Kulturraum NRW


Die Saison 2016/2017: Neuere und neueste Opern in NRW

Die Vorschau

Was gibt es in der Spielzeit 2016/2017 auf NRW-Bühnen an neuen Opern und an Opern des 20. Jahrhunderts zu sehen? Eine Suche in den Spielzeitheften der nordrhein-westfälischen Musiktheater.

Dortmund, Opernhaus. Foto: M Bigge. Lizenz: CC-BY-SA-3.0. Quelle: Wikimedia CommonsDortmund, Opernhaus. Foto: M Bigge. Lizenz: CC-BY-SA-3.0. Quelle: Wikimedia Commons.

Lässt man Operetten und Musicals und Kinderopern mangels Interesse beiseite, stehen in der Saison 2016/17 auf den Bühnen der nordrhein-westfälischen Opernhäuser so rund 70 Neuproduktionen auf der Agenda: Verdi (11 mal), Mozart (6), Wagner (6), Donizetti (4), Händel (3), Gluck (2), Weber (2), Gounod (2), Offenbach (2) undsoweiter. Aber jenseits der Traditionspflege und diesseits von Puccini (5)? Beglückend viel und außergewöhnlich Spannendes.

Bemerkenswert: Gleich vier Neuproduktionen in NRW nehmen sich Opern an, die mit Stoffen aus Nazi-Diktatur und Holocaust arbeiten. Vielleicht gibt es eine neue Dringlichkeit auch mit musiktheatralischen Mitteln die Erinnerung an Verfolgung und Verbrechen zu vergegenwärtigen.

Die Scholls, Charlotte Salomon, Anne Frank und die Passagierin

Die Oper Köln plant für den Herbst 2016 mit Udo Zimmermanns (*1943) Kammeroper Weiße Rose, uraufgeführt 1986 in Hamburg (eine frühere Fassung stammt aus Ende der 1960er Jahre). Das Libretto von Wolfgang Willaschek verbindet Briefe und Tagebuchaufzeichnung der Widerstands­helden mit eigenen Texten, um in 16 Szenen Hans und Sophie Scholls letzte Stunde vor der Hinrichtung vorzustellen (Köln, StaatenHaus Saal 3, P: 22. Oktober 2016).

Charlotte Salomon, aus: Leben? oder Theater? Ein Singspiel. Lizenz: PD-Art. Quelle: Wikimedia CommonsCharlotte Salomon, aus: Leben? oder Theater? Ein Singspiel. Lizenz: PD-Art. Quelle: Wikimedia Commons.Das Theater Bielefeld hat sich für Anfang 2017 die Deutsche Erstaufführung von Marc-André Dalbavies Charlotte Salomon vorgenommen. Das Libretto der Oper (Barbara Honigmann) basiert auf dem autobiographischen Gouachen-Werk der 1943 in Auschwitz ermordeten Künstlerin Salomon: „Leben? Oder Theater? Ein Singespiel“. Charlotte Salomons Geburtstag jährt sich 2017 zum 100. Mal. Die zitat­reiche Tonsprache seiner zweiten Oper beschreibt der französische Komponist Dalbavie (*1961) als Wechsel „zwischen Tonalität, Meta- und Atonalität“.

Die Reaktion der Kritik auf die Uraufführung bei den Salzburger Festspielen 2014 war durchaus widersprüchlich. Während die FAZ das Ding zum „funkelnden Juwel“ der Festspiele erklärte, sah sich der Kritiker der Welt einem „erbaulich audiovisuellen Volkshochschulvortrag“ ausgesetzt, und die NZZ urteilte die Musik ab „als lauwarmer Aufguss im Zeichen der längst ad acta gelegten Postmoderne“. Nun ja, man wird sehen und hören (Bielefeld, Stadttheater, DE: 14. Januar 2017).

Die vielleicht wichtigste Neuproduktion der Opern-Saison 2016/17 in NRW hat aber das Gelsenkirchener Musiktheater im Revier für Anfang 2017 auf der Agenda: Die Passagierin von Mieczysław Weinberg (1919-1996). Das Libretto (Alexander Medwedjew) basiert auf der autobiographischen Novelle der polnischen Autorin und Auschwitz-Überlebenden Zofia Posmysz – Pasażerka. Es erzählt von der Begegnung der ehemaligen KZ-Gefangenen Martha und der KZ-Aufseherin Lisa auf einem Ozeandampfer nach Südamerika Ende der fünfziger Jahre. Im Gegenschnitt Szenen aus der nahen Vergangenheit, aus Auschwitz. Der von Weinberg bereits 1968 vollendete Zweiakter war in der Sowjetunion als „abstrakt humanistisch“ verdächtig, man fürchtete Assoziationen von Konzentrationslager und Gulag. Die konzertante Uraufführung in Moskau ging daher erst 2006, die szenische Ersteinrichtung dann 2010 in Bregenz über die Bühne. Die Oper ist jetzt erstmals in NRW zu sehen (Gelsenkirchen, Musiktheater im Revier, P: 28. Januar 2017).

Anfang März 2017 zeigt dann das Theater Aachen die Mono-Oper Das Tagebuch der Anne Frank des russischen Komponisten Grigori Frid (1915-2012). Das 1968 komponierte Stück für Sopran und Kammerorchester, 1972 in Moskau uraufgeführt, gehört heute zu den meist gespielten Opern aus der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts. Für die 21 Szenen des nur rund einstündigen Stücks übernahm Frid weitgehend ungeänderte Textpassagen aus Anne Franks Tagebuch (Theater Aachen, Kammer, P: 5. März 2017).

Aus der Gegenwart

Totenmaske des geklonten Schafes Dolly. Foto: Manfred Werner - Tsui. Lizenz: CC-BY-SA-3.0. Quelle: Wikimedia CommonsTotenmaske des geklonten Schafes Dolly. Foto: Manfred Werner – Tsui. Lizenz: CC-BY-SA-3.0. Quelle: Wikimedia Commons.

Die Oper Wuppertal eröffnet ihre – sehr bemerkenswert und ambitioniert angelegte – erste Session unter der neuen Intendanz von Berthold Schneider mit Steve Reichs (*1936) Three Tales. Die dreiaktige, „dokumentarische“ video opera (UA 2002 in Wien) mit visuellem Material von Beryl Korot sucht drei Schlüsselmomente der Dialektik des technischen Fortschritts im 20. Jahrhundert auf: Die Hindenburg-Katastrophe, die Atomwaffentest auf dem Bikini Atoll und die Klonierung von Dolly (Wuppertal, Opernhaus, P: 17. September 2016).

AscheMOND oder The Fairy Queen (UA 2013 in Berlin) von Helmut Oehring (*1961) erkundet dann Anfang des Jahres 2017 ebenfalls im Wuppertaler Opernhaus das Gegenwartspotential von Shakespeares Sommernachtstraum und Henry Purcells barocker Masque „The Fairy Queen“ (Wuppertal, Opernhaus, P: 29. Januar 2017).

Die Oper Köln bringt Anfang März 2017 die von ihr koproduzierte Oper Die Antilope von Johannes Maria Staud (*1974) in deutscher Erstaufführung. Das knapp 1½ Stunden kurze Stück nach einem Libretto von Durs Grünbein erzählt mit Mitteln der Fabel vom Zwangscharakter der modernen Arbeitswelt. Angesichts der Uraufführung 2014 in Luzern war die Kritik wenig überzeugt. Die NZZ konzedierte, das sei alles „handwerklich sehr solide gebaut“ und „musikalisch bunt und vielfältig“, aber es fehle „dieser Musik eine gewisse existenzielle Erschütterung, die dem Stoff angemessen wäre“. Ein „blankes Kasperltheater“ urteilte Die Welt etwas übelgelaunt, mit Staud und Grünbein hätten sich „zwei Kindsköpfe“ getroffen, die sich „für keine Zote zu schade“ seien (Köln, StaatenHaus Saal 2, DE: 5. März 2017).

John Adams. Foto: Chris Bennion. Quelle: http://www.earbox.com/john-adams-photos/. Lizenz: CC BY-ND 4.0 / copyright © 2016 John AdamsJohn Adams. Foto: Chris Bennion. Quelle: www.earbox.com. Lizenz: CC BY-ND 4.0 / copyright © 2016 John Adams. Das Theater Bonn kümmert sich im Frühjahr 2017 an das Passionsoratorium von John Adams (*1947): The Gospel According to the Other Mary. Das knapp zweieinhalb­stündige Evangelium nach Maria Magdalena wurde 2012 konzertant und 2013 „halbszenisch“ in Los Angeles uraufgeführt. Die erste „vollgültige szenische Aufführung“ ging Ende 2014 in London über die Bühne. Etwas verwirrend. Letztere Koproduktion von English National Opera und Theater Bonn jedenfalls kommt jetzt an den Rhein (mit anderen Sängern und Sängerinnen allerdings). Die Inszenierung hat Peter Sellars übernommen, der für Adams auch das Libretto zusammen gestellt hat, eine Collage aus Bibeltexten, lateinamerikanischer und nordamerikanischer Lyrik, Texten von Hildegard von Bingen und Primo Levi.

Die englische Kritik sah eben dieses Libretto als Schwachpunkt: deutliche Längen, vor allem im ersten Teil, ermüdender „Literalismus“, unscharfe dramatische Struktur, gar „unzusammenhängend“ sei das Ding. Es läge allein an Adams „ungeheuer kraftvollen Partitur“, dass die Sache wirklich lohne, die Musik sei vielleicht die schönste, die er seit mehr als zwei Jahrzehnten komponiert habe (Guardian), explodierend vor Zorn und Mitleid und Inspiration scheine diese elementare Musik den Komponisten auf eine ganz neue Ebene des Ausdrucks zu tragen (Independent) – Bonn, Opernhaus, DE: 26. März 2017.

Thomas Adès’ (*1971) Kammeroper Powder Her Face steht im März 2017 auf der Agenda des Theater Aachen. Acht Szenen und ein Epilog (Libretto: Philip Hensher) erzählen vom Leben der Margaret Whigham, Herzogin von Argyll, the „Dirty Duchess“, deren Sexualität in einem Scheidungsprozess 1963 und in den Tabloids zum Skandal wurde. Uraufgeführt 1995 in Cheltenham ist das Stück notorisch für den ersten blow job auf der Opernbühne und die Musik von Adès geschätzt für ihre Eingängigkeit (Theater Aachen, Bühne, P: 19. März 2017).

Das Theater in Münster hat im Frühjahr Giorgio Battistellis (*1958) anarchisch-satirische Orchesterprobe im Programm. Das 1995 in Straßburg uraufgeführte und vor zwanzig Jahren in Düsseldorf erstmals in Deutschland gespielte Stück nimmt sich Fellinis Film Prova d’orchestra zur Vorlage. Dessen Filmmusik wiederum wurde im Übrigen von Nino Rota komponiert, s.u. (Theater Münster, Großes Haus, P: 20. Mai 2017).

Das Theater Hagen hat unterdessen den Weimarer „Jugendoper-Spezialisten“ Ludger Vollmer mit der Vertonung von Herrndorfs Tschick beauftragt. Die Uraufführung von Vollmers siebter Oper – mit Genrebezeichnung „Road Opera“ versehen – ist für das Frühjahr 2017 geplant (Theater Hagen, Großes Haus, UA: 17. März 2017). Im Sommer 2017 kümmert sich das Theater Hagen dann um HK Grubers Veroperung von Horváths modernem Klassiker Geschichten aus dem Wiener Wald. Die Musik des österreichischen Komponisten mache „zwar das Stück nicht noch besser, als es eh schon ist, aber es vertont angemessen und musikalisch durchaus spektakulär“ urteilte die Nachtkritik über die Uraufführung 2014 bei den Bregenzer Festspielen (Theater Hagen, Großes Haus, P: 24. Juni 2017).

Nach den Weltkriegen

Eher Leichteres steht im Herbst 2016 in Gelsenkirchen auf dem Spielplan. Das Musiktheater im Revier gräbt Nino Rotas (1911-1979) farsa musicale Der Florentiner Hut von 1955 aus. Die opera buffa nach Eugène Labiche’ Schenkel­klopfer „Un chapeau de paille d’Italie“ wird zusammen mit Rotas komischer Mini-Oper Die Fahrschule (1959) gezeigt. Letztere wurde bislang in Deutschland noch nie auf die Bühne gebracht (Gelsenkirchen, Musiktheater im Revier, P: 19. November 2016).

Die Oper Köln kontert im Winter mit Leonard Bernsteins Voltaire-Veroperung Candide in der Fassung von 1989 (Köln, StaatenHaus Saal 1, P: 4. Dezember 2016).

Auf den Vereinigten Bühnen von Krefeld und Mönchengladbach sind zwei Stücke merkwürdig. Michael Nymans (*1944) Minimalismus umspielt Oliver Sacks Fallgeschichte Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte: Die kaum mehr als eine Stunde kurze, neurologische Kammeroper wurde 1986 in London uraufgeführt (P: Theater Krefeld, 19. Mai 2017). In Mönchengladbach ist unter­dessen Gian Carlo Menottis (1911-2007) Der Konsul aus 1950 zu sehen: Das Musikalische Drama arrangiert gesprochene Dialoge, Melodramen sowie lyrische Arien und Ensembles im Stil Puccinis zu einem sehr aktuellen Stück über das tragische Scheitern einer Flucht aus einem autoritär unterjochten Land (P: Theater Mönchengladbach, 4. Februar 2017).

Das Theater Dortmund nimmt derweil Philip Glass’ und Robert Wilsons (*1937/1941) seinerzeit revolutionäres Musiktheaterexperiment Einstein on the Beach – uraufgeführt 1976 in Avignon – auf den Spielplan (Dortmund, Opernhaus, P: 23. April 2017).

Das Landestheater Detmold bringt in Kooperation mit dem Theater Gütersloh die Elegie für junge Liebende von Hans Werner Henze über die Bühne. Das Liebes- und Eifersuchtsdrama nach einem Libretto von W.H. Auden und Chester Kallman wurde 1961 in Schwetzingen uraufgeführt und Ende der 1980er Jahre von Henze überarbeitet (Theater Gütersloh, P: 29. April 2017 / Landestheater Detmold, P: 5. Mai 2017).

Die Freunde von Benjamin Brittens (1913-1976) Bühnenwerken werden im September 2016 nach Gelsenkirchen müssen, wo das Musiktheater im Revier The Turn of the Screw (1954) einrichtet (Gelsenkirchen, Musiktheater im Revier, P: 10. September 2016) und im Mai 2017 in Bonn vorbeischauen, wo das Opernhaus Peter Grimes (1945) auf die Bretter bringt (Bonn, Opernhaus, P: 7. Mai 2017).

Zwischen den Kriegen

Die Oper Köln kombiniert Anfang der Saison die zwei Bühnenwerke von Maurice Ravel zu einem Abend: Die spanische Stunde (UA 1911) und Das Kind und der Zauberspuk (UA 1925) – Köln, StaatenHaus Saal 2, P: 25. September 2016.

Sergej Prokofjews Märchenspiel aus dem Reich des Königs Treff, Die Liebe zu den drei Orangen (UA 1921 in Chicago), steht im Herbst 2016 auf der Agenda der Oper Wuppertal (Wuppertal, Opernhaus, P: 29. Oktober 2016).

Reynaldo Hahns, 1935 in Paris uraufgeführte und bislang außerhalb Frankreichs weitgehend ignorierte Veroperung von Shakespeares Kaufmann von Venedig bringt das Theater Bielefeld im Frühjahr in deutscher Erstaufführung auf die Bühne (Bielefeld, Stadttheater, DE: 28. April 2017).

Richard Strauss’ komische Oper Die schweigsame Frau (UA 1935) nach einem Libretto von Stefan Zweig steht im Theater Aachen ebenfalls fürs Frühjahr auf dem Plan (Theater Aachen, Bühne, P: 14. Mai 2017).

Merkliste Musiktheater NRW 2016/17

Die Angaben zu den Aufführungen sind den langfristigen Planungen und Vorankündigungen der Musiktheater in NRW entnommen (Stand Mai/Juni 2016). Bevor Sie zu einem Opernabend anreisen, informieren Sie sich bitte bei den jeweiligen Veranstaltern über etwaige Planänderungen oder Verschiebungen.