Schaufenster gelegt. Es war eine ordentliche Erleichterung, als der Wagen endlich vor dem Fabrikportal hielt.

Das große Gittertor war schon geschlossen, auch im Direktionsgebäude brannten nur mehr wenige Lichter. Mit einem leisen Lächeln stellte Mangien fest, daß die Fenster des alten Oberbuchhalters, der für den Großvater schon die Jahresabschlüsse gemacht hatte, wie gewöhnlich immer noch erleuchtet waren. Unter der einzigen Lampe im Korridor döste der Diener, schlug militärisch stramm die Fersen zusammen und lief sofort davon, um Herrn von Hahn die Ankunft des Gewaltigen zu melden.

In der Fabriksprache boshaft die „linke Hand des Barons“ genannt, weil er sein rasches Aufsteigen nur einer Erkrankung der rechten Hand, des eigentlichen Stellvertreters Mangiens, verdankte, war Herr von Hahn mit der Führung der Personalangelegenheiten betraut. Während des Krieges als Leiter der staatlichen Übernahmskommission mit den gebotenen Rücksichten behandelt und auch in den gesellschaftlichen Verkehr des Barons einbezogen, hatte er nach dem Zusammenbruch rechtzeitig in der Fabrik Unterschlupf gesucht, und Mangien war froh, in dem gewesenen Obersten eine Hilfskraft zu gewinnen, auf die er alle Disziplinarangelegenheiten, Lohnverhandlungen und, was sonst den unmittelbaren Verkehr mit der Arbeiterschaft erforderte, abwälzen konnte. Der scharfe, militärische Ton fuhr den Leuten in die Knochen. Man war sicher, stramme Ordnung zu haben, ohne sich selbst um die Beschwerden und Forderungen der ewig unzufriedenen Bande kümmern zu müssen.

In dem finsteren Korridor, der zu dem großen Beratungssaal und seinem Allerheiligsten führte, stolperte der Baron über die vorgestreckten Beine eines Mannes, der unsichtbar auf der Bank in der Ecke kauerte und zu Tode erschrocken in die Höhe schnellte, als er in dem beinahe zu Fall gebrachten Fremden den höchsten Befehlshaber des ganzen Unternehmens erkannte.

Im Begriff aufzufahren, bemerkte der Baron rechtzeitig, daß der rechte Ärmel des Mannes leer in der Rocktasche steckte. Sofort fiel ihm ein, vor etlichen Wochen sei neben dem hydraulischen Hammer einer verunglückt, als er ein unrichtig eingelegtes Stück zurechtschieben wollte und den Arm nicht mehr rechtzeitig zurückziehen konnte. Zum Skelett abgemagert, die Spuren der erduldeten Qualen noch in das blutleere Gesicht gemeißelt, mußte der Mann eben erst aus dem Spital entlassen worden sein.

„Warten Sie auf mich?“ Überrascht von dem wohlwollend-milden Ton, entschuldigte der Einarmige stammelnd seine Anwesenheit. Er war am Morgen aus dem Krankenhaus entlassen worden und wartete seither auf den „Herrn Oberst“, der ihn wahrscheinlich vergessen hatte.

Mangien hörte nur mit halbem Ohre zu, von dem Anblick des leeren Ärmels ganz merkwürdig berührt. Es verging selten ein Monat ohne kleinere oder größere Unglücksfälle. Die Leute waren ja von Amts wegen versichert, erhielten aber, wenn sie schwer zu Schaden kamen, meist noch eine Abfertigung, gegen schriftlichen Verzicht auf jeden weiteren Anspruch. Es gehörte zu den Agenden Oberst von Hahns, die bewilligten Summen auszahlen zu lassen. Daß er den Mann, der kaum auf den Beinen stand, einen Tag lang hatte warten lassen, ärgerte den Baron. Er kam nicht los von dem leeren Ärmel, der so flach in der Tasche mündete. Unwillkürlich mußte er an den eindringlich wiederholten Satz des Doktors denken – diese Hand war nun richtig verkauft, wovon sollte der Mann leben? Zweitausend Mark waren ihm angewiesen worden, als Ergänzung zu der lächerlich geringen Invalidenrente – langte das? Das einzige Instrument, das ganze Kapital, alles, was ihm die Natur mitgegeben hatte, um sich durchzubringen, für zweitausend Mark abgelöst?

„Ach den habe ich total vergessen!“ – rief Herr von Hahn und schlug sich ärgerlich vor die Stirne, im nächsten Augenblick schon mit der Begrüßung des Chefs vollauf beschäftigt. Die Klinke der aufgerissenen Tür in der Hand, warf er von der Schwelle des Direktionszimmers die Aufforderung zurück, der Mann möge nach Neujahr wiederkommen.

Der Baron wandte sich um: „Nach Neujahr? Warum erst –“

Mit seinem gewohnten schnarrenden Eifer erinnerte der Oberst daran, daß ihm eigentlich schon über Weihnachten ein kurzer Urlaub nach Berlin bewilligt worden wäre, und nur die unerwartete Abreise –

„Schön“, entgegnete trocken Mangien. „Muß der Mann darum eine Woche lang warten? Kommen Sie mit herein!“

Hahns lautloser Unwillen, den er im Rücken fühlte, wirkte wie eine Herausforderung auf Mangien. Absichtlich richtete er immer neue Fragen an den Arbeiter und empfand es als Genugtuung, daß Herr von Hahn, mit der Mappe in der Hand, dastehen und warten mußte. Hatte er nicht den unglücklichen Krüppel den ganzen Tag vor seiner Türe sitzen lassen?

„Haben Sie die Verzichterklärung bei sich?“

„Leider nicht. Die liegt bei mir auf dem Schreibtisch.“

„Wollen Sie die Freundlichkeit haben, das Schriftstück zu holen“ – bat Mangien mit geheuchelter Liebenswürdigkeit, selbst erstaunt über die Schadenfreude, die ihm der verbissene Zorn seines Direktors bereitete. In Gegenwart des Arbeiters wie ein Diener um einen Akt geschickt zu werden, bedeutete eine harte Prüfung für den Herrn Oberst! Der Baron erinnerte sich erst in diesem Augenblick, daß sich seinerzeit auch der kleine Leitwitz für die Anstellung des Herrn von Hahn bei ihm verwendet hatte. Welche Wonne, den kaltschnauzigen Hochmut der ganzen Sippschaft so bald heimzahlen zu können! Sie sollten es alle noch erfahren, daß mit dem Friedl Mangien nicht gut anzubinden war.

Der Oberst mußte wieder wie ein Lakai neben dem Schreibtisch stehen, während sein Chef die noch nicht unterzeichnete Erklärung mit einer Gründlichkeit durchstudierte, als hätte er keine Ahnung von ihrem Inhalt.

„Wenn auch Ihre Frau vom Lande ist, könnte sie Ihnen doch bei Gartenarbeiten an die Hand gehen“ – fragte Mangien den Einarmigen, der, immer verlegener werdend, kaum zu antworten wagte. Er hatte vier Kinder, das älteste wurde schon zehn im Frühjahr, freilich könnten sie zu dritt Landarbeit machen –

Ohne ihn zu Ende sprechen zu lassen, riß der Baron das Schriftstück langsam in der Mitte durch und warf es zerknüllt in den Papierkorb neben sich. Dann wandte er sich an Herrn von Hahn und stieß die folgenden Worte einzeln hervor, die Augen scharf in das militärisch reglose Gesicht gebohrt: „Wir haben doch die Gründe hinter Altona immer noch auf dem Hals? Die Fabrik ist längst zu groß geworden, um dort hinaus verlegt zu werden. Das Beste wird sein, wir lassen dem Mann ein Häuschen hinbauen und geben ihm soviel Boden dazu, daß er mit seiner Familie von dem Ertrag leben kann.“ Und mit gesenkter Stimme fügte er achselzuckend hinzu: „Was soll er mit den zweitausend Mark?“

Herr von Hahn traute seinen Ohren nicht. Er fühlte genau, daß der Plan des Barons schon unerschütterlich feststand, konnte sich aber doch nicht versagen, im Flüsterton vor dem „Präzedenzfall“ zu warnen. „Wenn sich das herumspricht, werden die Kerle mit Absicht in die Maschinen greifen: Haus- und Grundbesitzer wird ein Arbeiter nicht so bald!“ – knurrte er mit schwer verhaltenem Ärger.

Als hätte er den Einwand gänzlich überhört, richtete Mangien lächelnd die Frage an den Arbeiter, ob er mit dem Tausch einverstanden wäre.

In die tiefliegenden, braun umringten Augen schossen Tränen. Es dauerte eine Weile, ehe der Mann die Worte: „Ich dank’ auch schön, Herr Baron!“ über die Lippen brachte. Sie barsten ihm aus der Brust mit einer so eruptiven Glückseligkeit, daß auch Mangien für eine Sekunde die Kehle eng wurde. Er zog unter dem Schreibtisch einige Banknoten aus der Brieftasche und streckte die Hand vor zum Abschied: „Also kommen Sie dann am zweiten oder dritten wieder vorbei, ich werde die nötigen Schriftstücke vorbereiten lassen. Bis dahin – große Ersparnisse wird Ihre Frau nicht gemacht haben, während Sie im Spital gelegen sind – so nehmen Sie doch, Mensch! Und lassen Sie sich auffuttern –“

Überwältigt, ratlos, suchte der Beschenkte vergebens nach Ausdrücken für seine Dankbarkeit. Es wurde Mangien leichter ums Herz, als er endlich aus dem Zimmer schlich. Hätte der Mann brummend alles als selbstverständlich hingenommen, bei Gott, es wäre fast angenehmer gewesen!

Um so mehr Freude machte es, die ganze Post gemächlich Stück für Stück mit Herrn von Hahn durchzugehen, blind und taub für sein Scharren und Zappeln und seine „verstohlenen“ Blicke nach der Uhr. Es kam sehr gelegen, daß er gerade nach Berlin fuhr, er sollte seine Galle nur ausspeien im Freundeskreis!

So sehr er sich zusammennehmen mußte, würgte der Oberst seine Wut doch hinunter. Er bemerkte die böse Absicht erst, als ihn der Baron nicht einmal aufforderte, im Auto mitzufahren. Das bedeutete eine Viertelstunde Weges auf der stockfinsteren Straße und eine ganze Reise in der Trambahn in Gesellschaft des unsauberen Gesindels, das um diese Zeit die Vorstadtstrecke benützte!

Aber selbst das befriedigte die Bosheit Mangiens noch nicht. Schon in Hut und Mantel begann er eigens ein Gespräch, das Herrn von Hahn mitzugehen zwang bis zum Auto, barhaupt ließ ihn der aufgeblasene Geldsack, wie einen Bedienten, den Wagenschlag halten!

Schmunzelnd steckte sich der Baron eine Zigarette an. Es tat ihm nur leid, daß er die Flüche nicht hören konnte, die Herr von Hahn dem davonfahrenden Auto nachsandte.

III.

Die Adern Mangiens pochten doch stärker, als er seine Frau auf sich zukommen sah. Aber ein Blick in ihre Augen beruhigte ihn sofort. Er las es ihr von der Stirne, daß ihm keine Fragen und keine Vorwürfe drohten. Sie war zu klug, die Freude an seiner reuigen Rückkehr sich und ihm mit unnützen Reibereien zu verleiden. Der Doktor hatte sich famos bewährtl Mangien nickte ihm dankbar zu, ohne in seiner freudig-nervösen Gesprächigkeit die gedrückte Stimmung zu bemerken, die zwischen dem Gast und Sonja herrschte.

Erst als die Kinder schon zu Bett gebracht waren und man zu dritt in der Halle beim Mokka saß, fiel ihm der spitze, gereizte Ton seiner Frau auf. Sie überhörte absichtlich alle Äußerungen Landaus, machte aus ihrer Abneigung gegen ihn kein Hehl, tat, als bemerkte sie die Versuche des Barons nicht, ein wenig Leben in die frostig-konventionelle Unterhaltung zu bringen.

Für einen leichtlebigen Kumpan, der aus Neigung mithalf, den mißlungenen Seitensprung zu vertuschen, konnte man den Doktor nicht halten. In seinen schlecht sitzenden, abgetragenen Kleidern sah er wahrhaftig nicht einem Lebemann gleich. – Wie kam der Ärmste dazu, nun auch in Hamburg das Bad auszugießen, als Dank für seine Hilfe und für alles, was er schon durchgemacht hatte?

Langsam nur wurde es dem Baron klar, daß die Feindseligkeit seiner Frau nicht dem vermeintlichen Spießgesellen, sondern den Anschauungen Landaus galt. Seit sie Bruder und Schwägerin im russischen Bürgerkrieg verloren hatte, und ohne Nachricht von deren Kindern war, die wahrscheinlich wie verwilderte Tiere irgendwo in Rußland umherirrten oder verhungert sein mußten – durfte niemand in ihrer Gegenwart ein Wort zugunsten der Arbeiter sagen. Der Name des alten Landau war ihr bekannt. Was sie telephonisch über die sonderbare Lebensweise seines Sohnes gehört hatte, machte sie schon befangen. Gereizt durch seine Anwesenheit, wartete sie ungeduldig auf eine passende Gelegenheit, dem Weltverbesserer klipp und klar ihre Meinung zu sagen.

Die Selbstbeherrschung des Doktors war erstaunlich. Unruhig beobachtete Mangien das höfliche Ausweichen, das er geladen wußte mit schwer unterdrücktem Widerspruch. – Hinter den kühl gemäßigten Antworten fühlte er die gestaute Beredsamkeit immer mächtiger anschwellen, von Satz zu Satz gefaßt auf einen Dammbruch. Es wäre ihm auch lieber gewesen, hätte Landau sich keinen Zwang auferlegt, zuviel hatte er am Telephon von der wilden, unduldsamen Art des Gastes erzählt – Sonja mußte glauben, sie werde als „Weib“ keiner ernsten Debatte gewürdigt! Es gehörte zu ihrer „russischen Seele“, daß sie das herablassende Benehmen Frauen gegenüber, den Vorgesetztencharakter des Mannes in der Ehe leidenschaftlich bekämpfte, an den mehr kameradschaftlichen Verkehr der Geschlechter in ihrer Heimat gewöhnt. Ob der arme Doktor schwieg, oder seine Ansichten offen aussprach – die Explosion war nicht zu vermeiden.

Da kam der Baron auf den Einfall, sein Erlebnis mit dem invaliden Arbeiter und Herrn von Hahn zu erzählen. Er wußte, daß Sonja den Obersten nicht leiden konnte – der empörte Widerstand Hahns gegen das Beschenken des armen Krüppels rechtfertigte ihre Abneigung und bestätigte zugleich die Anklage des Doktors: es gäbe auch einen rätselhaften, von Geiz unabhängigen Neid von oben nach unten, eine unerklärliche Feindseligkeit der Menschen, die selbst in Überfluß leben und dennoch aus reiner Mißgunst entrüstet jeden Versuch bekämpfen, die Existenz der Besitzlosen zu verschönern.

„Hätte ich ihm sein eigenes Einkommen schmälern wollen, er wäre nicht aufgebrachter gewesen. Schade, daß ihn niemand sehen konnte, wie er, innerlich berstend vor Wut, am Wagenschlag katzbuckeln mußte. Morgen nehme ich ihn mir noch einmal vor, ehe er seinen Urlaub nach Berlin antritt!“

Die Erwartung Mangiens wurde arg enttäuscht. Der Doktor saß vollkommen geistesabwesend da und Sonja nahm, wider ihr besseres Wissen, den Obersten in Schutz, nur weil es sie zum Widerspruch reizte, daß ihr Mann die tendenziösen, gehässigen Aussprüche Landaus wiederholte.

„Glauben Sie wirklich, der Invalide wäre großmütiger gewesen an Stelle Herrn von Hahns?“ – wandte sie sich heftig an den Doktor. – „Das schöne Märchen von der Genügsamkeit, die nur von ganzen Schuhen und einem satten Magen, höchstens noch von einem Hüttchen mit ein paar Kohlköpfen und einer Ziege träumt! – Wir haben sie teuer bezahlen müssen, diese sentimentale Dummheit! Mein armer Bruder hat Spitäler gebaut, ein Säuglingsheim, eine Krippe. Als Dank dafür haben sie ihn umgebracht und seine Frau mit ihm. So sieht die gepriesene Gutmütigkeit aus!“

Der Angriff war so scharf und kam so überraschend, daß der Baron aufsprang, als wollte er sich schützend vor den Doktor werfen: „Erlaube mal! ... Das entschuldigt doch nicht die Härte Herrn von Hahns. Weiß Gott, dem ist sein Leben lang nichts abgegangen. Denke zurück an die Armut in den Vorstädten Petersburgs, wie du fast geweint hast auf unserer ersten gemeinsamen Autofahrt! Ein ausgehungertes Volk, das immer nur von weitem zuschauen durfte, wenn das einmal losgelassen wird!“

Es war nicht die Gewohnheit des Doktors, einen anderen für sich sprechen zu lassen. – Er hatte nicht sofort antworten können, weil er zuerst den Alp von sich abwälzen mußte, der drückend schwer auf ihm lastete. Der Name Oberst von Hahn war ihm nur zu gut bekannt. Hätte auch der Baron mehr über das Vorleben seines Direktors gewußt, er wäre nicht so unvorsichtig gewesen, ihn zu demütigen, unmittelbar ehe er ihn auf Urlaub nach Berlin entließ. Wo sollte die Erbitterung sich Luft machen, wenn nicht unter Gleichgesinnten, in dem versteckten Hinterzimmer der Bodega? Dort konnte es ihm nicht lange verborgen bleiben, wer die plötzliche Großmutsanwandlung Mangiens und den beschämenden Auftritt verschuldet hatte. Der Doktor sah im Geiste die Köpfe der Tafelrunde – die gelb gerauchten Raubtierzähne über dem weinfeuchten Tisch. Als er sich endlich von dieser Vision befreite, brachte er den Baron mit einer Armbewegung zum Schweigen und studierte aufmerksam die Gesichtszüge Sonjas, ehe er zögernd zu sprechen begann.

Halten wir uns nur an die Autofahrt durch die Vororte Petersburgs, an die Sie Ihr Herr Gemahl eben erinnert! Damals haben Menschen unter Brücken und Bänken genächtigt, in schmutzigen, verwanzten Löchern zusammengepfercht wie Tiere gehaust, und einen Büchsenschuß weit, in den breiten Straßen der Stadtmitte, dachte niemand an die Kinder, die elend zugrunde gingen.“

„Ist es jetzt besser?“ – rief Frau Sonja mit blitzenden Augen.

„Das weiß ich nicht, kann es aber kaum glauben. Seit Jahrtausenden werden Staaten gegründet, immer war das Ziel das Gemeinwohl, und immer war das Resultat das Wohl einer kleinen Minderheit. – In einem Jahrzehnt wird wohl kaum mehr erreicht worden sein, als Kaiserreiche und Republiken in jahrhundertelangem Bestehen bisher erreichen konnten. Die zufrieden sind, verteidigen ihren Staat, den Staat, der ihnen eine leidlich angenehme Existenz sichert, auf Kosten der Unzufriedenen.“

„Wenn Sie heute nach Rußland kämen –“ wollte die Baronin unterbrechen, „käme ich auf den Galgen oder nach Sibirien, genau wie 1905!“ – erklärte Landau ungeduldig. – „Es ist ja nicht von mir die Rede, auch nicht von Rußland. Ich denke, es ist besser, wir lassen Rußland überhaupt beiseite. Wozu in die Feme schweifen, es gibt bei uns auch Exempel genug!“

Er lächelte sein merkwürdiges, wehmütig-bitteres Lächeln und kramte aus seiner überfüllten, uralten Brieftasche einen Zeitungsausschnitt hervor: „Sehen Sie“ – beugte er sich freundlich zu Sonja – „da haben Sie die letzte amtliche deutsche Statistik: in diesem letzten Jahr schliefen hier bei uns in Deutschland, nicht etwa in Rumänien oder sonstwo auf dem Balkan, mehr als 150.000 Kinder unter vierzehn Jahren mit fremden, nicht zu ihrer Familie gehörenden Bettgenossen auf einem Lager. Ich überlasse es ruhig Ihrer Phantasie, Baronin, sich die Folgen auszumalen. Für die Kinder, die so aufwachsen, gelten dieselben Gesetze wie für mich und Sie und den Baron. Wären wir jetzt in Berlin, wir würden die Leute aus den Theatern strömen, die Lichter von Nachtlokalen leuchten, überall vergnügte, gutangezogene, satte Menschen sehen. Und doch ist es kein Geheimnis, es steht in der Zeitung, daß 150.000 Kinder sittlich und körperlich verkommen müssen. Da, in dem Blatt, das vor Ihnen liegt, las ich auf der Reise einen Festbericht, mit der Beschreibung der kostbaren Toiletten – und auf der Rückseite – wenden Sie um, Baronin – die Reihe der Selbstmorde aus Not. Das wird so hingenommen, weil hier nicht, wie in Rußland, die Schichten gewechselt – –“

Er unterbrach sich selbst mitten im begonnenen Satz, pendelte mit seinen Siebenmeilenschritten einige Male kreuz und quer durch die Halle und machte dann plötzlich vor Sonja halt: „Ich war zehn Jahre lang Assistent an der Frauenklinik, wo Tag und Nacht geboren und gestorben wird. Vielleicht erinnern Sie sich noch an das Säuglingsgeschrei Ihrer Kinder, Baronin? Sie bitten nicht, sie befehlen und fordern, die kleinen Dinger, ihre Gesichtchen werden rot und blau vor Entrüstung, wenn man sie warten läßt. Sie haben Hunger – also wollen sie was zu essen haben! Glauben Sie mir, es gibt kein Revolutionslied so voll elementarer Empörung, wie dieser erste Protest der ahnungslosen Kreatur. Unvergeßlich sind mir die hellen Fanfarenstöße, der zornige, ungeduldige Vorwurf – und unvergeßlich ist mir der scheue, ängstliche Blick derselben Kinder, die geduckte Gier, mit der sie nach dem angebotenen Kuchen haschten, wenn sie ein, zwei Jahre später die Mutter besuchen kamen, die natürlich wieder im Wochenbett lag. Wer kann es sich ausmalen, was in den winzigen Gehirnen vorgeht, die in so kurzer Zeit das Unbegreifliche begreifen, den stärksten eingeborenen Trieb unterdrücken lernen? – Was muß man den Menschen nicht alles verzeihen, die als Kinder schon so an der Wurzel geknickt worden sind?“ überrumpelt von dem leidenschaftlichen Ausbruch, blickte Frau Sonja Rat suchend zu ihrem Mann auf. Was sollte sie diesem Menschen antworten, der sich in die Haare fuhr, mit beiden Händen die Schläfen umkrallte und von den eigenen Worten beinahe zu Tränen rühren ließ?

Aber Mangien kam ihr nicht zu Hilfe. An die Eruptionen Landaus gewöhnt, war er ganz in die Betrachtung seiner Frau versunken. Er sah nicht ganz ohne Schadenfreude, daß sie in dem Streit mit verkehrter Rollenbesetzung gegen den Doktor nicht recht aufkam. Sie mußte nun mit den Argumenten herausrücken, die sie einst selbst nicht hatte gelten lassen. Er dachte an den ersten ehelichen Zwist zurück, irgendwo in einem ostasiatischen Hafen, beim Kohlen. Damals hatte sie noch, mit Empörung geladen, die Partei der halbnackten Tiermenschen ergriffen gegen das reiche Unternehmen, das sie stundenlang für ein paar Annas die schweren Körbe auf das Schiff schleppen ließ.

Als wären die Jahre stillgestanden, errötete Frau Sonja wie ein junges Mädchen unter dem Blick ihres Mannes, sie senkte den Kopf und sah von Zeit zu Zeit verstohlen zu dem Doktor auf, der immer noch unruhig an ihr vorbeijagte.

„Wir hatten auch ein paar Krankenzimmer erster Klasse, für Privatpatienten des Professors. – Es war ein kurioser Gegensatz, nach dem Rundgang durch die überfüllten Krankensäle einen dieser Wintergärten, voll von Blumenkörben, Kristallfläschchen und Silberdosen zu betreten. Gewöhnlich erfolgte die Aufnahme, wenn es schon direkt in den Gebärsaal ging, öfters war es auch schon zu spät, und das Kind wurde unten beim Pförtner oder in einer nahen Toreinfahrt zur Welt gebracht. – In der ersten Klasse aber saßen die Damen oft drei Wochen lang neben der leeren Wiege, um nur ja den Professor in der Nähe zu haben, wenn es so weit war!“

Wieder blieb er mit einem plötzlichen Ruck vor Sonja stehen und beugte sich zu ihr hinab: „Ja, wenn es möglich gewesen wäre, einer reichen Dame, die unter Narkose entbunden wurde, Zwillinge aufzudisputieren – weiß Gott, ich hätte nie gezaudert, eine Kindesunterschiebung zu riskieren. Niemand wäre zu Schaden gekommen. Im Handumdrehen wäre eine zweite Wiege, wären noch einige Kilometer Seidenbändchen und Häubchen und Windeln da gewesen. So aber mußte dasselbe Kind, in zerlumpte Tücher gewickelt, am fünften Tag schon in die Wohnküche nach Hause. Sehen Sie, meine Gnädigste, darauf käme es an! Nicht Tausch, nicht Rache, nicht dem, der früher zuviel hatte – zu wenig, oder umgekehrt, wo doch genug da wäre für alle, wenn nur – –“

„Wenn nur alle Menschen Engel wären!“ ergänzte der Baron mit seinem lauten Knabenlachen und spazierte zu seiner Frau hinüber. Er hatte genug von der unfruchtbaren Unterhaltung, berührte verstohlen die Schulter Sonjas, als Zeichen, den Streit nicht durch Widerspruch zu nähren.

Aber der Doktor fuhr herum und wandte sich gegen ihn: „Warum wiederholen Sie diese abgeleierte Ausrede? Dann muß auch ich mich wiederholen: Waren die Menschen vor zehn Jahren Engel? Sagen Sie Ihnen heute, es sei eine Schande, den armen Leuten die Nahrung fortzukaufen! Wer wird es sich heute noch verbieten lassen, für sein gutes Geld Kuchen und Schlagsahne zu essen, so viel er Lust hat – ganz gleich, ob allen deutschen Säuglingen und Kranken Milch und Weißbrot genug bleibt? Was möglich war, als wir zu wenig hatten, sollte unmöglich sein, nur weil kein Mangel mehr ist? Schaffen Sie mir nur ein Schmähwort wie Hamster oder Drückeberger – ich brauche keine Engel, nur den verschämten Reichtum der Kriegszeit! Aber wer fragt heute danach, wer verheimlicht seinen Überfluß, weil ihn deutsche Eltern und Kinder mit harten Entbehrungen bezahlen?“

Es wäre zu unhöflich gewesen, als Hausfrau das Zeichen zum Aufbruch zu geben. – So gerne Frau Sonja dem unerfreulichen Gespräch ein Ende gemacht hätte, sie wagte nicht einmal, richtig aufzublicken, aus Furcht, der Doktor könnte es ihr vom Gesicht lesen, daß sie die zärtlich werbenden Finger ihres Mannes im Rücken fühlte, Sie nahm es dem Doktor ernstlich übel, daß er, zu Gast in ihrem Hause, rücksichtslos seine überspannten Theorien entwickelte, als wäre jeder Wohlstand Verbrechen. Es ärgerte sie, daß Friedl sich als einen Ausbeuter hinstellen ließ! Sollten auch ihre Kinder auf verfaulten Strohsäcken liegen, nur weil nicht jeder Kohlenschipper eine Villa mit weiß lackiertem Spielzimmer erschwingen konnte?

Mit trotzig zurückgeworfenem Kopf schickte sie sich gerade an, den ungerechten Vorwurf abzuwehren, als der Baron ihr zuvorkam. Er erwartete Erfolg von dem rettenden Einfall, der ihm eben durch den Kopf blitzte: „Verzeihen Sie, Doktor, ich hätte eine Bitte an Sie. Würden Sie nicht mit meiner Frau zu dem Invaliden hinausfahren, morgen mittags? Sie können sich denken, welche Empörung der gefährliche Präzedenzfall allgemein entfesseln wird! Kommt es auf, daß ich meine Arbeiter mit Haus und Grund entschädige – und Herr von Hahn wird schon dafür sorgen – so stellen Sie sich den Triumph vor, wenn sich dem Beschenkten etwas nachsagen ließe, daß er trinkt, seine Frau einen unsittlichen Lebenswandel führt oder dergleichen. – Ich weiß, ich weiß, Sie haben auch über diesen Punkt Ihre besonderen Ansichten. Aber es kommt jetzt nicht auf unsere Ansichten an. Soll das Beispiel nicht wirkungslos verpuffen, so müssen wir schon auf die Vorurteile der Leute Rücksicht nehmen! Ich würde Ihnen mein Auto schicken –“

Diesmal hatte sich Mangien nicht verrechnet. Der unvermittelte Übergang auf das Programm des nächsten Tages war doch ein zu deutlicher Wink. Der Doktor stellte sofort seinen Spaziergang ein und erklärte sich mit einer Verbeugung bereit, die Baronin zu begleiten. „Bin zwar für gewöhnlich ein Frühaufsteher, aber die letzten erlebnisreichen Tage stecken mir immer noch in den Gliedern. Ich glaube, es wird besser sein, wenn ich mich jetzt zurückziehe, damit ich morgen –“

Der Baron zwinkerte heimlich seiner Frau zu, sich zu erheben, und wandte sich dann mit seinem offenen Lachen an den Doktor: „Keine Eile, mein Lieber! Ich habe nebenbei eine kleine Gemeinheit im Sinn. – Das Auto darf Sie erst kurz vor zwölf Uhr abholen, weil Oberst Hahn um diese Zeit auf die Bahn muß und sicher damit rechnen wird, daß ich ihm den Wagen leihe. Ist dann das Auto fort, so versäumt er hoffentlich seinen Zug und verliert einen Nachmittag seines Urlaubes! Die Herrschaften sollen es noch erfahren, daß ich auch unangenehm werden kann!“

Schon bis zum ersten Treppenabsatz hinaufgelangt, blieb Doktor Landau unwillkürlich einige Stufen zurück und senkte den Kopf, als sich Mangien erstaunt nach ihm umsah. Er konnte es unmöglich aussprechen, daß er sich bedroht fühlte! Er wäre als Angsthase dagestanden vor den beiden, hätte er versucht, unter irgendwelchem Vorwand von den geplanten Bosheiten abzuraten.

Die herabhängenden Hände zu Fäusten geballt, nahm er sich entschlossen einen Anlauf. – Das Beste war, nicht vorauszudenken. Was kommen sollte, kam, wenn man es fürchtete, erst recht!

Als der Doktor neben Sonja im Auto Platz nahm, war sie aufrichtig entschlossen, ihre Unfreundlichkeit vom Vorabend gutzumachen. Sie wußte nun, daß sie Landau Dank schuldig war, ganz gleich, wieviel oder wie wenig von dem verzwickten Berliner Abenteuer sich wirklich ereignet haben mochte. Nicht daß ihr Mann mit Mimi Brenken gebrochen hatte, machte Frau Sonja froh: früher oder später wäre das Verhältnis mit der oberflächlichen, leichtfertigen Frau doch zu Ende gegangen. – Es hatte sich viel mehr ereignet in den drei Tagen, als nur die Entfremdung von Mimi, der jeden Augenblick eine andere hätte folgen können, wäre derselbe eitle, innerlich träge Mann nach Hause zurückgekehrt, der am Heiligen Abend, wenige Stunden vor der Bescherung, ganz in sich verkapselt abgereist war.

Sie vergaß ihren Vorsatz nicht, wartete während der ganzen Fahrt auf eine Gelegenheit, mit einigen freundlichen Sätzen dem Doktor zu verstehen zu geben, daß sie ihr Benehmen gegen ihn bereute – und saß doch stumm an seiner Seite, wie gelähmt von den Bildern, die draußen vorüberzogen. Je tiefer sich das Auto durch die winkeligen Gäßchen in dem Schmutz und der Enge der Arbeitervorstadt verlor, um so mehr erinnerte jeder Blick an die leidenschaftlich bekämpfte Anklage ihres Begleiters. Der ungewohnte Besuch des vornehmen Kraftwagens lockte alle Einwohner an die Fenster, Weiber unbestimmbaren Alters stürzten aus den Häusern, um ihre johlenden, balgenden Kinder in Sicherheit zu bringen – Knaben mit frechen, gehässig blitzenden Augen in den käsigen Gesichtern streckten die Zunge, bewarfen mit unflätigen Ausdrücken das vermeintliche Liebespaar. Wie die dunkle Brühe der Pfützen die blanken Spiegelscheiben bespritzte, so fühlte auch Sonja sich beschmutzt von den Blicken, die auf ihr haftenblieben.

Alle Versuche, die wider Willen aufkeimende Gereiztheit zu unterdrücken, versagten. – Daß auch der Doktor schwieg und mit keinem Wort das vorbeirollende Panorama glossierte, ließ das Gefühl nicht verstummen, er genieße triumphierend seinen Sieg. Am liebsten hätte Frau Sonja ihn gefragt, was es denn beweise, daß diese Kinder verwahrlost, innen und außen besudelt aufwuchsen. Kamen ihre Väter an die Macht, so nahmen sie ja doch nur Rache – mehr als den einzelnen helfen, mit Geld die schlimmste Not mildern, konnte doch keiner. Hatte Landau nicht selbst erzählt, das ganze Leben des Arbeiters, den Brenken erschossen hatte, sei vergiftet gewesen durch die gutgemeinten Freundlichkeiten seiner reichen Patin?

Auf der Heimfahrt steigerte sich die unsinnige Reizbarkeit der Baronin soweit, daß ihr die Nachbarschaft des Doktors zur Qual wurde und sie nach einem Vorwand suchte, um auszusteigen. Was sie draußen in der Familie des verunglückten Arbeiters gesehen hatte, drosselte ihr die Kehle. Das tuberkulöse Mädchen mit den traurigen Augen, das genau gleichaltrig mit ihrem eigenen Töchterchen war, die kaum geborenen Zwillinge in dem mit Lumpen ausgefüllten Wäschekorb, das ganze Haus, die vielen neidisch-staunenden, gierigbettelnden Blicke – ein böser Traum, das Ganze! War es wirklich nicht möglich, den Abstand zu vermindern? Mußten die Arbeiter so trostlos zusammengepfercht aneinander sich wundreiben, damit der Besitzer der Fabrik den Seinen nichts zu versagen brauche?

Ehe ihre Heimat von der Landkarte Europas abgetrennt worden war, hatte sich Sonja Mangien oft als gute Fee draußen in den Armenvierteln blicken lassen. Wenn der Besuch diesmal so überraschend starken Eindruck hinterließ, lag der Grund dafür an ihrem Begleiter, dessen merkwürdiges Benehmen sie mit wachsendem Erstaunen beobachtete. Den ganzen Nachmittag spielte der lange, ungelenke Mann mit der angefrorenen Leichenbittermiene wie ein ausgelassener Junge mit den Kindern, rutschte auf dem Boden herum und gewann ihre Liebe so gründlich, daß es abends Tränen kostete, sie von ihm zu trennen.

„Welche Wohltat für mich, einmal mit Kindern zu tollen, die wirklich Kinder sein dürfen“ – sagte der Doktor. „Auch dazu gehört Geld! Wenn man einmal weiß, was teuer ist und was billig, und daß alles in der Welt gekauft werden muß, ist es mit der Unbefangenheit vorbei! Ich erinnere mich genau, wie erstaunt ich war, als meine Kinderfrau mir sagte, sie sei arm. Heute noch erzählt sie mir, ich hätte ihr geantwortet: ,Sei doch recht artig, dann wirst du gewiß wieder reich!‘“

Er lächelte und Frau Sonja schwieg. Sie beobachtete verstohlen das merkwürdige Gesicht, das verbissen und beinahe hart sich gleichsam entspannte unter dem versonnenen Lächeln. Anders als in Mangien, erwachte auch in ihr langsam die Sympathie. Nicht ohne Grund hatte sie ihr Mann „die Henne“ getauft. Ihre ganze Empfindungswelt war so beherrscht von Mütterlichkeitsgefühl, daß in allen ihren Neigungen das Verlangen des Beschützens mitschwang. Der ungepflegte, weltfremde Mann, der sich in nutzlosen Erregungen vergeudete und mit seinem Herzen hausierte, wirkte auf sie wie ein vernachlässigtes Kind. Sie fühlte, daß er überall leer ausging, hätte ihm gerne gleich etwas Freundliches gesagt – und atmete doch befreit auf, als sie draußen die Stimme ihres Mannes hörte.

Sie sah dem Eintretenden sofort an, daß er sich geärgert hatte in der Fabrik. – Nicht einmal von den Kindern ließ er sich aufheitern, blieb einsilbig, bis man nach Tisch wieder in der Halle saß und eine zufällige Bemerkung ihn zur Explosion brachte. Konnte er über sein Eigentum nicht verfügen, wie er wollte? – –

Wem war er Rechenschaft schuldig, und wenn ihm die Lust käme, nicht ein Fleckchen wertlosen Boden nur, sondern sein Haus, seine Fabrik, sein ganzes Vermögen zu verschenken? – Empört über die ungewohnte Einmischung, war Mangien nun erst recht entschlossen, das Füllhorn seiner Gnade bis zur Neige zu leeren, weniger aus Mitgefühl für den Invaliden als aus Trotz. Der Doktor im Gegenteil hatte die Art, sofort ruhig und gelassen zu werden, wenn sein Partner die Selbstbeherrschung verlor. Als gälte es, die Maßlosigkeit Gustl Ewalds zu bremsen, nahm er beinahe für die Gegner der Schenkung Partei und bohrte sich mit vorurteilsloser Sachlichkeit an die psychologischen Ursachen des Widerstandes heran.

„Nichts für ungut, aber Konsequenz scheint nicht Ihre starke Seite, lieber Doktor! Jetzt werfen Sie sich gar zum Verteidiger dieser Neidhammel auf, die –“

„Neid? – Das ist es ja gerade, Baron! Neidig können Villenbesitzer, wie Oberst von Hahn, dem armen Schlucker nicht sein. Richtig neidisch macht nur ein Besitz, den man selbst gerne haben möchte. Auch mit Geiz hat der allgemeine Unwillen nicht viel gemein. Sie sagten ja selbst, das Geschenk koste niemand einen roten Heller. Warten Sie, lassen Sie mich nur erklären! Es gibt freilich auch sogenannte selbstlos schlechte Menschen, aber ich glaube nicht, daß solche interesselose Bosheit viel häufiger als reine altruistische Güte wäre. Es ist überhaupt falsch, immer von Gut und Böse zu sprechen, wo es sich meist um die Phantasiefrage handelt! Man sollte die Menschen nur in zwei Klassen teilen: in solche mit und ohne Phantasie. Die Wurzel alles Unheils ist, glauben Sie mir, Mangel an Phantasie!“

Mangien lachte geärgert: „Danken Sie Gott, daß er Oberst Hahn nicht auch noch mit Phantasie gesegnet hat! Wie wäre er erst unersättlich, lockten ihn –“

„Falsch! Phantasie ist immer Gottes Segen. Was Sie mit Ihrem Geld anfangen, wäre allen Leuten gleichgültig, aber Sie versuchen eine Neuerung, und die Menschen fürchten nichts so wie Veränderungen! – Wäre es möglich gewesen, Hunderttausende mit Peitschenhieben zum Pyramidenbau zu zwingen, jahrelang gesunde Menschen in den Tod zu jagen, bis zwölf Millionen – können Sie das ausdenken – zwölf Millionen lebenskräftige Männer zerfetzt in den Massengräbern lagen – wie hätte eine kleine Minderheit so die Mehrheit knechten können, ohne die stumpfe Phantasielosigkeit, für die immer das gerade herrschende System die ewige, unabänderliche, gottgewollte Ordnung bedeutet. Nur kein Experiment! Wenn auch der gewöhnliche Fabrikarbeiter plötzlich Hausbesitzer werden kann, sieht Herr von Hahn seine ,Weltordnung‘, das heißt: die Staatsform, die ihm bestimmte Vorteile sichert, von Einsturz bedroht. Aus wessen Tasche das Häuschen bezahlt wird, bleibt sich dabei gleich – für ihn dreht es sich um die Frage, ob auch weiterhin seine Kaste die silbernen Achselklappen tragen und befehlen, oder künftig er gehorchen und das Gesindel kommandieren soll. Darum ist er entsetzt über Ihre Schenkung und freut sich von Herzen, so oft ein Weltverbesserer in aller Stille um die Ecke gebracht wird. – Phantasie ist alles! Ist eine Änderung einmal vollzogen, wird auch der neue Zustand bald selbstverständlich – wollen Sie einen Beweis? Sie brauchen gar nicht erst die Geschichte aufzuschlagen, denken Sie nur an Ihren Großvater zurück! Hätten Sie dem gesagt, man werde einmal an Sonntagen nicht arbeiten, Kranke nicht von heute auf morgen ohne einen Pfennig entlassen dürfen, er hätte Ihnen geantwortet, dann werde das Unternehmen zugrunde gehen. Ist es Ihnen bekannt, was die allererste Forderung der Arbeiterbewegung war? – überspannte Humanitätsduselei forderte von der englischen Regierung ein Gesetz, das den großen Webereibesitzern verbieten sollte, Kinder unter zwölf Jahren mehr als zwölf Stunden täglich in der Fabrik zu beschäftigen. Ich wiederhole: Kinder unter zwölf Jahren länger als täglich zwölf Stunden! Und gegen diese ungeheuerliche Zumutung hat sich vor fünfzig Jahren ein Sturm der Entrüstung erhoben! Sämtliche reichen Weber weissagten den Untergang der englischen Industrie. Wie oft ist seither die ,Existenz‘ der Industrie noch in Gefahr gewesen? Um jede neue Erleichterung mußte gestreikt und geschossen werden. – Hätten die Menschen nur Phantasie, ich schwöre Ihnen, die wenigsten hätten das Herz, das grausam ungleiche Duell auszufechten zwischen Zinsenverlust auf der einen Seite und hungernden Kindern auf der anderen. Aber ,Streik‘? – – Ein Wort! Wer malt sich die Einzelheiten aus? – –“

Das Gesicht voll dem Doktor zugewandt, hatte Sonja aufmerksam zugehört, bis die plötzliche Unruhe ihres Mannes sie ablenkte. Was hatte er auf einmal? Seine Hand auf der Stuhllehne ballte sich zur Faust, mit gesenkter Stirne starrte er geistesabwesend auf den Teppich, die Lippen fest zusammengeschweißt.

Der Baron fühlte die forschenden Blicke Sonjas und dachte angestrengt über eine Ausrede nach. Er wollte sie nicht wissen lassen, daß eine Verbindung zwischen Oberst Hahn und den Feinden des Doktors bestand. Den Mann eigens aufzuputschen, unmittelbar ehe er zu seinen früheren Freunden fuhr, wäre jedenfalls nicht nötig gewesen. Der Vorsatz, den jungen Wiener anzurufen und zu besonderer Wachsamkeit zu ermahnen, half die Beunruhigung überwinden – auch mußte es mit Sonjas Hilfe gelingen, Landau zu längerem Bleiben in Harnburg zu bewegen.

Den Grund seiner Weigerung wollte der Doktor nicht verraten: er durfte die arme, schwangere Frau nicht enttäuschen, die ohnehin schon schweren Herzens mit der Verschiebung bis Silvester sich abgefunden hatte. In Unkenntnis der wahren Ursache schöpfte der Baron allmählich den Verdacht, der ihm am nächsten lag. Er versuchte Sonja durch Zeichen zu verstehen zu geben, es müsse wohl eine Frau im Spiele sein. Am aussichtsreichsten schien es ihm noch, an den Wohltätigkeitsdrang Landaus zu appellieren. So lenkte er das Gespräch auf den Besuch bei dem Invaliden zurück. Er wollte für den kommenden Vormittag sein Auto wieder zur Verfügung stellen, auch andere hilfsbedürftige Familien in der Nachbarschaft sollten bedacht werden.

So gelang es, ein friedliches Gespräch über Hilfsmöglichkeiten im allgemeinen, über Stiftungen, Spitäler, Asyle anzubahnen. Auch auf die Mutter Karl Abts kam die Rede. Frau Sonja ließ das hinterlassene Archiv ihrer verstorbenen Schwiegermutter herunterbringen, das „Friedl-Museum“, wie sie es spöttisch-scherzend nannte – und man fand zwei vergilbte Aufnahmen, mit den Überschriften: „Friedl spielt mit Karlchen“ – „Friedl mit Karlchen im Garten“.

Es ging schon auf Mitternacht, als man diesen zweiten Abend beschloß. Der Doktor, nicht verwöhnt von häufigen Erfolgen, strahlte über das ganze Gesicht, beglückt von den Resultaten der Unterredung. Erreicht war, daß Bittgesuche in Zukunft nicht mehr von dem Sekretär erledigt werden sollten. Der Baron hatte seiner Frau versprochen, alle Wohltätigkeitsangelegenheiten für sie ausscheiden zu lassen. – Und die zur nahen Jahrhundertfeier der Mangien-Werke angeregten Gründungen! Wenn auch nichts Festes ausgemacht worden war, für mehr als leeres Gerede durfte man die Pläne des Barons immerhin halten! Er sagte nicht nein und nicht ja, lachte nur wohlwollend, und der interessierte Eifer der Baronin bestärkte Landau in seinen Hoffnungen.

Mangien war es sehr recht, daß sein Gast so befriedigt, ja vergnügt zu Bette ging. – Auch Sonja zeigte sich viel gesprächiger als gewöhnlich. Die „Henne“ in ihr freute sich, gleich einige hundert Kinder und Kranke unter die Flügel nehmen zu dürfen. Was sie nicht begreifen wollte, war die Ursache der Besorgnis, Direktor Hahn und seine Freunde könnten dem Doktor etwas anhaben. Wem schadete der Sohn des reichen Landau, außer sich selbst? – Ohne daß sie dessen selbst bewußt wurde, griff Sonja mit Freuden die Andeutung auf, der Doktor werde von einer Frau erwartet. Ihr Mütterlichkeitsgefühl litt unter der Vorstellung, gerade dieser stets um andere besorgte, so verschwenderisch hilfsbereite Mann würde auch am Silvesterabend einsam sein.

Ohnehin bemüht, seine Unruhe loszuwerden, ließ sich Mangien nur zu gerne von der Befürchtung ablenken. – Wollte Landau partout nicht über Neujahr bleiben, so genügte ein Anruf, und es erwarteten ihn zwei handfeste Kerle am Anhalter Bahnhof. Der junge Mann in Berlin hatte eine allzu rege Phantasie: mit dem konnte der Doktor zufrieden sein! – Wollte man alles ernst nehmen, was der an Greueltaten der Gesellschaft Kraake und Konsorten nachsagte, so wäre die ganze Welt eine Räuberhöhle und kein Mensch seines Lebens sicher gewesen.

IV.

Vielleicht hätte Mangien den Doktor ruhig abreisen lassen, ohne einen Besuch, der ihm zu denken gab.

Gleich als er die Visitenkarte „Franz Willinger junior“ erblickte, bekam er einen richtigen Wutkoller. Was hätte der Bengel in seinem Hause gesucht?

Der Diener wußte nur, der junge Mann wäre gerade gekommen, als die Frau Baronin und der Herr Doktor schon ins Auto steigen wollten. Der Herr war auch nur kurz geblieben – hatte sich angeboten, einen Teil der Kleider und Geschenke in seinem Wagen nachzufahren, weil die Frau Baronin und der Herr Doktor kaum Platz hatten neben all den Paketen.

Der Vorsatz, die zahlreichen Warnungen und Bedenken Ewalds nicht ernst zu nehmen, wurde erschüttert von den Beobachtungen Sonjas, die vielleicht auch schon angesteckt war? – – Anderseits – – schien es in der Tat fast wahrscheinlich, daß Willinger den Augenblick abgepaßt hatte, um sich von der Anwesenheit Landaus persönlich zu überzeugen. Der Doktor hätte es dem Kerl jedenfalls nicht auf die Nase binden brauchen, daß er schon mit dem Nachtzug abreisen wollte. So sehr Mangien das Eindringen des jungen Willinger in sein Haus verstimmte, die Bezeichnung „Leutnant a. D.“ auf der Visitenkarte brachte ihn doch zum Lachen, und er konnte es sich nicht versagen, bei Tisch die Lebensgeschichte des Vaters und den Aufstieg des Sohnes zum Offizier ausführlich zu schildern.

Ob seiner witzigen Bosheit bekannt, machte es ihm Spaß, sich selber sprechen zu hören, wenn ein so ungemein dankbares Objekt für seine Spottlust sich fand. Man durfte wohl sagen, es sei viel BIut vergossen worden für den Aufstieg des Alten – aber immer das Blut von anderen. Wahrscheinlich wäre er nie aus dem Hafenviertel Hamburgs herausgekommen, hätte nicht in seiner verrufenen Kneipe ein norwegischer Fischer sich den Tod geholt. Messerstiche waren bei den Gästen des Hauses an der Tagesordnung – der zähe Nordländer rang drei Wochen lang im Spital, ehe ihn der Tod erlöste, und während dieser Zeit schloß die zukünftige Witwe mit ihrem Quartiergeber so enge Freundschaft, daß dem Tüchtigen die Erbschaft eines Fischkutters und eines Schwiegervaters zufiel, der irgendwo in Norwegen einen kleinen Kramladen unterhielt. Während des Krieges dann machte die neutrale Verwandtschaft sich gut bezahlt – aus dem Fischkutter wurde ein Schmuggelschiff und aus dem Besitzer der Matrosenherberge ein Schieber, dessen Verdienste um das Verpflegswesen und an demselben mit der steigenden Not und den steigenden Preisen immer ansehnlicher wurden.

„Als eine Art Schmuggeladmiral, in selbstkomponierter Uniform, stand der Alte zuletzt mit der Marineleitung in Verbindung, ließ seine Schiffe unter Schutz der kaiserlichen Flotte fahren – und als alles zusammenknackste, blieb sein Reichtum unangetastet, weil der Schlauberger nur den Eidam des Lieferanten gespielt hatte, um die Bezahlung in norwegischem Geld zu erzwingen. – Die Villa mit feudalem Park, die Garage voll Automobile, der ganze goldene Rahmen wurde mit wertlosen Papierfetzen, mit einer Handvoll Wechselgeld in Kronen und Ören erstanden.

Aber die Geschichte ist noch nicht zu Ende! Das war nur der Alte. Seinem Stammhalter hat das Schicksal einen bösen Streich gespielt. Da steht es ja: Leutnant a. D.! – Man muß sich in die Seele des Kneipenbesitzers einfühlen können, um die ganze Tragik, den stummen Schmerz zu ermessen, der aus den bösen zwei Buchstaben ,a. D.‘ spricht. Es ist ja schon allerhand, den Sohn aus erster Ehe an den Volant eines Lanciawagens zu setzen, aber das Höchste für Leute aus dem Hafenviertel bleibt doch stets die Uniform. Die Existenz eines Kaschemmenwirtes hängt von der Laune des Polizeiwachtmeisters ab – welche Glückseligkeit, in der eigenen Familie einen Leutnant zu haben! Die einzige Errungenschaft, die richtiges, gutes Geld oder Lebensmittel gekostet hatte, war die Offizierscharge Willinger juniors, und als es endlich erreicht war, Vater und Sohn von Stolz gebläht im Glanz der silbernen Achselklappen sich sonnen konnten – da, am sechsten Tage nach der reichlich begossenen Beförderung, wurden dem jungen Leutnant auf offener Straße die teuer erkauften Offiziersabzeichen von meuternden Matrosen abgerissen! – Ist es ein Wunder, daß die Geprellten nur noch mit den wütendsten Monarchisten verkehren? Bei einem guten Weinkeller und einer leicht zugänglichen Brieftasche hört der Stolz der Herren ja auf.“

Frau Sonja kannte ihren Mann zu genau, als daß ihr die gereizte Unruhe hätte entgehen können, die er krampfhaft hinter der gespielten Lustigkeit zu verbergen suchte. Es traf sich gut, daß der Doktor gleich nach Tisch für einige Minuten auf sein Zimmer ging, um die letzten Kleinigkeiten in die Handtasche zu verschließen. Der Baron hatte für alle Fälle das Schlafwagenabteil reservieren lassen, der Chauffeur sollte Landau gegen elf Uhr nachts zum Bahnhof bringen – aber das freche Eindringen Willingers, das verdächtige Benehmen, das Sonja an ihm bemerkt haben wollte, hatten die schon halb überwundenen Bedenken doch wieder aufgerüttelt.

Es war nicht leicht zu entscheiden, ob man trachten sollte, die Rückfahrt zu verhindern, oder im Gegenteil besser daran täte, alle Nachstellungen in Hamburg durch die Abreise zu vereiteln. In BerIin war ja schon für Schutz gesorgt!

Die Zeit reichte nicht aus, die Frage mit Sonja zu beraten. Als der Doktor wieder auf der Treppe erschien, mußte der Baron verstummen. Es gelang ihm nur noch, die Stühle so zu stellen, daß der Gast mit dem Rücken zur Uhr zu sitzen kam. – Fand sich noch das richtige Stichwort, so konnte es nicht schwerfallen, den Doktor Ort und Zeit vergessen zu lassen. War er erst in eine Debatte hineingelockt, so verlor er die Herrschaft über seine Beredsamkeit, und – versäumte den Zug.

Aber die geschicktesten Versuche mißlangen, der Doktor lächelte versöhnlich, als durchschaute er die Absicht, wollte immer wieder aufbrechen, bis der Baron die Geduld verlor und die Uhr abzustellen drohte. „Zum Donnerwetter, was haben Sie denn so Wichtiges in Berlin zu versäumen? Sehr schmeichelhaft ist das für die Hausfrau nicht, daß Sie den Augenblick nicht erwarten können, wieder fortzukommen. Ich habe eigens Ihren jungen Freund angerufen – Ihre Patienten sind auf das beste versorgt. Warum wollen Sie nicht bei uns das neue Jahr abwarten? Wenn Sie nicht einmal zwei bis drei Tage opfern für unsere Pläne, wie soll es mir dann um das Geld nicht leid tun, das mich die Verwirkli-chung kosten würde?“

Zum erstenmal sah der Baron eine leise Tönung über die schlaffen, zimmerfarbenen Wangen huschen, als auch Sonja sich in das Gespräch mischte. Der weiche, mütterlich besorgte Blick ihrer Augen machte den Doktor verlegen – seit langem nur an den Verkehr mit Menschen gewöhnt, die in irgend einer Form etwas von ihm wollten, berührte es ihn ganz merkwürdig, beinahe umworben, mit einem fast zärtlichen Unterton betraut zu werden von einer Dame, die nur rein menschliches Interesse an ihm nehmen konnte. Weil ihm nichts anderes einfiel, redete er sich auf einen Kreis von jungen Arbeitern aus, deren Wißbegier er mit Büchern aus seiner Bibliothek und gelegentlich auch mit Vorträgen befriedigte. Er wollte die armen Burschen nicht um die Zusammenkunft prellen, die er ihnen für den Neujahrstag versprochen hatte.

„Darf ich Sie fragen, warum es Ihnen erstrebenswert scheint, die jungen Leute von den Mädeln zu Ihren Büchern zu locken?“ spöttelte Mangien.

Diesmal schluckte der Doktor den Köder. Er warf wohl erst einen flüchtigen Blick auf die Uhr, sah aber, daß ihm noch Zeit genug blieb, und erwiderte aufbrausend: „Warum glauben Sie, daß ich die jungen Leute zu den Büchern locken muß? Das Umgekehrte ist richtig: man will es nicht wahrhaben, daß auch Menschen, die, zu körperlicher Arbeit verdammt, schwer um das nackte Dasein ringen müssen, geistige Interessen haben können. Man will keine Talente von unten, weil die Konkurrenz ohnehin schon groß genug ist. Es ist bequemer, keinen auf die Brücke heraufzulassen, der nicht schon als Offizier geboren ist – wer liefe nicht Gefahr, wenn jeder Heizer die Möglichkeit hätte, das Navigieren zu lernen? Man weiß sie lieber zusammengepfercht bei den Kesseln, wo sie blind jedes Kommando ausführen müssen. Was Sie wohl dazu sagen würden, wollte man Sie verpflichten, immer wieder den Sohn ihres letzten Chefingenieurs anzustellen? Daß der Vater was konnte, genügt Ihnen nicht als Gewähr, aber …

„Das ist Rabulistik!“ – lachte der Baron, sehr zufrieden mit dem Erfolg seiner Herausforderung. Er blinzelte hinter dem Rücken Landaus belustigt seiner Frau zu – jetzt noch ein wenig Widerspruch, dann konnte der Zug ohne den Doktor abfahren.

„Nein! Das ist keine Rabulistik. Wenn ich Zeit hätte, meine Handtasche noch einmal auszupacken, könnte ich es Ihnen beweisen, schwarz auf weiß. Zufällig will ich am Neujahrstag meinem kleinen Kreis von der Französischen Revolution erzählen, wie sich das Gesicht der Welt verändert hat, als man auf einmal alle Türen der großen Schatzkammer öffnete und auch den Talenten aus den untersten Schichten jeder Weg offen stand. Täglich füllte sich der blutige Korb unter der Guillotine mit den besten Köpfen der Zeit, aber aus Werkstätten, Advokatenkanzleien strömte unerschöpflich neuer Reichtum. – Und da sprechen Sie von Rabulistik? Verdreht ist, was wir tun! Das wahnsinnige System, den Überfluß abzuschnüren, der uns zur Verwaltung anvertraut ist. Statt den Vorrat bis zur Neige auszuschöpfen, werden künstlich Riegel geschmiedet, mit verbohrter Hartnäckigkeit Dämme gebaut und verteidigt, damit der Segen nur ja nicht überlaufe. Weil eine imaginäre Linie auf der Landkarte die Kohlen- und Erzlager trennte, mußten Millionen von der Schwelle ihres Lebens in den Tod. Wer kann es sagen, welche ungeahnten Größen, welche Entdecker, Erfinder und Künstler, welche unwiederbringlichen Werte aus der Schatzkammer der Zukunft in den Massengräbern faulen – und warum? Weil engstirnige Gier beides, Kohle und Erz, diesseits oder jenseits der eingepinselten Linie haben wollte. Ist das nicht die schlimmste Lästerung? Ein Verleumden der Schöpfung, die für alles gesorgt hat? Und das ist der Grundstein, auf dem ...“

„... nicht länger aufgebaut werden wird, wenn der Doktor Landau heute nacht abreist und einige junge Arbeiter mit der Geschichte der Französischen Revolution bekannt macht“ – lächelte trocken der Baron und schüttelte im Vorbeigehen den Doktor an der Schulter. Auf die Dauer wurde dem gesunden, an technischer Exaktheit geschulten Sinn fürs Reale solch sterile Energievergeudung unerträglich.

Sonja hatte ihrem Mann einen unzufriedenen Blick zugeworfen. Es war ihr nicht recht, daß er den Doktor absichtlich reizte – war der nicht schon gestraft genug? Auch wer sich zu wehren wußte, wurde leicht niedergerannt – wie mußte es erst einem Menschen ergehen, der immer nur die anderen beschützen wollte? – – „Leider kann der einzelne nicht viel ausrichten“ – mischte sie sich begütigend ein. „Was bedeuten die paar Kleider und Schuhe, die wir vormittags verteilt haben? Und wenn wir auch das Kinderheim bauen! – Ist es nicht schade, sich das ganze Leben zu verderben, mit aller Welt in Feindschaft –“

„Hja! – Wenn man sich seine Charaktereigenschaften „in einem Laden aussuchen könnte, Baronin!“ – erwiderte Landau mit seinem wehmütigen Lächeln. –

„Vergessen Sie meine Spitalszeit nicht! Die zehn Jahre im Krankenhaus haben mich zu tief schauen gelehrt. Jede Minute, die man verlebt – verlebt, ist das nicht wundervoll ausgedrückt – wird einem von der elektrischen Uhr vorgezählt. In jedem Zimmer, auf allen Gängen schlürft der große Zeiger gleichzeitig um einen Strich weiter, und schleift alle mit, die Zitternden, die jede Minute dem Operationssaal näherrückt, die Sterbenden und selbst die Glücklichen, die bald wieder hinaus dürfen. Wenn man es oft mitansehen muß, wie die vier Bettfüße auf einmal in die Höhe schießen, wie Tannen, daß der Sterbende kaum mehr herunterschaut, nichts mehr hören will von den Wichtigkeiten seines Lebens – – – da lernt man alles nach seinem richtigen Werte einschätzen, und kann sich nicht mit der mörderischen Gedankenträgheit derer vom Schlage Oberst Hahn abfinden, die immer noch glauben, alles komme darauf an, nur ja nicht zu viele an den Trog zu lassen. Sie wollen es nicht verstehen, daß heute keiner mehr mit dem spärlichen Wildbestand in Reichweite seiner Beine und seines Bogens das Auskommen finden muß. Alles ist für alle da, der Tee aus Ceylon für den Fischer in Hammerfest – der ganze Erdball ein überfülltes Lagerhaus, mit Dampf und Blitz für den Transport. – Aber die Menschen sabotieren die Vorsorge der Natur mit Grenzen und Zöllen und Münzen und Notenbanken. Und das sollte so bleiben? – Bedenken Sie doch: nicht verjagt worden sind wir aus dem Paradies, wir haben es erst Schritt um Schritt endeckt. Wie Kinder, die noch zu klein sind, um die Klinken zu erreichen, so muß ein Teil der Menschheit hungern und entbehren, auch heute noch – – mitten in diesem Märchenschloß, mit allen seinen zauberhaften Einrichtungen und dienstbereiten Hilfskräften. Und warum? – Warum ist es so? Weil die Herren Leitwitz, Kraake und Konsorten nicht Gehirn genug haben, um zu begreifen, daß wir hergesetzt sind als Verwalter und nicht – Aber um Gottes willen, ich vergesse ganz meinen Zug! Es ist ja gleich zehn!“ –

Der Baron erwischte ihn beim Ärmel und hielt ihn fest: „Oha! Das würde Ihnen so passen, mein Lieber! Da schimpfen Sie auf die Pfaffen und wollen es ihnen gleichtun. Von der Kanzel herunter uns allesamt für verdammte, gotteslästerliche Dummköpfe erklären, und dann Amen und hinein in den Schlafwagen, und wir armen Schafe sollen allein mit unserem aufgewühlten Gewissen fertig werden? Da schauen Sie meine Frau an, die würde mit ihrer russischen Seele weiß Gott wie lange an den Problemen zu tragen haben, die Sie ihr zum Abschied an den Kopf warfen. Das gibt’s nicht! Erst knacken Sie Ihre Nüsse selbst! Nörgeln ist leicht – wir wollen uns belehren lassen, wie man’s besser macht. Auf die Uhr brauchen Sie nicht zu achten! Das Auto steht draußen, in sieben Minuten sind Sie an der Bahn. Heaps of time! Bis dahin läßt sich die großartigste Weltordnung aufbauen.“

Der Doktor hatte sich erschrocken an Sonja gewendet und protestierte gegen das Mißverständnis, als ob auch nur ein Wort seiner Rede sich auf die Baronin bezogen haben könnte. Alles wäre doch gegen eine bestimmte Sorte von Menschen gerichtet.

„Tralala!“ – unterbrach ihn der Baron wieder – „keine Entschuldigungen! Wir bitten um das Rezept. Ihr junger Freund ist doch wenigstens konsequent. Ich würde mich zwar nicht wie ein Lamm von ihm abschlachten lassen, wollte er sein Großreinemachen praktisch durchführen – aber Sie sind weder Fisch noch Fleisch. – Verraten Sie uns endlich, wie Sie sich die praktische Lösung vorstellen –“

Mit einem Satz war er bei der Uhr, öffnete den Kasten und hielt das Perpendikel an. „So! jetzt steht die Zeit still, ich lasse Sie nicht fort, ehe Sie nicht Rede stehen. Sie kehren nicht zu demselben Punkt zurück, Sie streichen um ihn herum wie die Katze um den heißen Brei! Die Frage lautet: Was kann, was muß der einzelne tun, um –“

Diesmal riß dem Doktor die Geduld: „Das muß jeder einzelne mit sich selbst ausmachen. Ich jedenfalls stehe nur für mich selber ein, es ist sicher nicht viel, was ich ausrichten kann – aber – –“ Er stockte einen Augenblick, sah bald den Baron, bald dessen Frau an, und rückte endlich doch heraus mit der wahren Ursache seiner Abreise. Er schilderte die Verzweiflung der Mutter, die wie ein Raubtier gegen den eigenen Leib gewütet hatte, und schloß mit der erbitterten Frage, ob ein anständiger Mensch den Vogel Strauß spielen, sich damit abfinden dürfe, daß Frauen derart zum Gebären gezwungen werden, nur damit das Überangebot an Händen den Preis der Arbeitskräfte niedrig halte. – „Ist der Mensch erst einmal da, so klammert er sich auch an sein Leben, und wenn er selbst schmutzig, tuberkulös und unterernährt ist: ganz verhungern will er doch nicht – gibt sein Leben her, um es leben zu können! Und ich sollte eine Sünde begehen, ein Verbrechen, wenn ich solche Kinder nicht zur Welt kommen lasse?“

Im Grunde teilten beide, Sonja sowohl als der Baron, in dieser Frage die Ansicht des Doktors. Kinder in die Welt zu zwingen, auch wenn die Eltern sie nicht ausreichend ernähren konnten – im Prinzip waren sich alle vernünftigen Menschen darüber einig, daß dies abgeschafft werden sollte. Aber solange das Gesetz noch zu Recht bestand, wirkte es doch peinlich, Mitwisser einer Tat zu sein, für die man ins Gefängnis kam.

Um ein Übergleiten des Gesprächs in eine schärfere Tonart zu vermeiden, versuchte Mangien die Fortführung der Debatte seiner Frau zu überlassen, aber all seine Winke und Blicke blieben unbeachtet. Sonja war der überlauten Unterhaltung nur stellenweise gefolgt, weil ihr Interesse viel mehr dem persönlichen Schicksal des Doktors, als seinen Ansichten galt. Sie wußte aus den Erzählungen ihres Mannes, daß Landau wegen des gleichen Vergehens einmal bereits mit knapper Not dem Kerker entgangen war – und suchte nach einer Möglichkeit, ihm zu verstehen zu geben, es wäre wohl klüger, Mutter und Kind mit einer ausreichenden Geldsumme zu helfen.

Das Schweigen, das seinem Geständnis folgte, brachte Landau in Verlegenheit. Er mißverstand das Verhalten der Baronin und wollte sie nicht bei dem Gedanken belassen, ein Menschenleben mehr oder weniger habe für ihn nicht viel Gewicht. Er war sich bewußt, gewissenhafter zu sein als die meisten Ärzte – wenn er sich dennoch entschloß, ein Dasein auszustreichen, statt es mit allen Mitteln der Wissenschaft zu erhalten, lag die Schuld nicht an ihm.

„In den zehn Jahren an der Frauenklinik hatte ich wahrlich Veranlassung genug, über dieses Problem nachzudenken“, entschuldigte er sich kleinlaut und blieb ganz nahe neben Sonja stehen. „Ich bin zwar gewiß nicht zum Töten da. – Aber wenn der Himmel es für gut findet, seine getreuen Diener mit Krankheit zu schlagen, heißt es nie, Gottes Wille müsse sich erfüllen. Die Frömmsten lassen sich operieren, weil ja auch unser Wissen und unsere Fähigkeit Gottes Gaben sind. Solange man die Kirchtürme mit Blitzableitern versieht, muß es erlaubt sein, jede Grausamkeit der Natur nach Kräften zu bekämpfen, die Qualen des Sterbenden abzukürzen und dem noch ungeborenen Kind die Not zu ersparen, die ihm nur von seinen Mitmenschen, nicht von der Natur zugedacht ist.“

Niemand gab Antwort. Die wiederholten Anspielungen Landaus auf die Gegnerschaft der Kraake, Hahn und Leitwitz hatten den Baron nachdenklich gestimmt. Die halb schon überwundene Unruhe meldete sich von neuern, er saß abseits vor dem Kamin und bemerkte die eingetretene Pause nicht.

Sonja war es aufgefallen, daß der Doktor nur von „Schöpfung“ – „Natur“ – „Vorsehung“ sprach und das Wort „Gott“ mit Absicht vermied oder, nur mit einem diskreten Fragezeichen versehen, anwandte. Sie war nicht bigott, ihr Mann und ihre Kinder hatten einen anderen Glauben, wenn sie in den letzten Jahren jeden Sonntag die Kirche besuchte, tat sie es mehr ihren flüchtigen Landsleuten zuliebe, als aus innerem Drang – aber der Hang der „russischen Seele“ zum Mystizismus und ihre Jugenderinnerungen hielten doch immer das leise Gefühl der Geborgenheit wach, das einst aus dem Licht der Wachskerzen um den Katafalk der Mutter in das erschrockene Kind eingeströmt war.

Was blieb einem Menschen, der keine Familie besaß und, mit aller Welt verfeindet, seinen eigenen Weg ging, wenn ihn nicht wenigstens das Vertrauen in eine höhere Gerechtigkeit aufrecht hielt? Ein Mann wie der Doktor rechnete nicht auf Lohn, aber es war doch ein schauriger Gedanke, ohne jede Kraftquelle, ohne Anerkennung, allein auf sich selbst gestellt, das Leben eines Streiters führen zu müssen.

Seit mehr als einem Jahrzehnt gezwungen, mit ihrem Mann, mit den Kindern und der Dienerschaft deutsch zu sprechen, hatte sie ihre einstige Gewohnheit, aus dem Russischen unwillkürlich ins Französische überzugehen, wenn das Gespräch eine ernstere Wendung nahm, längst eingebüßt. Diesmal verführte sie die ungewohnte Intimität nach erst zweitägiger Bekanntschaft doch wieder dazu. – Sie fühlte, daß die Gewissensfrage, die sie stellen wollte, eigentlich nicht am Platze war, und es fiel ihr leichter, sich französisch an den Doktor zu wenden: „Vous ne croyez donc rien?“

„Mais si, Madame!“ entfuhr es Landau. „Wo man nicht weiß – muß man wohl glauben. – Ein Vakuum im Gehirn verträgt kein denkender Mensch. An den strengen alten Herrn, der über Kirchenbesuche Buch führt und wie ein beschäftigungsloser Hausbesitzer seine Mieter mit Vorschriften drangsaliert, an diesen, nach dem Ebenbilde des Menschen erschaffenen Gott glaube ich allerdings nicht. Ich glaube auch nicht, daß mein Sein oder Nichtsein schwerer wiegt für die Kraft, die Sonne und Sterne kreisen läßt, als die Blume oder die Ameise, die wir im Vorbeigehen zertreten. Aber ungläubig bin ich darum nicht. Ich weiß, daß es für jeden Menschen nur zwei Wege gibt und daß keiner sich der Wahl entziehn kann, den einen oder anderen zu gehen. Wer hinter dem Wort, wie es geschrieben steht, auch das Gleichnis erfaßt, findet diese ewige Zweiteilung schon festgelegt in der Geschichte des Mannes, der vor seiner Schwelle steht und mit dem Fuße nach dem Erschöpften tritt, den wir Gottes Sohn nennen, weil er uns das Beispiel der Selbstaufopferung und der Überwindung der Ichsucht gab. – Warum schauen Sie mich so betrübt an, Baronin? Ob Sie Himmel und Hölle oder Gut und Böse sagen – die Aufgabe bleibt immer die gleiche und immer steht auf der Gegenseite der gleiche Feind, im Patriarchenbart des ewigen Juden oder mit dem Einglas des Herrn von Leitwitz im Auge, bereit, dem anderen jedes Opfer abzufordern für das eigene Wohlergehen. – Was könnte der Frömmste tun, das dem Schöpfer gefälliger wäre, als zu arbeiten an seinem unfertigen Bau, den zu vollenden alle Kräfte der Natur uns Menschen dienen müssen? Und ist es nicht Gotteslästerung, das herrliche Werk zu schänden. Denken Sie sich Ihr Kinderheim schon eröffnet, versehen auf das reichlichste mit allem – und Sie fänden nur einige Auserwählte glänzend untergebracht – den Rest in den Keller gepfercht, bei Brot und Kartoffeln? – –

Sehen Sie, Baronin, da ist nun mein Glaube unerschütterlich: wer in den Kampf gegen dieses Unrecht, in diesen Kampf für Gott – wenn Sie wollen, irgendwo – irgendwie sich einschaltet, der braucht den Tod nicht zu fürchten! Die jungen Burschen, die vielleicht nur Neugier, vielleicht nur Appetit auf meine Butterstullen zu mir führt – ein Ratschlag, ein Vorwurf, ein Beispiel wird schon an ihnen haftenbleiben, dem einen oder anderen in den Arm fallen, seine Frau, seine Kinder vor Roheiten schützen, und so fortwirken, wenn ich längst nicht mehr bin. Eine andere Unsterblichkeit wünsche ich mir gar nicht.“

Er hatte, ohne sich zu unterbrechen, wiederholt nach der Uhr gesehen und, von dem Stand der Zeiger beruhigt, weitergesprochen. Verzweifelt fuhr er sich plötzlich an den Kopf: „Himmel! Ich vergaß: Sie haben ja die Uhr angehalten! Und ich muß morgen vormittag in Berlin sein – die Frau bringt sich sonst um. Wenn es nicht anders geht, nehme ich ein Auto. – Warum haben Sie mich meinen Zug versäumen lassen?“

„Nur Ruhe, Sie erreichen ihn immer noch“ – beschwichtigte Mangien und fixierte erwartungsvoll seine Frau. Aber Sonja versuchte es gar nicht mehr, den Doktor zum Bleiben zu überreden. Der Diener lief, um das Gepäck herunterzuholen – der Baron ging unwillig hinaus, um nach dem Auto zu sehen – Landau schlupfte hastig in den Mantel und stammelte nur die üblichen banalen Dankesworte. Dann sprang draußen der Motor an und als das Geräusch verhallt war, wurde es auf einmal schmerzlich still im Hause. Warum hast du ihn nicht zur Bahn gebracht?“ – fragte Sonja eigentlich nur, um die drückende Last des Schweigens abzuschütteln. Damen begleitete Friedl selbstverständlich, zu welcher Zeit auch der Zug gehen mochte. – Der Doktor aber war weder alt genug noch gebrechlich, und keine Respektsperson – es hätte sie gewundert, wäre er mit großem Zeremoniell verabschiedet worden, und sie blickte überrascht auf, als ihr Mann sich ernsthaft entschuldigte.

„Er hat es um keinen Preis zugelassen. – Ein kurioser Heiliger! Mußte sich Geld von mir ausborgen für die Trinkgelder, so gründlich hat er sich zu Weihnachten aussacken lassen. Und da sagt man noch, der Apfel falle nicht weit vom Stamme!“

Gerührt von dem betrübten, mütterlich besorgten Gesichtsausdruck seiner Frau, trat er näher an sie heran. Und auf die ausgestreckten Arme gehoben, trug er die Überraschte behutsam die Treppen empor.

Über der Polsterung des Autos lag der leise Duft der Baronin. Der Doktor drückte den Kopf in die Ecke und dachte an die beiden Fahrten neben der merkwürdigen Frau, die ihn erst feindselig, beinahe gehässig empfangen und nun mit so aufrichtiger wohltuender Wärme entlassen hatte. Die trug das Herz nicht auf der Zunge – aber man durfte auf sie bauen. Mochten Trotz und gekränkte Eitelkeit ihr Anteil haben an der Wandlung des Barons – von seiner Frau geleitet, bedeutete sein guter Wille schon einen nicht zu unterschätzenden Gewinn.

Es war schön, daß der Tod des armen Abt auf diese Art nachträglich einen Sinn erhielt.

Der Doktor spannte seine ganze Willenskraft an, um die beschämende, erbärmliche Feigheit nicht wieder in sich erwachen zu lassen. – Wem das Leben eines anderen kein zu hoher Preis schien, verging sich an den Toten, wenn –

Die breiten Straßen des vornehmen Villenviertels waren ausgestorben, ein schütterer Nebel dampfte über dem feuchten Band des Fahrdammes, die Häuser blieben unsichtbar hinter den Gärten, nur die Eisenstäbe der Umzäunung blitzten auf im Lichte der schaukelnden Bogenlampen, gespenstisch, als präsentierten unsichtbare Soldaten ihre Lanzen.

Im Innern des Wagens brannte das Deckenlicht. Der Doktor ertappte sich dabei, daß seine Hand unwillkürlich nach dem Schalter haschte. Er wollte das nicht und preßte den Arm gewaltsam an den Leib. Er wollte nur harmlose Passanten sehen in den verdächtigen Gestalten, die weitab im Nebel schwebten.

Und doch!

Blitzschnell sog das Auto eine sonderbar zerstreute Gruppe an sich heran. Es gelang dem Doktor noch, an den nächtlichen Ulk Betrunkener zu glauben – dann aber sah er schon von beiden Seiten Männer auf das Trittbrett springen und den Chauffeur unter einem Sack, der ihm über den Kopf gestülpt wurde, verschwinden.

Landaus Körper klebte mit Zentnergewicht am Sitz. Wie durch die Zeitlupe gesehen, so qualvoll schleppend und scharf bohrte jede kleinste Einzelheit sich ins Gehirn – bis endlich der rohe Befehl: „Komm ’raus!“ Stolz und Kraft in die gelähmten Glieder strömte.

„Lassen Sie mich los! Ich steige schon aus.“

Aber im Freien, in die Mitte der nebelverhängten Straße geschleift, zuckte doch der Wunsch zu fliehen in die Kniekehlen. Todesangst stieß bis zu den Gedärmen tief, hielt den Herzschlag an und umkrallte die Kehle, so daß Atem und Blut in dem noch unversehrten Körper stockten. – Gierig schraubten sich die Augen an jeden Gegenstand, an Räder, Schuhe, Bogenlampen fest, als wollten sie rasch noch die Welt eintrinken, ehe der Tod sie auf den Scherbenhaufen warf.

Dann barst endlich der Boden auf, Feuersäulen schlugen aus Stirn und Augen – schon hingestreckt auf den glitschigen Fahrdamm, hob der halb Bewußtlose den verschleierten Blick und sank getroffen zurück auf das dunkle Kissen, das ihm sein eigenes Blut unter das Haupt schob.

V.

Noch spiegelten sich die Hamburger Straßenlaternen in der langsam erstarrenden Blutlache, als die Nachricht von dem „tragischen Tode“ des Sohnes den Vater im Grunewald erreichte.

Versteckt hinter dem ungastlich wuchernden Ästegewirr der Föhren, das der Gärtner nie lichten durfte, eine breite Landzunge von rechtzeitig aufgekauften Baugründen gegen die Kolonie vorgeschoben, ragte der schwarze Würfel der Villa so abseitig in die Nacht, wie ja auch ihr Besitzer sich abseits hielt, allein in dem abgestorbenen Haus, das mit seinen dunklen Fensterreihen eher dem Mausoleum als dem Heim eines reichen Mannes glich.

War sein Arbeitstag in der Bank zu Ende, so wollte der geheime Kommerzienrat Landau, der gefürchtete Präsident der Deutschen Bodenbank, nichts mehr mit Welt und Menschen zu schaffen haben. Was bedeutete sie ihm auch, seit die Tochter geheiratet und der einzige Sohn den Vater verstoßen hatte? Verstoßen, jawohl, das gab es! – „Enterbt“ wäre vielleicht noch treffender gewesen. Wer für das Glück der ganzen Menschheit sorgte, durfte sich nicht um den Vater kümmern, verschmähte sein Geld, weil daran der Schweiß der Armen klebte, die dem Herzen des Sohnes näherstanden.

Vereinsamt, alt und krank, werkte der bald Siebzigjährige nur weiter, wie der geschleuderte Stein über das verfehlte Ziel hinaus fliegt und nicht zur Erde hinab darf, ehe nicht die mitgegebene Kraft restlos aufgezehrt ist. Der Geheimrat Landau diente seinem Geld, weil der Mensch nichts besitzen kann, was ihn nicht auch besitzt, und nur ausruht, wenn er sterben muß – oder sterben muß, wenn er ausruhen will. Was hätte der alte Mann mit sich anfangen sollen, ohne die hohe Stellung, die ihn am Verhandlungstisch und im Präsidentenstuhl auszuharren zwang?

Saß er dann abends im leeren Helm, die Flucht der unbewohnten Zimmer als Schutzwall um sich, verschanzt auch noch unter dem eigenen Dache, dann erst legte er die Maske ab, lauschte wehmütig seinen Erinnerungen, die ringsum im Hause geisterten – duldete niemanden in der Nähe, hatte selbst die Glockenleitung zur Dienerkammer nur widerstrebend der Tochter zuliebe bewilligt, stolz auf das Recht, alles von sich ferne zu halten. Vierzehn Jahre waren vergangen seit der Trennung vom Sohne, vierzehn Jahre lang hatte der unbelehrbare Schwärmer die „Menschheit“ gefüttert mit seinem Fleisch und Blut, hatte sie verteidigt gegen Unrecht und Ausbeutung, und lag nun erschlagen im Straßenschmutz, würdig entlohnt für seine Dienste, nach dem uralten, unabänderlichen Tarif, der für Weltbeglücker und Weltverbesserer nur eine Bezahlung kennt: den frühen Tod.

Zusammengesackt in dem großen Lehnstuhl, das Kinn auf der Brust, die rechte Hand noch immer auf dem Fernsprecher, der ihm die furchtbaren Worte ins Hirn geknallt hatte wie Schüsse, kauerte der alte Mann reglos, mit trockenen Augen und leerem Blick.

Schonend, in kleinen Tropfen, war dem Vater die Nachricht ins Ohr geträufelt worden, mit Versicherungen aufrichtiger Teilnahme, versteht sich. Und zuletzt – wahrhaftig, zuletzt hatte man sich gar bemüßigt gefühlt, um „Verfügungen“ zu ersuchen, um „Verfügungen betreffs der Leiche“! Wie freundlich, daß über die Leiche wieder der Vater „verfügen“ durfte, da die „Menschheit“ keine Verwendung mehr hatte für das zerschlagene Spielzeug.

Glühende Bitterkeit schnürte dem Alten die Kehle ab, daß er im Lehnstuhl sich krümmte und mit weißen Lippen nach Luft schnappte.

Nein! Er dachte nicht daran, den Leidtragenden zu spielen, fünfzehn Jahre, nachdem der Sohn sein Leben von dem des Vaters gelöst hatte. Die „Stimme des Blutes“ hatte nie gesprochen in dem Blut, das jetzt auf einer Hamburger Straße versickerte. – Zu weichherzig, um an fremder Not vorbeizuleben, überquellend von Mitgefühl und Hilfsbereitschaft für jeden Unbekannten, nur gegen den eigenen Vater unerbittlich, nur gerade für den Schmerz des Vaters taub, sollte er nun begraben werden, wie er gelebt hatte.

Starr aufgereckt im Stuhl, die Maske des Bankpräsidenten vor das zerwühlte Gesicht geschoben, drückte der welke Greis mit fester Hand auf den Klingelknopf und legte einen Briefbogen vor sich hin. Er wollte die Tochter schonen: der nächtliche Anruf hätte ihr Schrecken eingejagt. Brachte der Diener einen Brief hinüber, so konnte der Schwiegersohn geweckt werden: seine Frau erfuhr die Nachricht immer noch früh genug.

„Der Herr Geheimrat haben geklingelt?“

Dreimal wiederholte der Kammerdiener die Frage, ohne daß der Alte auch nur aufgeblickt hätte.

Im kleinen Lichtkreis der Schreibtischlampe schwebte das gelb-gedörrte, zerfurchte Gesicht wie versteinert, kein Zucken der entzündeten Lider verriet, daß es, von einem lebendigen Körper getragen, aus dem Dunkel ragte. Hätte der ostpreußische Bauernknecht, dank seiner Dienstzeit als Offiziersbursche in den herrschaftlichen Beruf emporgelangt, je von Rembrandt gehört, er hätte das reglose Bild für den Charakterkopf eines alten Amsterdamer Juden halten können, mit den dicken, leuchtenden Farbenkrusten des Meisters auf die teerige Schwärze des Hintergrundes geworfen.

Aber die unsinnige Behauptung, die Bildnisse alter Juden würden, in goldene Rahmen gespannt, in Museen ausgestellt, wäre als schlechter Scherz verlacht worden von diesem Bauern von der Ostgrenze des Reiches, wo die Kinder mit Steinen warfen nach jedem schmutzigen Kaftan. Verwandte und Freunde im Heimatdorf durften es nicht erfahren, daß der hohe Lohn aus der Tasche eines alten Bankjuden floß – das Kammerdiener-Pedigree wäre für immer befleckt, die Anstellung bei einem Gutsbesitzer der Heimat nie mehr erreichbar gewesen.

Von der Lampe geblendet, im Schutze der respektvollen Haltung damit beschäftigt, den Hochmut seines Herrn mit heimlichen Flüchen und Beschimpfungen zu vergelten, bemerkte der Diener den glänzenden, schmalen Spalt unter den geschwollenen Lidern nicht. Wie durch Glas drang der Blick des erfahrenen, gefürchtet scharfsichtigen Greises in den harten Bauernschädel. las jeden Gedanken unter den blonden Borsten, folgte den Konturen der hühnenhaften Gestalt, bis hinunter zu den schweren, plumpen Bärentatzen, die nur Geldgier fest an die kräftigen Schenkel heftete.

Wie hätten auch sie begeistert losgedroschen auf den wehrlosen Juden im Dunkel der Hamburger Straße! Ihr Schatten, von der Lampe an die Wand geworfen, quoll auf, als wären sie von Boxerhandschuhen umhüllt. Wie mußte das schmale, blasse Stubenhockergesicht, zerhämmert von solchen Fäusten – – –

„Warten Sie draußen, bis ich sie rufe!“

Es klang nicht wie sonst, knapp und herrisch: eine Drohung eher als ein Befehl, aus haßverschnürter Kehle aufbrechend, fegte der heisere Wutschrei den Diener wie ein Windstoß aus dem Zimmer. An die Tür gedrückt, horchte er mißtrauisch, eingeschüchtert von dem ungewohnten Anblick des verzerrten, zornentstellten Gesichtes.

Auch der alte Mann lauschte zitternd, genarrt vom Brausen seiner aufgepeitschten Pulse. Da, hinter der Wand, im anstoßenden Zimmer war der Sohn aufgewachsen. Im ganzen Hause lebten die einstigen Spuren des Toten auf, seine Stimme, sein Lachen hallte wieder durch alle Räume, selbst der verstaubte Flügel, unten, im versperrten Salon, erwachte aus seinem Dornröschenschlaf, und die unsicheren Griffe der kleinen Kinderhand krallten die ersten Takte einer längst vergessenen Etude in das zuckende Vaterherz.

Mit zusammengebissenen Zähnen, den lippenlosen Greisenmund von verschluckten Tränen verzerrt, zwang Geheimrat Landau seine Gedanken zu dem begonnenen Brief zurück, überflog den ersten Satz und umklammerte den Federstiel wie einen Balken. Vergebens! Er ließ ihn doch wieder fallen und brach in sich zusammen, überwältigt von dem selbstgeschriebenen Wort: „erschlagen“.

Er-schlagen?“

Ein befreites Raubtier sprang der entschleierte Sinn aus dem Papier. „Er-schlagen?“ – Das hieß: immer weiterschlagen, in das blutüberströmte, schmerzverzerrte Gesicht immer noch hineinhämmern – immer wieder und wieder ausholen mit Fäusten, Stöcken, Knüppeln.

Der Alte wollte aufspringen, der schrecklichen Vision entfliehen. Er begrub das Antlitz in den Händen, schloß die Augen, und sah es doch, das blutverkrustete, zertrümmerte Duldergesicht, als wäre es in die Innenwand seiner Lider tätowiert.

Wie hatten sie es zugerichtet, das gläubig begrüßte, krebsrote Gesichtchen, das so klein und runzelig in der Wiege gelegen war, vom Atem der Zeit gedehnt und geglättet – – zu früh, viel zu früh von den ersten Denknarben gestriemt – – und nun – – nun ganz zertrümmert – – –

Feucht glitzernd im Lampenlicht, begann die Schrift auf dem Briefbogen sich rot zu verfärben, das Rufzeichen hinter der Ansprache ragte auf wie ein Knüppel – die Feder war über das Papier gerollt, die Kleckse schwollen zu Blutlachen an, flossen zusammen, überschwemmten die ganze Tischplatte. Wie aus einem offenen Hahn tropfte das Blut über den Rand, jeder Tropfen ein dumpf dröhnender Schlag auf den Kopf des Sohnes, der, wieder Kind geworden, hilflos um Beistand wimmerte.

„Heinrich!“ –

Aus unerforschlicher Tiefe spülte ein Schluchzen den Schrei des Urwaldtieres um sein Junges hervor, ein gurgelndes Wutgebrüll, so durchzittert von Weh, daß der Diener die Türe aufriß und hereinstürzte, gerade rechtzeitig, um den Taumelnden aufzufangen.

Aber die griffigen Pranken, die ihn zu berühren drohten, gaben dem halb ohnmächtigen Alten seine Kraft zurück. – Er stieß mit den zitterigen Greisenhänden den blonden Hünen vor die Brust und schrie mit ekelverzerrtem Mund:

„Rühren Sie mich nicht an! – Hände fort! Hinaus! – Hände fort!“ –

Bleich vor Schrecken stolperte der Diener die Treppen hinunter und rief bei Justizrat Rilla an, die Herrschaften möchten herüberkommen, aber sofort, mit dem Herrn Geheimrat sei es nicht ganz richtig.


Sieben Tage!

Auf Stunde und Minute war eine einzige kurze Woche vergangen, seit der Baron den gleichen Weg zum Bahnhof, zu demselben Berliner Schnellzug sich geeilt hatte, der nun die Leiche des Doktors mitführen sollte. Sieben Tage? – War es möglich, daß in sieben Tagen so vieles geschehen, ein Mensch erschossen, ein anderer verhaftet und erschlagen werden konnte, nur um der Laune eines Dritten willen? Nur weil der Baron Mangien die Christnacht bei der Geliebten hatte verbringen wollen?

Finster vor sich hinbrütend, blaß und übernächtig, saß Mangien neben dem Chauffeur, unfähig, sich abzufinden mit der Sinnlosigkeit des Schicksals, das ihn zum Mörder zweier unschuldiger Menschen machte. Hinter ihm im Wagen bemühte sich Sonja, den verzweifelten Ewald aufzurichten, den der Anblick des zerschmetterten, blut- und schmutzbesudelten Gesichtes im Sarg buchstäblich niedergeworfen hatte.

Das Beispiel Ewalds diente als Warnung. – Es galt, die Selbstbeherrschung nicht zu verlieren und die Kräfte aufzusparen für den Feldzug gegen die Mörderbande, die nicht ungestraft entkommen sollte. Mochte es der Familie des Toten erwünscht sein oder nicht, und allen Vertuschungsversuchen der Behörden zum Trotz, diesmal mußten die Schuldigen dran glauben. Daß es kein leichter Kampf sein werde, sah der Baron voraus, gewitzigt durch die Berliner Erfahrungen. Ohne die Aufgabe, den Doktor zu rächen, hätte er sich kaum besser gehalten wie Ewald, der sich schon für mitschuldig hielt, weil er die Abreise nach Hamburg betrieben hatte!

Am Bahnhof war es keine leichte Aufgabe, den Güterwagen mit dem schon verlöteten Metallsarg Doktor Landaus aufzufinden. Justizrat Rilla, als Beauftragter der leidtragenden Familie, hatte es glänzend verstanden, die Protektion der Behörden auszunützen. Der Wunsch, die Ausschrotung des traurigen Falles als Sensation zu verhindern, war allen Beteiligten gemeinsam. In wenigen Stunden war die Leiche freigegeben, der Sarg beschafft und die ausnahmsweise Bewilligung der Bahndirektion erwirkt worden. Die Ankoppelung des Waggons an den fahrplanmäßigen Schnellzug hatte selbstverständlich durchaus unauffällig zu erfolgen. Weit draußen, mitten in das Gewirr der Eilgutbeförderung hineingeschoben, wartete versteckt, von allen Seiten gegen Sicht geschützt, was von Doktor Heinrich Landau, dem beredsamen, ungerne verabschiedeten Gast des Vorabends, noch übrig war. Hätte der Justizrat freie Hand gehabt und nicht den unangebrachten Gemütsreservaten des Vaters und der Schwester Rechnung tragen müssen, die Reste wären an Ort und Stelle in aller Heimlichkeit eingeäschert worden.

In dieses Programm Rillas paßte der angekündigte Kondolenzbesuch Mangiens auf dem Bahnhof durchaus nicht. Aber die gesellschaftliche Stellung des Ehepaares erforderte, besonders in Hamburg, einen dankbaren Empfang im Namen der Leidtragenden und zugleich sehr viel Vorsicht. Der Justizrat beeilte sich denn, die ratlos umherirrenden Gäste rasch in den Waggonpark hineinzulotsen, machte die Honneurs mit dem gebotenen Ernst und übersah die Anwesenheit Ewalds, der, vom Chauffeur über die glitschigen Geleise geleitet, weit zurückgeblieben war.

Als auch die Baronin ein wenig außer Hörweite gelangte, benützte Rilla die Gelegenheit, um seine persönliche Einstellung unzweideutig zu formulieren: „Was wollen Sie? Meinem armen Schwiegervater hätte der Schlag erspart bleiben dürfen. Aber es wäre bestimmt noch schlimmer gekommen, wenn ...“

Der Justizrat traute seinen Ohren nicht, als der ihm wohlbekannte Besitzer der Mangien-Werke mit der unwahrscheinlichen, entschlossenen Drohung herausrückte, nicht ruhen zu wollen, ehe die „Mordbuben“ ausgeforscht und der verdienten Bestrafung zugeführt worden wären. Was sollte das heißen? Es verriet schon reichlichen Mangel an Taktgefühl, mit einem mächtigen Kranz am Bahnhof zu erscheinen und so die Durchführung des heimlichen Abtransportes zu erschweren! Wie aber kam ein Außenstehender dazu, entgegen dem Wunsche der Familie, sich zum Rächer aufzuwerfen? – Bedauerlicherweise mußte die Aussprache unterbleiben, weil eine sonderbare Gruppe sich dem Waggon näherte, auch diese wieder mit einem Kranz behaftet, dessen blutrote Schärpe stilvoll Haltung und Kleidung und den schlurfenden, schwerfälligen Gang der „Deputation“ ergänzte.

Das fehlte gerade noch! Den Toten als Märtyrer des Proletariats ehren zu lassen, womöglich mit Dankesworten die schwieligen Arbeiterfäuste schütteln zu müssen – nein, so weit ging die Verpflichtung der Familie gegenüber denn doch nicht! Da konnte nur schleunige Flucht helfen.

„Verzeihung! Es sind nur mehr elf Minuten bis zur Abfahrt des Zuges! Die Leute vergessen wohl, den Waggon abzuholen. Vielleicht kann ich nachher –“

Mangien blickte dem Davoneilenden nach, bis die hohe, steife Gestalt verschwunden war. Welcher erschreckende Gedanke, diesem kaltherzigen, selbstgefälligen Menschen zu gleichen, der sein Ich wie eine Rolle, immer nur auf Wirkung und Erfolg bedacht, sich vorspielte. Wie durch einen umgekehrten Feldstecher gesehen, so weit fortgerückt und klein war jetzt dieser ganze Gesellschaftskreis. – –

Gerne hätte der Baron einige Worte an die verlegen umherstehenden Arbeiter gerichtet, die, barhaupt, die Hüte in den schweren Händen drehten, unentschlossen, ob sie gehen sollten oder noch bleiben. Jeder einzelne erinnerte Mangien an die Gestalten draußen im Wohnviertel Karl Abts. Es war bedrückend, beinahe schmerzlich zu beobachten, wie lähmend die Gegenwart des Reichtums auf die Leute wirkte – selbst der Kranz schien ängstlich weit ab, an das Fußende des Sarges gelehnt zu sein, um ja nicht den anderen, zu Häupten des Toten, zu berühren.

Sonja half beiden Teilen aus der peinlichen Ratlosigkeit, mit der Bitte, die schwere Wagendecke aus dem Auto zu holen und Ewald in den Waggon hinaufzuhelfen, da er durchaus nicht davon lassen wollte, in dem ungeheizten, schlecht schließenden Güterwagen bis Berlin mitzufahren. Sofort kam Leben in die Gruppe. Beschäftigungslos dastehen und sich anschauen lassen, machte die Leute hilflos – da sie etwas tun durften, hatten sie gleich ihre Sicherheit wieder, zogen und schoben den kraftlos Torkelnden in den Wagen und wickelten ihn sorgfältig in die Decke.

„Machen Se bis Berlin mit? Denn sehn Se sich nur vor!“ – warnte mit bedenklichem Kopfschütteln der Eisenbahner, der dienstlich den Sarg zu begleiten hatte. Ihm selbst wurden nur zwei zerlumpte Kotzen hinaufgereicht. Aber für den „Herrn“, als den er Ewald ansah, schien ihm die viel wärmere Ausrüstung zu mangelhaft.

Der Baron wandte sich ab und stampfte einige Schritte weit weg, als wollte er sich erwärmen. Seit er den Sarg seiner Mutter knirschend in die Gruft sinken gesehen hatte, war ihm der Tod nicht mehr so hart an den Leib gerückt. Das Gefühl, er müßte dem Doktor noch einmal die Hand drücken, ihm zum Abschied feierlich versprechen, er werde in anderen fortleben und -wirken, wie er es sich gewünscht – der ewige Schmerz, Versäumtes nicht mehr nachholen zu können, trieb ihn zu der Leiche zurück.

Als er sich umwandte, hätte er beinahe aufgeschrien. Wo eben der Waggon mit dem Sarg gestanden hatte, quoll nun schon der Nebel zusammen. Nur das rote Lämpchen des Rangiergehilfen blinkte noch einige Male auf, von unsichtbarer Hand geschwungen.

Nachwort

Als im Mai 1933 die Nazis deutsche Bibliotheken von schädlichem Schrifttum befreien, steht auch die Literatur des Schriftstellers Andreas Latzko auf der schwarzen Liste. Er ist als linker Pazifist aktenkundig. Die Säuberung ist von deutscher Gründlichkeit, das Gesamtwerk Latzkos verschwindet aus den Bibliotheken und der Autor aus dem Gedächtnis der Nachwelt – zumindest im deutschsprachigen Raum. In den Niederlanden dagegen, dort wo Latzko die letzten 12 Jahre seines Lebens gelebt und gearbeitet hat, wird ihm 1948, fünf Jahre nach seinem Tod, auf dem Friedhof Zorgvlied ein Denkmal errichtet, und Texte von und über ihn werden bis in die 1960er Jahre verlegt.

Sieben Tage

Berlin, zweite Hälfte der 1920er Jahre, in der Weihnachtswoche. Der Hamburger Automobilfabrikant Baron Mangien will die Feiertage nicht daheim bei seiner Frau verbringen, sondern in der Hauptstadt bei seiner Geliebten. Der Fabrikmechaniker Karl Abt sieht Mangien zufällig bei der Ankunft. Er hasst den Fabrikanten, macht ihn verantwortlich für den Tod seiner Mutter, späht ihn aus, will ihn erpressen. Nicht ums Geld geht es Abt, sondern um Rache, um Demütigung: Drei Tage lang will er die Rollen tauschen, als reicher Industrieller leben und wichtiger noch, Baron Mangien soll drei Tage als Prolet leben.

Kein Weihnachtsmärchen, der erpresste Rollentausch endet tödlich, und es beginnt ein Justiz- und Polit-Thriller und eine erzählerische Versuchsanordnung, die jene Klassengegensätze und ideologischen Frontlinien aufzeigt, die einige Jahre später zum Untergang der ersten deutschen Republik führen werden. Und: Sieben Tage ist ein Ideenroman, in dem die zentrale Figur des Armenarztes Landau eine antiideologische, pragmatische Humanität verkörpert und gegen die Verhältnisse mit seinem Leben einsteht:

„Herr Doktor sind also Kommunist?“ [...] „Ich habe nichts mit Kommunismus, mit Sozialismus oder Kapitalismus, überhaupt mit keinem ,Ismus‘ etwas zu tun!“ bemerkte er nur so nebenher, den Kopf im Wäscheschrank vergraben. „Mich kümmern nur die Menschen. Wer mit einem ,Ismus‘ beschäftigt ist, hat für die Menschen keine Zeit. [...]“

Über die literarische Qualität von Sieben Tage kann man streiten und sich jetzt auch wieder ein eigenes Bild machen. Präzise Milieustudien und psychologische Differenzierungen, gar avantgardistische Erzählkunst sind die Sache von Andreas Latzko nicht. Aber er ist durchaus auf Augenhöhe mit den gesellschafts­kritischen Schriftstellern der späten Weimarer Republik: Erich Kästner mit seinem Fabian (1931) oder Hans Fallada mit Kleiner Mann – was nun? (1932).

Lebenswege eines Europäers

Andreas Adolf Latzko, ungarisch Latzkó Adolf Andor, wird am 1. September 1876 in Budapest geboren. Der Sohn wohl­habender Eltern – der Vater ungarischer Banker, die Mutter Wienerin – wächst zweisprachig auf, besucht Schulen in Budapest und Stuttgart.

Auf väterlichen Wunsch nimmt Latzko ein Studium der Chemie in Budapest auf, später – wohl nicht auf väterlichen Wunsch – ein Studium der Philosophie in Berlin, arbeitet einige Zeit in einer Budapester Bank. Das alles führt zu nichts, der Bankierssohn will reisen, vor allem aber schreiben, das Theater fasziniert ihn. Erste Stücke werden an Budapester Bühnen aufgeführt, bevor Latzko auf Zureden Max Reinhardts wieder nach Berlin geht und fortan auf Deutsch schreibt. Drei Stücke werden 1902 bis 1911 an Berliner Bühnen inszeniert, mit wechselndem Erfolg. Zwei Romane – Der Roman des Herrn Cordé (1906) und Der wilde Mann (1913) – erscheinen vor dem 1. Weltkrieg.

Im Krieg kämpft Latzko als Leutnant des k.u.k. Feldartillerie-Regiments Nr. 15 an der Isonzofront bis er im September 1915 einen – wie er es selbst später beschreibt – Granatenschock erleidet, heute spricht man von einer Posttraumatischen Belastungsstörung, seinerzeit vom „Kriegszittern“. Romain Rolland hat Latzko später dazu befragt:

Ich fragte Latzko, ob er verwundet worden sei. Nein. Er hatte einen schweren Nervenschock. Er hat gesehen, wie zwei Ochsen und drei Männer von einer Granate in Stücke gerissen wurden. Im ersten Augenblick spürte er nichts. Aber zwei Tage später, als man eine Platte mit noch blutigen Steaks auf seinen Tisch stellte, begann er zu heulen, spie, wurde von Krämpfen geschüttelt. Sechs Monate lang zitterte er am ganzen Leib und verweigerte jede Nahrung [...].

Latzko, abgemagert auf 39 Kilo, wird in verschiedenen Spitalen behandelt, schließlich beurlaubt. Einen Kuraufenthalt in Davos nutzt er, um Erzählungen vom und gegen den Krieg zu schreiben. Sie erscheinen anonym in verschiedenen Schweizer Zeitungen und Zeitschriften, darunter in der von René Schickele herausgebenen Zeitschrift Die Weißen Blättern. Sechs Erzählungen gibt der Züricher Verleger Max Rascher 1917 als ersten Band seiner Sammlung Europäische Bücher heraus: Menschen im Krieg. Der Band ist ein mittlerer Verkaufserfolg (33.000 Exemplare werden bis 1919 verkauft). Zahlreiche Übersetzungen erscheinen und machen Latzko zu einem der bekanntesten europäischen Pazifisten, gut vernetzt mit der intellektuellen Elite Europas: Henri Barbusse, Romain Rolland, Stefan Zweig, Hermann Bahr, Heinrich Mann, Georg Brandes u.a. kennen und schätzen Latzko.

Durch Verbleib in der Schweiz entzieht sich Latzko einem weiteren Kriegseinsatz, das Militär straft ihn mit Degradierung. Nach dem Krieg verbringt die Familie Latzko ein Jahr in Alassio an der ligurischen Küste, das glücklichste Jahr seines Lebens sei das gewesen, sagt seine Frau Stella später. Hier schreibt er u.a. seine Novelle Marcia Reale, die 1932 von Wieland Herzfelde in seine Anthologie Dreißig neue Erzähler des neuen Deutschland aufgenommen wird (auch die Anthologie steht auf den Listen der Bücherverbrennungen).

In Salzburg (1920-1931)

1920 lassen sich die Latzkos in Salzburg nieder. Andreas veröffentlich Feuilletons und Erzählungen in verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften im deutsch­sprachigen Raum.

Von 1925 bis 1927 arbeitet er an seinem Roman Sieben Tage, von einer „schweren Geburt“ spricht er selbst. Überschattet wird die Arbeit von einem Todesfall. Sohn Paul, der in München in der Automobilindustrie schafft, verunglückt 22-jährig im Sommer 1925 bei einem Motorradausflug an den Starnberger See. Latzko widmet den Roman seinem verstorbenen Sohn.

Er hat Mühe, einen Verleger für die deutschsprachige Ausgabe des Romans zu finden. Erst als bereits Übersetzungen ins Englische, Niederländische und Norwegische auf den Weg gebracht bzw. schon erschienen sind, findet sich der Wiener Krystall Verlag zur Herausgabe bereit.

Die internationale Resonanz ist seinerzeit eher zwiespältig. In der niederländischen Presse erscheinen hymnische Besprechungen, ein „stetes Vergnügen“ sei es, sich von der „Meisterhand“ dieses Erzählers durch die „abenteuerliche Spannung“ des Romans führen zu lassen, vermeldet der Kritiker des sozialdemokratischen Voorwaarts (13. November 1930, S. 16). „Ein Thriller“ sei das, „aber einer von der guten Sorte“, der „außergewöhnlich gut geschrieben“ sei und an das soziale Gewissen des Lesers appelliere, schreibt der Kritiker der auf Java erscheinenden De indische Courant (24. Januar 1931, S. 17).

Alles andere als begeistert zeigt sich hingegen Louis Kronenberger in der New York Times, ein schlechter Roman sei das, aber „(und das ist Lob und Tadel zugleich) ein interessantes Buch“:

Wie alle belehrende Literatur behauptet es etwas, aber zeigt es nicht. Durchdacht und gut geschrieben wie es in vielerlei Hinsicht sein mag, ist es doch keine Kunst und noch weniger ist es das Leben. Es ist eine Predigt, aber eine Predigt, die nicht zu verachten ist. (New York Times, 19. Juli 1931).

Möglicherweise in Reaktion auf die Schwierigkeit einen Verleger für die deutsch­sprachige Ausgabe zu finden, schreibt Latzko eine wütende Verteidigung der engagierten Literatur. Die Polemik Die Desorientierung der bürgerlichen Literatur erscheint 1931 in der sozialistischen Monatsschrift Rote Revue:

Die Angst, auf die falsche Karte zu setzen, lähmt die Unternehmungslust der bürgerlichen Dichtkunst und ihrer Verleger. Damit ist aber auch schon das Urteil über ihre ganze Produktion gefällt. Denn wie immer die Zukunft sich wendet, das Drückebergertum des „l’art pour l’art“, die Scheuklappen­kunst, für die neun Zehntel der lebenden Menschheit mit all ihren Nöten nicht existiert, diese par excellence bürgerliche Literatur der kaltgezeugten Poesie kann nicht wiedererstehen. Es gibt keine, es hat nie eine tendenz­lose Kunst gegeben, weil der wirkliche Dichter immer nur Instrument ist; ob Leid oder Freude der Kreatur, die Saite, die klagt oder jubelt, ist über den ganzen Erdball gespannt, der Resonanzboden, den sie braucht, ist ein großes menschliches Herz.

In Amsterdam (1931-1943)

Im gleichen Jahr, in dem Sieben Tage in der deutschen Originalfassung erscheint, siedelt Familie Latzko nach Amsterdam über. Der Umzug hat private Gründe, in Amsterdam wohnt bereits Sohn Willy. Zudem war Latzko auf einer ersten Lesereise durch Holland acht Jahre zuvor äußerst freundlich aufgenommen worden. Sicher spielt auch die politische Entwicklung in Österreich eine Rolle für den Entschluss, Salzburg zu verlassen. Bereits 1923 war in der rechtskatholischen Salzburger Chronik ein Hetzartikel gegen den linken Pazifisten erschienen und Jungnazis hatten ein Bild von ihm, das im Salzburger Hotel Österreichischer Hof hing, mit zwei Schüssen zerstört.

In Amsterdam stellt er eine Romanbiographie des Revolutionshelden Lafayette fertig, Lafayette – Der Held zweier Welten, veröffentlicht 1935 gleichzeitig in Deutsch und in englischer, französischer und niederländischer Übersetzung. Für Radio Hilversum schreibt er Hörspiele, vereinzelt erscheinen Zeitungsartikel. Das Fragment einer Autobiographie, das seine Frau fortschreibt, wird postum ausschließlich in nieder­ländischer Übersetzung herausgegeben (Levensreis, 1950).

Am 15. Mai 1940 marschieren Soldaten der Wehrmacht in Amsterdam ein. Latzko verlässt zwei Tage später seine Dreizimmerwohnung am Merwedeplein zum letzten Mal, sucht mit seiner Frau einen Anwalt auf, um finanzielle Angelegenheiten zu regeln. Bis zu seinem Tod geht er dann nicht mehr auf die Straße, verbringt die Tage – zunehmend krank – im Bett, empfängt aber noch Besucher. In der Nachbarschaft am Merwedeplein wohnt zu dieser Zeit noch Anne Frank mit ihrer Familie. Latzko hofft, dass die Deutschen nicht wissen, dass er hier wohnt. Als ein holländischer Polizist bei einer Razzia auch die Wohnung der Latzkos nach versteckten Juden durchsucht, lässt er sich die ungarischen Pässe zeigen, weiß aber nicht, mit wem er es zu tun hat. Im September 1943 verschlechtert sich Latzkos Gesundheitszustand rapide, sein Arzt versucht vergeblich mit Bluttransfusionen zu behandeln. Am 11. September 1943 stirbt Andreas Latzko.

Neuausgaben nach dem Krieg

Jahrzehnte lang waren die Werke Latzkos kaum mehr zugänglich. Zum 50. Todestag, 1993, veröffentlicht Janós Szabó im Verlag des Südostdeutschen Kulturwerks eine Auswahl von Artikeln und Erzählungen. Von Sieben Tage hält Szabó im Übrigen nichts, „trotz des zweifelsohne noblen sozialen Ansatzes“ gehe der Roman „kaum über Trivialliteratur hinaus“. Ich glaube, da vertut sich Szabó.

Der gesamte Text von Menschen im Krieg wird 2011 von Jens Sadowski bei gutenberg.org neu veröffentlicht. Das Gedenkjahr an den Ausbruch des 1. Weltkrieg sorgt 2014 dafür, dass Latzkos Antikriegserzählungen auch wieder in gedruckter Form lieferbar sind: Der Milena Verlag und der Elektrische Verlag bringen jeweils eine Neuausgabe heraus.

Der Roman Sieben Tage wird hier erstmals seit 1931 wieder veröffentlicht.

Textgestalt und Rechtliches

Die Textgestalt dieser Ausgabe folgt der Originalausgabe von 1931. Orthographie und Interpunktion sind unverändert übernommen, nur ganz offensichtliche Druckfehler sind stillschweigend korrigiert. Im Zweifel folgt diese Ausgabe der originalen Textgestalt.

Der Text von Sieben Tage ist nach Auffassung des Herausgebers gemeinfrei, da die Schutzfrist nach § 64 Urhg – siebzig Jahre nach dem Tod des Urhebers – abgelaufen ist. Bei der Verwendung bedenken Sie bitte, dass Sie für die Rechtmäßigkeit der Verwendung selbst verantwortlich sind. Aus der Tatsache, dass der Herausgeber davon ausgeht, dass der Text nach deutschem Urheberrecht gemeinfrei ist, können Sie nicht folgern, dass dies für eine Verwendung unter der Rechtsordnung, unter der ihre Verwendung steht, gilt. Dementsprechend kann der Herausgeber nicht für etwaige Rechtsfolgen einer Weiterverwendung haftbar gemacht werden.

Diese Ausgabe und der Text des Nachworts steht unter einer Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 Deutschland Lizenz. Gestaltung des Titels der Neuausgabe unter Verwendung von Lovis Corinths Gemälde Ecce Homo, 1925.