Kulturraum NRW


An den Wassern zu Babel am Theater Aachen

Try measure my pain

Die Aachener Bühne rekonstruiert mit der Szenenfolge „An den Wassern zu Babel“ die alttestamentarische Heilsgeschichte als Geschichte des menschlichen Leidens. Das ist sehr eindrucksvolles Musiktheater und intensives Schauspiel und leider auch ein Lehrstück.

Szenenfoto: An den Wassern zu Babel. Foto: Wil van Iersel, Rechte: Wil van Iersel / Theater AachenIrgendwann noch ganz zu Anfang stellt jemand einen Ghettoblaster auf die Bühne, aus dem John Lennons God krächzt: „God is a concept by which we measure our pain“. Das ist das einzige Fragment populärer Musik, das an diesem Abend angespielt wird und ich nehme das als Schlüssel für die Aufführung: Was, wenn wir den Pentateuch als Register des menschlichen Leidens nähmen und die Idee eines Gottes nichts als ein Maßstab eben dieses Leidens wäre?

„Glaube, Hoffnung, Liebe“ ist das Spielzeitmotto der Aachener Bühnen für die Session heuer und neben der deutschen Erstaufführung des finnischen Kammerspiels Der Fundamentalist sind die Wasser zu Babel die zweite Neuproduktion, die unter diesem Motto die Bedeutung der Religio und religiöser Mythen für die Gegenwart mit den Mitteln des Theaters untersucht.

Der missratene Mensch

Szenenfoto: An den Wassern zu Babel. Foto: Wil van Iersel, Rechte: Wil van Iersel / Theater AachenDas spartenübergreifende Bühnenprojekt fügt dabei sehr Disparates zusammen und generiert daraus sehr eindrucksvolle Spannungs­momente: musikalisch die Motetten des französischen Barock­komponisten de Lalande aus dem Zyklus Super flumina Babylonis, die romantischen Psalmvertonungen Mendelssohn Bartholdys und Musik aus dem letzten Jahrhundert von Scelsi, Varèse und Symanowszki – einerseits. Andererseits Szenen der Gewalt aus dem Alten Testament, dramatisiert vom polnischen Theaterautor Tomasz Man (keine Ahnung, ob das ein Pseudonym ist), ein Auftragswerk der Aachener Bühne: die Vertreibung aus dem Paradies, Noahs Klage über die Massenvernichtung der Menschen in der Sintflut, die von Moses angeordnete Massenhinrichtung der Anhänger des Stierkults, Abrahams und Jiftachs Opferung ihrer Kinder, Kains Brudermord, die Vergewaltigung Lots, die Plünderung Sichems und natürlich Hiob.

Aus dem Leiden erwächst zum einen die Hybris, sich gegen das zu behaupten wollen, was dem Einen Gottes unergründlicher Wille sein mag, dem Nächsten als Zumutung des Schicksals erscheint, dem Letzten die unausbleibliche Folge menschlicher Grausamkeit ist. Zum anderen wird daraus eine Art Mängelreklamation gegen Gott: „Der Mensch hat sich ja nicht selbst erschaffen, er ist Dir missraten“.

Die Intensität des Leids

Szenenfoto: An den Wassern zu Babel. Foto: Wil van Iersel, Rechte: Wil van Iersel / Theater AachenDie Intensität des Leids und der Klage wird von der, von Christin Vahl eingerichteten Bühne vor allem im zweiten Teil auf faszinierende Weise in Szene gesetzt mit Hilfe von zwei menschengroßen, mit transparenten Folien versehenen Kästen, die die Bühne flexibel auf Kammerspieldimensionen herunterbrechen, um den menschlichen Tragödien die notwendige Intimität zu schaffen.

In Sachen Musik gefällt mir und dem Aachener Publikum besonders der sehr anrührende Sopran Michaela Maria Mayers. Das Orchester des Theater Aachen spielt derweil etwas geschäftsmäßig: Irgendjemand muss irgendwann mal etwas dagegen tun, dass Instrumentengruppen, die gerade nicht dran sind, zwischendurch in der Kantine verschwinden.

Gleichviel, ich wäre ganz hingerissen vom Aachener Projekt, wenn nicht, etwa zur Hälfte der zweiten Halbzeit, ein dramaturgisch desaströses Intermezzo die Blutgrätsche machen würde. Und das kommt so:

Das Wort am Sonntag

Das Theater Aachen kooperiert für die Wasser zu Babel mit dem „Dialog der Religionen in Aachen“ und ich zweifle nicht daran, dass das eine sehr verdienstvolle und vernünftige Einrichtung ist. Und sicher wäre es eine prima Sache, im Vorfeld des Stücks oder späterhin im Foyer in den interreligiösen Dialog einzutreten. Aber die Aachener Theatermacher (oder wer auch immer) hatten die abstruse Idee, diesen Dialog in das Stück zu – ich will nicht sagen, zu integrieren: zu injizieren. Also betritt zur Hälfte der zweiten Halbzeit ein evangelischer Pastor die Bühne, als eine Art Experte des Alltags, sprengt die Dramaturgie mit den Versuch einer Theodizee im Rahmen eines kurzen Worts am Sonntag und sorgt für die rechte Einordnung des Bühnengeschens.

Es ist einfach, sich darüber lustig zu machen und zu vermuten, dass bei der nächsten Aachener Inszenierung von Romeo und Julia vor dem fünften Akt der Sprecher des veronesischen Fremdenverkehrsvereins auf die Bühne gebeten wird, um zu versichern, dass Verona heute von gewaltsamer Familienrivalität weitgehend befreit ist und auch Liebenden ein lohnendes Reiseziel ist.

Kopfschütteln

Und nichts gegen den Herrn Pastor: ein sympathischer Mann von etwas linkischem Charme, mit dem ich mir gut vorstellen kann, nach dreivier Glas Bier sehr nett über Gott und die Welt zu reden. Und er macht seinen Auftritt gar nicht mal schlecht, macht in seiner Ansprache einen hübschen Witz über Gott auf Urlaub. Das ist es nicht. Das Problem ist, dass das ein Lehrstück ist, wie man mit einer dramaturgisch unmotivierten Intervention, die nur einige Minuten währt, eine ansonsten sehr spannende Inszenierung kaputt machen kann.

Das Schlimmste ist, dass nach den einordnenden Worten des Pastors vermutlich sehr ergreifende Szene folgen, später windet sich jemand am Boden und singt was von Messiaen und dann tritt der Chor hervor und macht ein mutmaßlich mächtiges Finale. Ich habe davon nichts mehr mitbekommen, ich habe mich derweil nur noch kopfschüttelnd gefragt, wer denn wohl auf die Schnapsidee mit dem Herrn Pastor gekommen ist.

[In den Aufführungen des Stückes sind jeweils unterschiedliche Partner aus dem „Dialog der Religionen“ zu Gast, die vielleicht auch an anderer Stelle intervenieren. Möglicherweise gibt es Abende, an denen sich das weniger desaströs auswirkt.]

An den Wassern zu Babel. Szenen aus dem Alten Testament für Sänger, Schauspieler, Chor und Orchester. R: Ludger Engels, ML: Volker Hiemeyer, B: Christin Vahl, D: Elisabeth Ebeling, Torsten Borm, Emilia Rosa de Fries, Andreas Herrmann, Michaela Maria Mayer u.a. Theater Aachen, UA: 7. November 2010. 2h 45m, m. 1 P.

[Die von Wil van Iersel erstellten Szenenfotos sind vom Theater Aachen bereit gestellt. Die Rechte liegen beim Fotografen und dem Theater Aachen].