Kulturraum NRW


1912 – Mission Moderne im Wallraf-Richartz-Museum Köln

„Der Dom wankt in seinen Grundfesten“

Das Kölner Wallraf-Richartz-Museum erinnert vom 31. August bis 30. Dezember 2012 in einer Ausstellung unter dem Titel „1912 - Mission Moderne“ an die Internationale Kunstausstellung des Sonderbunds vor 100 Jahren.

Van Gogh, Selbstbildnis, 1887, Detail. Lizenz: PD-Art. Quelle: http://commons.wikimedia.org/wiki/File:VanGogh_1887_Selbstbildnis.jpg

Das Wallraf-Richartz-Museum hat für den Rest des Jahres im lichten 3. Stock (nicht im Keller, wo Sonderausstellungen sonsthin weggesperrt werden) ein Schlaraffenland der klassischen Moderne eingerichtet. Mit rund 100 Gemälden, 18 Plastiken und ergänzendem dokumentarischen Material rekonstruieren die Kölner die vierte und letzte Internationale Kunstausstellung des Sonderbunds Westdeutscher Kunstfreunde und Künstler. Die hatte im Sommer 1912 nicht nur die Ausstellungshalle der Stadt Cöln am Aachener Tor eröffnet (dort wo heute der Aachener Weiher angelegt ist), sondern auch erstmals einen leidlich systematischen Überblick über den damaligen Stand der Kunst der Moderne geleistet.

Titelblatt des Katalogs der Sonderbundausstellung 1912.Der geschäftsführende Vorsitzende des Sonderbunds, der Kunsthistoriker und Museumsdirektor Richart Reiche, umreißt im Vorwort zum Katalog der damaligen Ausstellung (ein Digitalisat ist bei archive.org zu finden) die Zielsetzung der Leistungs- und Verkaufsschau von 1912:

„Versucht diese internationale Ausstellung von Werken lebender Künstler einen Durchschnitt durch die expressionistische Bewegung zu geben, so will eine retrospektive Abteilung die historische Grundlage aufzeigen, auf der sich diese vielumstrittene Malerei unserer Tage aufbaut: das Werk von Vincent van Gogh, Paul Cézanne, Paul Gauguin.“

Die Schau zeigte auf den 5000 m² der Ausstellungshalle – wenn ich dem Katalog trauen darf (das ein oder andere Werk ist wohl außerhalb des Katalogs gezeigt worden) – knapp 600 Gemälde und Zeichnungen und mehr als 50 plastische Arbeiten sowie in der Kapelle der Ausstellungshalle Fenster von Thorn-Prikker und Wandbehänge von Erich Heckel und Ernst Ludwig Kirchner. In vier Räumen präsentierte „Die Gilde“, der Westdeutscher Bund für angewandte Kunst, zudem knapp 350 kunstgewerbliche Exponate.

Inhaltsverzeichnis des Katalogs der Sonderbundausstellung 1912.Die „retrospektive Abteilung“ umfasste 108 (!) Gemälde und 17 Zeichnungen van Goghs, „die den eigentlichen Halt der Ausstellung“ bildeten, so heißt es im Katalog, 26 Werke von Cézanne und 25 von Gauguin. Zwischen Retrospektive und den lebenden Künstlern waren die „Neoimpressionisten“ Cross und Signac einsortiert. Die „Abteilung lebender Künstler“ zeigte u.a. Werke von Picasso und Braque, Giacometti (der Vater), Amiet und Hodler, Kokoschka und Schiele, Kirchner und Munch, Jawlensky und Kandinsky, Macke und Nauen, Lehmbruck und Barlach. Daneben natürlich auch Künstler des Sonderbundes selber: August Deusser, einer der Gründer des Vereins und Vorsitzender der Kunstkommission der Ausstellung, brachte immerhin 24 seiner Werke ein, die heute aber etwas peinlich sind.

Das Augenmerk lag dabei auf dem Westen und dem Zentrum Kontinentaleuropas mit einem Exkurs nach Norden – die norwegische Malerei, allen voran Edvard Munch galt den Sonderbündlern als satisfaktionsfähig. Der Süden (mit den Futuristen Italiens), der Osten Europas und auch die britischen Inseln waren nicht vertreten.

„Dreckskunst aus Paris“

Die gezeigten Werke der damals noch nicht klassischen Moderne sind heute naturgemäß alles andere als „vielumstritten“ und zum großen Teil auch nicht wirklich expressionistisch (den damals noch frischen Begriff des Expressionismus darf man sich behelfsweise mit „gegenwärtig“ übersetzen). Damals aber standen sie im Zentrum eines „heftigen Kulturstreites“: Die Vorreiterrolle der Pariser Kunstszene galt im Kaiserreich aus chauvinistischen Gründen als suspekt, die Ästhetik der Modernen als undeutsch. 1911 erschien die Kampfschrift Ein Protest deutscher Künstler herausgegeben vom Sarrazin der deutschen Landschaftsmalerei, Carl Vinnen. Und Kaiser Wilhelm 2 galten bereits die Impressionisten – und erst recht, das was nachkam – schlicht als „Pariser Dreck“.

Jawlensky, Damenbildnis. Reproduktion aus Katalog der Sonderbundausstellung 1912. Lizenz: PD-Art.Die Kritiken in der Tagespresse des Jahres 1912 waren denn auch – zurückhaltend formuliert – zwiespältig. Wurde der retrospektive Teil noch wohlwollend besprochen, galt die neuere Kunst als problematisch: Der Korrespondent der Leipziger Neuesten Nachrichten etwa befand, mit dem Kubismus könne „man sich wohl unter keinen Umständen befreunden“, Kirchner und Heckel könne man „kaum goutieren“, und brachte einen später in Deutschland so wirkungsmächtigen Begriff ins Spiel: „Kandinsky und Jawlensky erscheinen erschreckend entartet“.

Edvard Munch, der nach Köln gereist war, um die Hängung seiner Werke selbst zu überwachen, resümiert dagegen ganz hingerissen in einem Brief: „Hier ist das Wildeste versammelt, das in Europa gemalt wird – […] der Kölner Dom wankt in seinen Grundfesten“.

Ökonomisch war die Ausstellung vermutlich ein Erfolg, Kölner Zeitungen berichteten, dass Werke für 250.000 Goldmark verkauft wurden (das wären heute irgendwas zwischen 1 und vielleicht 2 Millionen Euro, kommt drauf an, wie man umrechnet) – zum Verkauf standen auch rund 20 Werke van Goghs für heute unvorstellbar überschaubares Geld. Den ökonomischen Aspekt kann die Revivalausstellung im WRM nicht wirklich rekonstruieren, die Dokumente über die Abschlüsse waren nicht auffindbar.

Die Höhepunkte

Van Gogh, Arlésienne, 1888. Lizenz: PD-Art. Quelle: http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Van_Gogh_-_L%27_Arl%C3%A9sienne_-_Madame_Ginoux_mit_Hnadschuhen_und_Schirm_.jpegEin knappes Fünftel der damals gezeigten Werke also hat das Wallraf-Richartz-Museum für die Jubiläums-Ausstellung zusammen bekommen. Sie werden präsentiert in insgesamt neun Räumen, deren Gestaltung das damalige Ausstellungsdesign aufnimmt: weiße Wände, deren Ecken, Fuß- und Deckenleisten sowie Türbögen schwarz abgesetzt sind. Die Hängung ist großzügiger als seinerzeit. Damals wurden kleinere Formate gerne in zwei Zeilen übereinander gehangen, die einzelnen Werke sehr eng beieinander – das WRM zeigt diese heute sehr ungewohnte Hängung beispielhaft an einer Wand bei den Norwegern. Die Gliederung in Retrospektive einerseits und nach Nationen zusammen gestellter Gegenwartskunst andererseits wird auch beibehalten. Mit etwas Phantasie und unterstützt durch die beigefügten dokumentarischen Materialien und Ausstellungsfotos kann man sich ganz gut ein Bild von der damaligen Kunstschau machen.

Zu sehen gibt es unter anderem 15 Werke van Goghs, darunter sein Selbstbildnis aus dem Frühjahr 1887 und die wunderbare Arlésienne (1888). Gefallen haben mir naturgemäß Pierre-Paul Girieuds Le Grand Lesbos (1910), Ferdinand Hodlers Entzücktes Weib (1911), Anton Faistauers verführerisch dahingelegtes Nacktes Mädchen (1911) und Karl Hofers intim-melancholischer Abend (1912).

Egon Schiele, Mutter und Kind II. Lizenz: PD-Art. Quelle: commons.wikimedia.org/wiki/File:Schiele_-_Mutter_und_Kind_-_1912.jpgZu den Höhepunkten zählen sicher auch die herbei geschafften Werke der niederösterreichischen Avantgarde, Oskar Kokoschka und Egon Schiele, von letzterem gibt es die großartige Mutter und Kind II (1912) zu sehen. Gleich sechs Werke von Edvard Munch hat das WRM ausleihen können, darunter ist das aus dem Osloer Munch Museum herbeigeschaffte Amor und Psyche (1907), das vielleicht radikalste Bild der Ausstellung und für mich das faszinierendste. Munchs Vier Mädchen auf der Brücke (1905) hat im WRM dazu ein Heimspiel. Aus dem rheinischen Kunstschaffen hat mich besonders Heinrich Nauens Grabender Bauer (1908) angenehm überrascht, das Bild – eine Art fauvistisch eskalierter van Gogh – ist erst kürzlich wieder entdeckt worden (Abbildung hier).

In Sachen plastischer Kunst sind vor allem die Werke des belgischen Bildhauers George Minne auffällig. Gleich sieben Skulpturen hat das WRM zusammen tragen können, ganz berückend darunter die Mamorarbeiten Der große Verwundete (1894) und Muttter beweint ihr totes Kind (1886).

Leerstellen, ein Katalog und zwei Fotostrecken

Es gibt ein paar Leerstellen in dieser Präsentation, naturgemäß, das geht nicht anders. Misslich, dass Beispiele gerade jener Kunst fehlen, die 1912 besonders gründlich den Sehgewohnheiten widersprochen haben dürften (und Gegenstand der Polemik unseres Leipziger Kunstfreundes waren): Kubistische Malerei von Picasso und Braque etwa oder auch Kandinskys abstrakte Improvisation Nr. 21a (1911) – für den Kubismus immerhin steht ein Werk des tschechischen Kubisten Antonín Procházka: Prometheus (1911). Ein paar Beispiele für die kunsthandwerklichen Exponate der „Gilde“-Schau wären für das Gesamtbild auch nicht hinderlich gewesen, da bleibt es im WRM bei einem knappen Verweis auf diesen Teil der damaligen Kölner Ausstellung. Ich sage das ungern, aber als vor vier Jahren im Unteren Belvedere die Wiener Kunstschau des Jahres 1908 rekonstruiert wurde, haben die österreichischen Kollegen das besser gelöst. Gewiss, das ist nicht vergleichbar, sicher nicht im Hinblick auf die Etats, sicher auch nicht im Hinblick auf die unterschiedlichen Anlagen der historischen Ausstellungen, vermutlich auch nicht in Sachen Qualität der Arbeiten der Wiener Werkstätte und der westdeutschen Gilde. Trotzdem.

Die Leerstellen aufzufüllen hilft der mächtige Katalog, der im Wienand Verlag zur Ausstellung erschienen ist: 646 Seiten, grob gemessene 3,6 kg schwer und in der Museumsausgabe für 39,90 Euro erhältlich. Er hat ein Lesebändchen, einen umfangreichen und sehr informativen Essayteil (nur ein Aufsatz zur Bildhauerei im Kontext der Sonderbundausstellung ist so wunderlich gestelzt geschrieben, dass es eine Qual hat), eine hilfreiche, bebilderte Bestandsaufnahme aller seinerzeit gezeigten Werke (soweit sie rekonstruierbar sind) und ordentliche Abbildung der heuer wieder ausgestellten Kunst. Ich vermisse im Katalog eigentlich nur den Abdruck von Quellen zur Rezeption der Jahrhundertschau und angemessen große Wiedergabe des dokumentarischen Materials zur Ausstellung.

Bilder zur Ausstellung gibt’s im Netz z.B. in der Fotostrecke des WDR oder auf der Seite des WRM selbst.

1912 – Mission Moderne. Die Jahrhundertschau des Sonderbundes. K: Barbara Schaefer. Köln, Wallraf-Richartz-Museum & Fondation Corboud, 31. August — 30. Dezember 2012.